11/2024

»Rotes Blut & weißer Marmor« – Der Antikenfilm – woher er kommt und warum er heute wieder en vogue ist +++ 

»Die Lügen dechiffrieren« – 700 Kisten Material! Andres Veiel über die Arbeit an seinem Dokumentarfilm »Riefenstahl« +++ 

»Die Weisheit der Körper« – Zum Start von »Emilia Pérez«: der französische Auteur Jacques Audiard im Porträt +++ 

Im Kino: Sean Bakers Anora | Konklave von Edward Berger | Critical Zone | Des Teufels Bad | Shambhala | No Other Land | Vena +++

Streaming: Blitz | Achtsam morden | Rivals | Zeit Verbrechen +++

In diesem Heft

Tipp

Im nur teilweise überzeugenden Mystery-Thriller »Before« spielt Billy Crystal einen therapiebedürftigen Psychiater.
Außergewöhnlicher Film zu einem weitgehendend unbekannten Kapitel der europäischen Mentalitätsgeschichte. Eindrucksvoll inszeniert, mit ausdrucksstarken Bildern auf 35 mm, die eine düstere Lebenswelt zeigen, die zugleich verstört und bezaubert.
In den neun Episoden von »Self-Portrait as a Coffee Pot« bespricht der südafrikanische Künstler William Kentridge selbstreferenziell, aber auch selbstironisch sein bisheriges Werk – mit sich selbst.
Zum 75. Geburtstag von Pedro Almodóvar gibt's zehn seiner Filme in einer Box.
Am 5.11. spricht Schauspieler und Regisseur Fabian Stumm mit epd-Film-Autor Jens Balkenborg über seine Film »Sad Jokes«.
Als spielte »Downton Abbey« im Jahr 1986: Die mit viel Witz und Zeitgeist inszenierte Serie »Rivals« nach Jilly Cooper kreist um Geld, Prestige und Sex.

