Kurdwin Ayub: Kreativität kann man trainieren
Kurdwin Ayub © Stefan Fürtbauer
Kurdwin Ayub glaubt nicht an Talent. Aber schon ihr erster Film »Sonne« zeigte eine Handschrift. Da porträtierte die österreichisch-kurdische Regisseurin gefühlvoll und wahrhaftig eine Gruppe von Mädchen in einem migrantisch geprägten Milieu von Wien. Ihre neue Arbeit, ebenso glaubwürdig, führt nach Jordanien und entdeckt die Performancekünstlerin Florentina Holzinger als Filmschauspielerin
Am Valentinstag hing in der Berliner Volksbühne eine gewaltige Spinne über der Bühne. Darunter: die von der Rapperin addeN gespielte Königin Aliah, Herrscherin über den islamischen Staat Europa im Jahr 2666, die ihre Lust mit neuen weißen Männern befriedigt, bevor sie diese am nächsten Morgen tötet. »Weiße Witwe« heißt das selbst geschriebene Stück, mit dem die österreichisch-kurdische Regisseurin Kurdwin Ayub ihr Theaterdebüt gab – eine wütende Auseinandersetzung mit Religion und Geschlechterklischees zwischen der zornigen Aliah und einem Mann, der freiwillig eine Nacht mit ihr verbringt, zwischen Hijabs, Latex und Nazis.
»Das Stück ist angelehnt an ›Tausendundeine Nacht‹, Schahrasad [Scheherazade] und an unsere heutige Zeit«, erzählt Ayub im Videointerview rund zwei Wochen vor der Uraufführung. Den Premierentermin am Valentinstag habe sie sich gewünscht, lächelt die Regisseurin, die für das Gespräch aus Berlin zugeschaltet ist. Sie fläzt mit dem Laptop auf den Knien auf dem Bett, der Probentag war lang: »Der Rücken tut etwas weh.«
Kurdwin Ayub wurde 1990 im Irak als Tochter eines Ärztepaares geboren und wuchs in Wien auf. »Meine Eltern sind 1991 aus dem Golfkrieg geflohen, ich war ein Kleinkind, als ich nach Österreich gekommen bin, ein klassisches Flüchtlingskind«, erzählt sie in so direkter wie leichtfüßiger Wiener Mundart. Ihre Schwester ist im Krieg im Irak gestorben, der Start in der neuen Heimat sei alles andere als einfach gewesen. »Wir waren am Anfang sehr isoliert, meine Eltern waren die ganze Zeit arbeiten und ich bin vor dem deutschen Fernsehen, vor Hollywoodfilmen und MTV aufgewachsen«, sagt sie.
Weil sie schon immer Filme machen wollte, sich aber nicht so recht getraut hat, sich an der Filmakademie zu bewerben, hat sie zunächst Videos mit Freundinnen gedreht. Die Kamera dafür bekam sie nach vielen Streitereien wegen des hohen Preises von den Eltern. Schließlich hat sie es doch an die Universität für angewandte Kunst in Wien geschafft, wo sie von 2008 bis 2013 Malerei und experimentellen Animationsfilm studierte.
»Über Stop-Motion bin ich zu kleinen experimentellen Filmen gekommen. Weil ich keine Schauspieler kannte, habe ich darin selbst performt. Dann kamen dokumentarische Filme, Kurzfilme und schließlich Spielfilme.« Parallel studierte sie performative Kunst an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Heute ist Ayub der Shootingstar des jungen österreichischen Kinos, wobei ihre Filme leiser daherkommen als ihr bewusst schrilles und provokantes Theaterstück. Ayub blickt selbstironisch auf ihr Gewerk. »Mir kommt es so vor, als ob ich mir die ganze Zeit Ideen aus dem Arsch ziehen müsste.« Dass ihr das natürlich alles andere als schlecht gefällt, manifestiert sich in jeder Sekunde des Gesprächs. Sie glaube, ergänzt die Regisseurin, nicht an Talent, sondern daran, dass man Kreativität trainieren könne.
