Inklusion im Kino: Da ist noch Luft nach oben
»Intro« (2024). Foto: DOK Leipzig
Mit Audiodeskription und Live-Verdolmetschung in Gebärdensprache: Könnte Kino standardmäßig barrierefrei sein? Das ist eines der Inklusionsthemen, mit denen sich das Interfilm-Festival in Berlin in diesem Jahr beschäftigt
»Ein Zeichentrickfilm im Cinemascope-Format. Ein belebter Kreisverkehr in einer europäischen Großstadt. Blick auf die Straße: Autos und Roller kommen unentwegt auf uns zu und biegen links oder rechts ab. Im Hintergrund steht links ein Siebzigerjahre-Neubaublock, an den Satellitenschüsseln angebracht sind. Ach nee, angebracht ist zu lang, noch mal«, strauchelt plötzlich die Stimme aus dem Off, die sich an der Audiodeskription versucht. Kein Leichtes, denn die mit feinen Linien gezeichnete Animation in Anne Isensees Kurzfilm »Intro« ist kleinteilig wie ein Wimmelbild. »Worum geht's hier eigentlich?«, verzweifelt die Stimme, die vergeblich nach einer Hauptfigur sucht, schließlich selbst zum Mittelpunkt wird und sich buchstäblich von den Bildern emanzipiert.
Isensee verhandelt in »Intro« mit spielerischer Leichtigkeit Barrierefreiheit, Audiodeskription und Untertitel im Film. »Die Idee mit meinen beiden Freunden Thekla Neuß und Halvard Schommartz war, experimentell darüber nachzudenken, wie ein Film standardmäßig barrierefrei sein kann«, erzählt die Regisseurin im Interview. Sie wollte sich ohne »Pseudozeigefinger« der Inklusion im Film widmen – ein so aktuelles wie komplexes Thema
Was es für einen barrierearmen Filmabend braucht und wo die Herausforderungen liegen, das spielt die 40. Ausgabe des von Interfilm Berlin veranstalteten Internationalen Kurzfilmfestivals Berlin Anfang November an einem Abend durch, an dem auch »Intro« zu sehen sein wird. Unter dem Titel »InterVIEWS – Kurzfilme im Barrierefreiheits-Check« präsentiert das Festival barrierefreie Kurzfilme in einem möglichst inklusiven Rahmen. Das heißt in der Praxis: Der Einlass beginne sehr früh, damit alles entspannt ablaufen könne, so Isensee, die auch die Idee zu dem Abend hatte. Der Ort, das Pfefferberg Haus 13, sei selbst architektonisch barrierearm, zudem arbeiten dort viele Menschen mit Behinderung. Das einstündige Filmprogramm wird mit offener Audiodeskription, gut hörbar und mit im Bild eingebrannten erweiterten Untertiteln gut sichtbar sowie mit Liveverdolmetschung in Deutscher Gebärdensprache präsentiert.
Kuratiert wurde das Programm von der blinden Barbara Fickert und Ralf Krämer, beide erfolgreiche Hörfilmbeschreiber:innen. Auch das anschließende Gespräch, bei dem laut Isensee vor allem die Qualität der Audiodeskription eine zentrale Rolle spielen werde, findet mit Verdolmetschung zwischen Deutsch und Deutscher Gebärdensprache sowie Schriftdolmetschung statt. Dass es um die Inklusion im Langfilm seit einigen Jahren nicht »super gut«, aber besser bestellt sei, liege an angepassten Förderauflagen. »Seit 2013 muss es zu allen von der FFA Filmförderungsanstalt geförderten Filmen auch eine barrierefreie Fassung geben«, so Isensee. Durch Apps wie GRETA lassen sich die Audiodeskriptionen und Untertitel auf dem Smartphone anhören und anzeigen. Bei geförderten Kurzfilmen allerdings könne man sich aus Geldmangel von der Auflage freischreiben lassen – was, um mit den geringen Mitteln überhaupt den Film realisiert zu bekommen, oft Praxis ist.
Im angelsächsischen Raum sei man mit dem Thema Inklusion viel weiter, meint die Regisseurin. »Der Begriff Ableismus kommt aus dem amerikanischen Diskurs, wo das Thema eine viel größere Lobby hat. Wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006, in der Verpflichtungen festgeschrieben sind. Aber das ist mangels Konsequenzen mehr oder weniger ein Lippenbekenntnis.« In den Fragen zur Barrierefreiheit im Kino spiegeln sich gesamtgesellschaftliche Diskurse wider. Wer hat die Hoheit über Strukturen und Themen und, in Bezug auf den Film, die Narrative? Auch Film und Kino sind heute, in einer Zeit, in der Diversität und (strukturelle) Machtgefälle politisch und gesamtgesellschaftlich diskutiert werden, noch ein privilegiertes Geschäft. Genau das thematisieren mit verschiedenen Schwerpunkten die Embodiment-Programme des Interfilm Festivals. Während beim inklusiven Filmabend die technische Umsetzung zentral ist, sind die anderen Programme Body Talk, Desires & Transitions, Crossing Boundaries, Body Politics und The Black Gaze rein thematisch gedacht.
Amrei Keul, die die weiteren Programme gemeinsam mit Maliek Buz kuratiert hat, erzählt im Interview, sie hätten versucht, Filme mit besonderen Themen und Perspektiven zu finden. Die Filme thematisieren nichtheteronormative Identitäten, sie brechen mit Körpernormen, erzählen von Genderfluidität, von marginalisierten und rassifizierten Körpern. »Warum will man sich anders fühlen? Weil ein gesellschaftlicher Blick von außen etwas in jemanden hineinprojiziert, das man selbst nicht lebt«, so Keul.
In »The Film Might Be White« von Sebastian Micci diskutiert ein Filmteam darüber, dass der Werbefilm für eine Kunsthochschule zu weiß geraten sei. Was tun? Den Film zurückziehen? Und gibt es überhaupt Schwarze auf der Schule? »Der Film zeigt den krampfhaften Versuch, etwas erreichen zu wollen, und die Einsicht, dass man da noch nicht angelangt ist«, meint Keul. Wie leicht sich wiederum das binäre Denken in den Geschlechtern männlich und weiblich auf den Kopf stellen lässt, das zeigt der zweiminütige Animationsfilm »I Have, I Don't Have« von Ming Chueh Yeh. Darin erwächst aus Spermium und Eizelle ein geschlechtsloses menschliches Wesen, das ein Gegenüber findet. Die beiden kleben sich abwechselnd Brüste und Penisse oder beides gleichzeitig an und nehmen sie wieder ab, während sie auf einer Art Wiese aus Brüsten und Penissen stehen und zwischendurch auch Vulven durchs Bild fliegen oder penetriert werden. Durch dieses fluide Spiel mit den biologischen Geschlechtern bricht »I Have, I Don't Have« offensiv und humorvoll mit heteronormativen Perspektiven.
Raum für Diskurse eröffnen diese und weitere Filme, indem sie eben nicht die Polarisierung suchen, sondern eine produktive Reflexion (körperlicher) Diversitäten – und das gern auch mit einem Augenzwinkern. Eine inklusive, egalitäre Kino- und Filmszene braucht einen ebenso barrierefreien Diskurs.
Das Internationale Kurzfilmfestival Interfilm findet vom 5. bis 10.11. in Berlin statt.
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