Meldung

Filmkritik

Dokumentation im Land der Prepper, der Apokalyptiker und Untergangswaisen, die sich weder zynisch noch mitleidig gibt, sondern versucht, darin den Spiegel der eigenen Ängste zu sehen.
Nach dem Oscar-Erfolg von »Im Westen nichts Neues« bleibt Edward Berger seinen ­Ambitionen treu. Es trifft sich, dass Robert Harris' Romanvorlage von den Versuchungen des Ehrgeizes handelt. Die Innenansicht einer Papstwahl gerät zum Druckkessel von Intrigen, Machtspielen und Richtungskämpfen. Angesichts der glänzenden ­Besetzung und der gut geölten Spannungsmaschinerie hätte es der zudringlichen ­Akzente, die Volker Bertelsmanns Musik setzt, nicht bedurft.
Mit einer Vielzahl an Material seziert die Dokumentation das Leben von Leni Riefenstahl und ihre Lügen hinsichtlich ihrer NS-Vergangenheit. Dabei eröffnet der Film einen wichtigen Diskurs über die Manipulation von Medien und Öffentlichkeit.
Ein Mann will beweisen, dass er in woken Zeiten noch zukunftstauglich ist. Dafür bittet Simon Verhoeven u. a. Jan Josef Liefers, Nadja Uhl, Meltem Kaptan und Denise M'Baye auf warmherzig amüsante Weise zum Tanz mit den Fallstricken von Gleichberechtigung und Diversität.
Im Nachkriegsnorwegen findet eine kleine Ausreißerin Unterschlupf bei einem menschenscheuen Schuster und wird unfreiwillig zur guten Fee des Ortes: Das Weihnachtsmärchen ist sowohl inhaltlich wie ästhetisch gelungen.
Die mitfühlend erzählte und mit poetischer Bildsprache fotografierte Lebens- und Liebesgeschichte einer Transfrau vermittelt sich mit wenig Dialog und streift die polnische Geschichte von den 1970ern bis in die Gegenwart.
Inspiriert von einem realen Irrflug eines ­russischen Marschkörpers über Finnland Mitte der 1980er Jahre inszeniert die lappländische Regisseurin Miia Tervo eine ­poetisch-irrwitzige Tragikomödie und Emanzipationsgeschichte.
Eine Vierzehnjährige zieht neu in eine kleine Gemeinde und begegnet im Wald einem Monster, das sich als allzu real erweist. Das gelungene Regiedebüt erzählt vom weiblichen Erwachsenwerden im Gewand eines Horrorfilms.
Außergewöhnlicher Film zu einem weitgehendend unbekannten Kapitel der europäischen Mentalitätsgeschichte. Eindrucksvoll inszeniert, mit ausdrucksstarken Bildern auf 35 mm, die eine düstere Lebenswelt zeigen, die zugleich verstört und bezaubert.
Dokumentarfilm über den Konflikt zwischen israelischem Militär, Siedlern und Palästinensern in Masafer Yatta: vielfach prämiert, aber ideologisch gefärbt und zweifelhaft im filmischen Verfahren.
Zwischen exponiertem Paranoia-Modus und gewollter Theaterhaftigkeit schaukelt sich Jurijs Saules Film zu einem stilistisch subversiven und inhaltlich kontroversen Zwei-Personen-Kammerspiel hoch.
Einfühlsamer Dokumentarfilm, der dem größten Fest christlicher Gesellschaften die Geschichten kleiner Leute entgegenhält und dadurch zu dem vordringt, was dem Kern dieses Festes sehr nahekommt.
Der ohne offizielle Genehmigung mit versteckten Kameras gedrehte Film betrachtet die iranische Gesellschaft mit einem Blick, den das Regime als dekadent und subversiv empfinden dürfte – weil er aufklärerisch wirkt.
Historische Filmbiografie über Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin: hervorragend gespielt und atmosphärisch inszeniert. Poetische Erzählung über eine emanzipierte Frau, deren Innovationskraft als Winzerin vielleicht etwas zu kurz kommt.
Das Erinnern an Antisemitismus und KZ als eine Collage: Robert Hofferer hat Interviews mit den Holocaustüberlebenden Helga Feldner-Busztin und Elisabeth Scheiderbauer mit Installationen und Präsentationen von Künstlerinnen und Künstlern ineinandergeschnitten. Was mitunter vom Thema ablenkt.
Orkhan Aghazadeh gelingt ein vielschichtiger, einfühlsam erzählter und hervorragend fotografierter Film über den Traum vom und die Magie des Kinos, das in ein abgelegenes aserbaidschanisches Dorf zurückkehrt.
Sean Baker erzählt die Geschichte einer Brooklyner Stripperin und ihrer wilden Ehe mit einem russischen Milliardärssohn als temporeiche Mischung aus romantischem Märchen und smarter Screwballcomedy, aus liebevoller Milieustudie und bitterbösem Gesellschaftskommentar – herausragend gespielt und meisterhaft inszeniert.
Puppentrickanimation ist in diesem Fall nicht nur für Kinder, sondern auch für deren Eltern eine magische Reise in die Abgründe erwachsener Psychosen und Kontrollmechanismen. Ein Stop-Motion-Kunstwerk in alter tschechischer Trickfilm-Tradition.
Aliens rüsten zum Endkrieg in einem verpennten Dorf an Frankreichs Nordküste. Bruno Dumont verbindet sozialen Realismus und Weltraumoperette zu einem irren Ritt in Richtung Apokalypse. Ein grenzwertiges Vergnügen.
Subtiler Thriller, der mit der Fantasie des Zuschauers arbeitet und diesen zunehmend weiteren Irritationen aussetzt, dies aber leider in den letzten Filmminuten ein Stück weit zurücknimmt.
In Narration und Bildsprache empathisches Spielfilmdebüt über eine süchtige Schwangere, das nah an seiner Protagonistin bleibt, ohne sie zu verurteilen oder stereotype Erklärungsmuster zu bemühen. Stattdessen wird das Strafvollzugssystem infrage gestellt.
Überbordend und mitreißend inszeniert Jacques Audiard (»Ein Prophet«) den Drogenbandenkrieg in Mexiko in einer Mischung aus Sozialdrama, Musical und Telenovela. Was irre klingt, funktioniert überraschend gut.
Eine Dreiecksgeschichte in der Hitze Brasiliens, die kriminelle und sexuelle Energien zum tropischen Neo-Noir kurzschließt. Mit knalliger Ästhetik zelebriert Karim Aïnouz ein verschwitztes, dabei erfrischend amoralisches Kino der Körper.
Mit seinem Debüt gelingt Sébastien Vaniček eine furiose Variation des Spinnen-Horrormotivs, die über hundert Minuten eine nahezu unerträgliche Spannung erzeugt.
Ein empathisches Doppelporträt zweier Jungschauspielerinnen, das klug Genregrenzen umspielt und viel über die gesellschaftliche Bedeutung eines lebendigen Kulturlebens gerade in der Provinz erzählt.
Die Verfilmung von Helene Bukowskis Roman lässt die Hintergründe der dystopischen Welt eher im Vagen und kreiert mit wenig Mitteln Folk-Horror und gesellschaftliche Enge. Atmosphärisch bestechend, aber eher distanziert in Bezug auf die Figuren.
Solides Roadmovie über zwei sehr unterschiedliche Menschen und wie diese ihre Trauer bewältigen: sentimental, poetisch und manchmal ganz schön skurril.
Von sehr weit her, aus dem nepalesischen Himalaya, kommt diese nur vordergründig simple Geschichte. Die Suche einer Frau nach ihrem verschwundenen Mann bringt uns auf unaufdringliche Weise die spirituelle Praxis nahe, die diesen harschen Lebensraum am Dach der Welt bis in seine Ritzen erfüllt.
Der Film vereint kunstvoll eine dokumentarische Studie mit fiktionalen Szenen. Sebastian Schneider verkörpert virtuos einen Mann, der Thomas Mann hätte sein können (oder wollen).
All den widersprüchlichen Gefühlen einer Frau und Mutter spürt »Haltlos« in einer Intensität nach, die ihn zu einer emotionalen Achterbahnfahrt macht. Schlingernd, strauchelnd, irrlichternd verkörpert, spielt und singt Lilith Stangenberg sich die Seele aus dem Leib, unter der Regie von Kida Kodhr Ramadan, der hier seine Komfortzone entschieden hinter sich lässt.
DDR 1989: Hannah will Profischwimmerin werden, währen ihre Freunde Andreas und Jens mit dem System anecken. Sarah Neumann verfilmt den gleichnamigen Jugendroman von Dorit Linke als teils ostalgisch gefärbten, klassich auserzählten Film voller Jugendbuch-Vibes, der von seinen Hauptdarstellern lebt.
Ein Familientreffen in einem idyllisch gelegenen Haus auf dem Land legt alte Konflikte und Traumata offen. Die Brüder Ramon und Silvan Zürcher erzählen das in jenem vieldeutig-geheimnisvollen Stil, den sie bereits mit ihrem Erstling »Das merkwürdige Kätzchen« etabliert haben. Doch jetzt drehen sie ihre ästhetische Schraube noch einmal mutig weiter…

Film