Ayubs Langfilmdebüt »Sonne« lief 2022 in der mittlerweile von der neuen Berlinale-Direktorin Tricia Tuttle wieder abgeschafften Reihe Encounters und wurde dort als bestes Erstlingswerk ausgezeichnet. Ohne Problemfilm-Duktus erzählt der in Wien spielende Film von einem migrantisch geprägten Coming-of-Age zwischen digitaler Moderne und religiöser Tradition. Drei Abiturientinnen tanzen und albern im Tiktok-Modus vor dem Smartphone und inszenieren in Gebetskleidung ihre eigene Version von R.E.M.s Evergreen »Losing My Religion«. Als das Video viral geht, stellen sich Fragen wie: Ist das ein Akt mutiger Emanzipation oder blanker Hohn? Oder vielleicht sogar kulturelle Aneignung, weil nur eine unter den Dreien Kurdin ist und auch im Alltag Kopftuch trägt? Mit empathischem Blick und großer Selbstverständlichkeit in der Schilderung migrantischer Milieus entwirft der Film ein flirrendes Frauenporträt. Ayub greift in ihrer Inszenierung die Digitalformate der jungen Smartphone-Heavy-User auf, wenn sie die Clips und Videos der Freundinnen in den Film montiert, ebenso ihre Chats. Und sie findet mit den naturalistischen Handkamerabildern von Enzo Brandner immer auch poetische Momente, etwa wenn gegen Filmende die Sonne zwischen den Fingern der Protagonistin tanzt.
Die Regisseurin hat sich darüber gewundert, dass viele den Film autobiografisch lesen wollten. »Klar steckt eine Version von mir in der Hauptfigur, aber eine manipulierte. Ich bin nicht so aufgewachsen, kenne aber schon die Gefühle als Migrantin, die sie hat«, erzählt Ayub. Der Vater im Film zum Bespiel ist verrückt nach seiner Tochter und gibt so etwas wie den Manager der kleinen Tour, die das Freundinnen-Trio mit seiner Songinterpretation hinlegt. Ihr eigener Vater, erzählt Ayub, sei sehr streng gewesen. »Ich war dieses Mädchen, das zu Hause bleiben und gute Noten mit nach Hause bringen musste und keinen Freund haben durfte.« Mit 18 Jahren sei sie ausgebrochen, habe sich ihrem Vater aber wieder angenähert und eine lange Therapie gemacht. »Ich habe verstanden, woher das kommt. Mein Vater kommt aus einem anderen Land mit einer anderen Zeit und Kultur, traumatisiert von Krieg und Flucht. Und ich war ganz alleine in der Familie und hatte keine Tanten und Onkel, wo ich hätte hingehen können.«
Dieser selbst erlebte Ausbruch bildet eine Grundlage für ihren zweiten Film, »Mond«, den die Regisseurin als »sehr persönlich« beschreibt. Der Film, der beim Locarno Film Festival mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, ist der Mittelteil einer thematisch zusammenhängenden Trilogie, in der transkulturelle Vorstellungen von Tradition und Moderne aufeinanderprallen.
In »Mond« macht sich die ehemalige österreichische Kampfsportlerin Sarah (Florentina Holzinger) nach Jordanien auf, um drei Schwestern auf einem hermetisch von der Außenwelt abgeriegelten herrschaftlichen Anwesen zu trainieren. »Ich will echt nicht, dass du in meine Safe Zone reinkommst«, sagt da ziemlich am Anfang eine verhätschelte Schülerin beim Training – ein vielsagender Satz in diesem Film, der von Gefangenen in einer aufoktroyierten Safe Zone erzählt und in dem eine vermeintlich starke europäische Frau mit den streng patriarchalen Zwängen einer arabischen Familie kollidiert.
Inspiriert sei die Handlung von einer BBC-Dokumentation über Prinzessin Latifa, Tochter des Emirs von Dubai, die 2018 international bekannt wurde, weil sie versuchte, vor ihrem Vater zu fliehen. »Es war eine Fluchtgeschichte mit französischem Spion auf einem Schiff, so ganz crazy Hollywood-Style.« An der Geschichte habe sie interessiert, dass die finnische Capoeira-Trainerin der Prinzessin beim Fluchtversuch half. Der Fall ging damals durch die Medien, Latifa wird seitdem von ihrem Vater Muhammad bin Raschid, Herrscher des Emirats Dubai, im Hausarrest festgehalten.
Ayub erzählt »Mond« aus der Perspektive der Kampfsportlerin, die alles, was sie in der Villa hört und sieht, per Vertrag für sich behalten muss. »Ich wollte mir nicht die Geschichte der arabischen Mädchen aneignen«, sagt sie. Gedreht wurde in Jordanien, weil die Arbeit in ihrem Heimatland Irak sicherheitstechnisch nicht zu verantworten gewesen sei. Für das Flüchtlingsland Jordanien habe sie sich entschieden, weil es in Grenznähe liege und die Mentalität dort ähnlich wie im Irak sei. »Jordanien ist ebenfalls sehr konservativ, aber es wird in Sachen Feminismus und Bekämpfung von Sexismus immer offener.« Seine arabische Premiere feierte der Film auf dem 2019 ins Leben gerufenen Red Sea International Film Festival im saudi-arabischen Dschidda, einer am Roten Meer gelegenen Hafenstadt mit einem von der UNESCO geschützten historischen Zentrum.
Aus der Dynamik zwischen der Mixed-Martial-Arts-Kämpferin und den Schwestern, von denen eine sehr zurückhaltend ist, eine starke Stimmungsschwankungen hat und die Dritte gegen den patriarchalen Zwang aufbegehrt, zieht »Mond« produktiv sanfte Thriller-Vibes. Kameramann Klemens Hufnagl fängt das Treiben in strengen, klaustrophobischen Bildern ein: Die Welt der Frauen, auch die der Protagonistin, erscheint stets begrenzt, gerahmt von Fenstern, Türen, Wänden, Schränken. Ayub triggert klassische Hollywood-Narrative und White Savior Stories, um sie zu unterlaufen. »Ich weiß auch nicht, warum, aber mein Ziel war es, Szenen zu bauen, die man nicht erwartet«, so die Regisseurin. »Ich glaube, das hat mir Veronika Franz beigebracht. Sie ist mein Vorbild.« Durch die österreichische Drehbuchautorin und Filmregisseurin (zuletzt Co-Regie bei »Des Teufels Bad«), die 2003 mit Ulrich Seidl die Ulrich Seidl Film Produktion gegründet hat, sei sie selbst zu der Produktionsfirma gekommen.
Neben den eindrücklich von Celina Sarhan, Nagham Abu Baker und Andria Tayeh gespielten Schwestern ist es vor allem Florentina Holzinger, die die Geschichte auf ihrem durchtrainierten Körper trägt. Ein echter Besetzungsclou, denn die als Künstlerin bekannte Choreografin und Performerin überzeugt in ihrer ersten Filmhauptrolle mit zurückhaltender Präsenz und einer auf dem Gesicht zu lesenden Zerrissenheit angesichts der sich zuspitzenden Ereignisse in der Villa.
Holzinger ist gerade in aller Munde. Das renommierte »Monopol«-Kunstmagazin hat sie zur einflussreichsten Künstlerin des Jahres 2024 gewählt. Regelrecht geadelt für ihre kontrovers diskutierten, mutigen Bühneninszenierungen wurde sie mit der Entsendung als Österreichs Vertreterin zur Kunstbiennale in Venedig 2026. Kunsthistorisch brachte die Auswahljury sie mit dem Wiener Aktionismus, der feministischen Body-Art, Kabarett und Zirkus in Verbindung. Ab der Spielzeit 2026/27 gehört Holzinger außerdem zum neuen Leitungsteam der Berliner Volksbühne, mit der Choreografin Marlene Monteiro Freitas und dem neuen Intendanten Matthias Lilienthal.
Holzinger wurde 1986 geboren und studierte an der School for New Dance Development in Amsterdam. Für ihr Stück »Tanz« von 2019, das beim Berliner Theatertreffen gezeigt wurde, erhielt sie den österreichischen Nestroy-Preis für die beste Regie; »A Divine Comedy«, ihr Beitrag für die Ruhrtriennale 2021, wurde mit dem Faust-Preis ausgezeichnet. Zuletzt sorgte sie mit ihrem Operndebüt »Sancta« für Aufsehen, Proteste und Ohnmachtsanfälle. Bei der Premiere in der Staatsoper Stuttgart musste der Notarzt anrücken. Laut dem Sprecher der Staatsoper habe sich der Besucherservice bei den ersten beiden Vorstellungen um 18 Menschen gekümmert, die zum Teil über Übelkeit geklagt hätten.
»Sancta« handelt von einer Nonne und ihrem sexuellen Begehren. Ausgangspunkt war Paul Hindemiths Oper »Sancta Susanna«, die 1922 in Frankfurt am Main uraufgeführt und zum Skandal wurde. Im Vorfeld hatte die Staatsoper auf der Homepage eine Triggerwarnung vorausgeschoben: Die Aufführung zeige explizite sexuelle Handlungen, darunter Darstellungen und Beschreibungen sexueller Gewalt. Zu sehen seien auch echtes Blut und Kunstblut, Piercingvorgänge und eine Verletzung.
Für »Mond« haben sich Ayub und Holzinger gefunden, gewissermaßen als Schwestern im Geiste. Die Regisseurin erzählt, dass sie Holzingers Arbeit schon lange kennt und schätzt. Sie habe die Künstlerin angerufen und gesagt, dass sie gerade an einem Drehbuch schreibe und sie in ihrem Kopf habe. »Und dann, Jahre später, habe ich ihr das Drehbuch geschickt und sie gefragt, ob sie Lust hat, es auszuprobieren. Wir haben intensiv an der Rolle gearbeitet.« Sie suche, so Ayub, bewusst nicht zuerst nach Leuten, die direkt aus dem Schauspielbereich kommen, sondern nach Menschen, die etwas mitbrächten, das »urinteressant« sei.
»Ich wollte eine Figur haben, deren Traum gescheitert ist. Sarah will in den Käfig, und privat hat sie eigentlich auch einen Käfig: Sie sitzt in ihrer Wohnung, im Hotelzimmer oder in der Bar. Sie glaubt vielleicht, dass sie eine Superheldin ist, aber in Wirklichkeit ist sie keine. Und das merkt sie sehr direkt.« »Chains Of Agony« heißt der düster wummernde Technotrack von Azulo, Karashnikov und Zentryc, zu dem Holzingers Sarah im Film einmal in einem Kellerclub sturztrunken freidreht – ein sprechender Titel, der ihren inneren Kampf und den einer der Schwestern auf den Punkt bringt.
Aktuell arbeitet Ayub am Abschluss ihrer lockeren Trilogie, der den Arbeitstitel »Sterne« trägt und voraussichtlich 2026 gedreht werden soll. In diesem Film wird es um eine Journalistin aus dem englischsprachigen Raum gehen, die sich im Jahr 2014, als Terroristen des »Islamischen Staats« die Stadt eingenommen haben, im irakischen Mossul befindet. »Der Film erzählt ihre Fluchtgeschichte. Es geht um Krieg im Alltag und auch darum, wie westliche Menschen in solche Länder kommen, dort Krieg spielen, sensationalistisch über Krieg berichten und dann die Bevölkerung, die nicht flüchten kann, zurücklassen.«
Mit ihren Filmen lässt Kurdwin Ayub subtil, mit frischem Blick und jenseits aller Erwartungen Kulturen und Tradition und Moderne crashen, sie stellt Fragen zu Migration und Religion, zu Heimatlosigkeit, (patriarchaler) Macht und (digitalen) Identitäten. Ihre Figuren sind Gefangene in unterschiedlichen systemischen Käfigen, manche wollen raus und sich emanzipieren, manche haben sich darin eingerichtet, aus Angst vor den Folgen oder weil es einfacher scheint. Dass es Systeme gibt, wie »Mond« zeigt, die ohne Intervention von außen unüberwindbar scheinen, verleiht ihren sehr kinematografischen Werken etwas erschlagend Wahrhaftiges.
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