Galgenbaum & Spiegelkabinett
Orson Welles und Rita Hayworth in »The Lady from Shanghai« (1947)
»The Lady With a Torch«: Die Retrospektive des Filmfestivals Locarno zum hundertjährigen Bestehen von Columbia Pictures ist jetzt in Teilen auch in Deutschland zu sehen. Eine Geschichte des Studios, das sich vom Aschenputtel zum Oscar-Abräumer entwickelte
MMGM hatte die meisten Stars, Paramount die eleganteste Ausstattung, Warner die zeitgemäßen Großstadtfilme und -protagonisten, Universal die Horrorfilme. Aber was fällt dem Filminteressierten beim Stichwort Columbia ein? Ja, was? – Natürlich gibt es Filmklassiker, die man kennt: Die Lady von Shanghai, Die Faust im Nacken oder Lawrence von Arabien, aber man denkt eher an die Stars oder die Regisseure, ohne sie mit einem Studio verknüpfen zu können.
Columbia war lange Zeit ein kleineres Studio, das anders als die »Big Five« keine eigenen Kinos – als zuverlässige Abspielbasis für die eigenen Filme – besaß. Ebenso wenig verfügte Columbia über die finanziellen Mittel, um Stars und Regisseure mit langfristigen Verträgen an sich zu binden. Was andererseits auch Vorteile hatte: Die hohen Kosten für die Umstellung ihrer Kinos auf den Tonfilm konnten die großen Studios in der Depression nicht amortisieren, ebenso setzte ihnen der richterliche Bescheid von 1947 zu, sich von ihren Kinoketten zu trennen.
Die Konsequenz, die das Studio daraus zog, war die serielle Produktion, besonders von Western und Komödien. Später erwarb man die Rechte an Stoffen, die bereits in anderen Medien ihre Massentauglichkeit unter Beweis gestellt hatten, etwa als Radioserien oder Comics. Dazu kamen Kurzfilme, meist Komödien von 20 Minuten Länge, gedreht in drei bis fünf Tagen. Als langlebigste Investition (1934‒1959) erwies sich dabei das Comedy-Trio »The Three Stooges« mit seiner Brachialkomik. Die serielle Erfahrung floss Ende der Vierziger ein in die Gründung von Screen Gems. Diese Abteilung lizenzierte einerseits ältere Studiofilme für das Fernsehen (was andere große Studios damals verweigerten) und begann mit der Produktion von TV-Shows. Damit generierte Columbia zeitweise höhere Einnahmen als mit den Kinofilmen.
Ein Studio möchte aber nicht nur gutes Geld verdienen, sondern strebt auch nach Anerkennung, etwa bei der Oscar-Verleihung. Das gelang Columbia 1934 mit It Happened One Night, dessen Stars Clark Gable und Claudette Colbert man sich von MGM bzw. Paramount ausleihen musste. Der Regisseur allerdings war ein Eigengewächs – und der einzige A-Regisseur, der eine lange Karriere bei Columbia hatte: In zwölf Jahren drehte Frank Capra hier 25 Filme. Auch Mr. Deeds Goes to Town, Lost Horizon, You Can’t Take It with You und Mr. Smith Goes to Washington gewannen Oscars. Mit Capras Depressionskomödien entwickelte Columbia ein eigenes Profil und traf den Nerv der Zuschauer, indem es die Depression zeigte, aber ins Märchenhafte wendete.
Den Prestigegewinn durch die Oscars nutzte Columbia für weitere A-Filme und verpflichtete Regisseure wie John Ford (The Whole Town’s Talking), Leo McCarey (The Awful Truth) und Howard Hawks (His Girl Friday, Twentieth Century, Only Angels Have Wings). Für sie und ihre prominenten Darsteller musste Columbia tief in die Taschen greifen – und Harry Cohn seinen Kontrollwahn zähmen.
Die steigenden Kosten dürften Jack Cohn, der in New York die Finanzen des Studios beaufsichtigte, schlaflose Nächte bereitet haben – nicht so seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Harry, der an der Westküste in Personalunion als Produktionschef und Studioboss fungierte. »Ich habe keine Magengeschwüre – ich verursache sie«, lautete seine Devise. Wenn ein Filmemacher wie Frank Capra ihm anbot, für freie Hand beim Regieführen ein niedrigeres Salär in Kauf zu nehmen, oder Dorothy Arzner ihm versprach, einen A-Film mit einem B-Budget herzustellen, konnte er kaum widerstehen – und wurde oft durch künstlerisch hochwertige Filme belohnt, die nicht selten auch Kassenerfolge wurden. Cohns Mut zum Risiko zahlte sich langfristig aus, zumal als er in den fünfziger Jahren auf umstrittene Stoffe setzte. Die Verfilmung von James Jones’ (Anti-)Kriegsroman Verdammt in alle Ewigkeit wurde ein Kassen- und Kritikererfolg, ausgezeichnet mit acht Oscars, ebenso viele erhielt Die Faust im Nacken im folgenden Jahr.
Letzterer war allerdings keine Harry Cohn-, sondern eine Sam-Spiegel-Produktion. In den fünfziger Jahren schloss Columbia Verträge mit unabhängigen Produzenten, das Risiko wurde geteilt. Mit Die Brücke am Kwai und Lawrence von Arabien bescherte Sam Spiegel Columbia weitere Blockbuster und Oscar-Abräumer. Für Stanley Kramer, der in den fünfziger Jahren nur mit The Wild One den Nerv des Publikums getroffen hatte, war es eine späte Genugtuung, mit seiner Regiearbeit Rat mal, wer zum Essen kommt 1968 den zweiterfolgreichsten Film in den USA geschaffen zu haben, der zudem zwei Oscars errang.
Columbias erster Technicolor-Farbfilm war 1943 der Western Desperados: kein episches Werk, sondern eines, das sich in 89 Minuten damit begnügte, die Standards des Genres zu reproduzieren. Während Glenn Ford (27) bald einer der großen Stars des Studios wurde und in späteren Columbia-Western auch glaubhaft Schurkenrollen verkörperte, blieb Randolph Scott (45) eine zuverlässige Genregröße. Eine kleine Ironie ist es, dass das Studio, bei dem vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren serielle Western am Fließband gedreht wurden, einen der schönsten und homogensten Zyklen der Filmgeschichte ermöglichte: In der Zusammenarbeit von Scott, seinem Produktionspartner Harry Joe Brown und dem Regisseur Budd Boetticher entstanden zwischen 1957 und 1960 die fünf Western des Ranown-Zyklus, tiefenentspannt-lakonische Verhandlungen über Moral, von Buch, Regie und Darstellern konzentriert auf den Punkt gebracht: Ride Lonesome, herausgekommen zwölf Monate nach dem Tod von Harry Cohn, ist insofern ein passender Schlusspunkt dieser Retrospektive.
Die Retro konzentriert sich auf die Cohn-Ära von 1929 bis 1959. Das Programm variiert von Stadt zu Stadt. Berlin (Kino Arsenal im Zeughauskino; 1.–31.3.), in Nürnberg (Filmhaus; 28.3.–27.4), in Hamburg (Kino Metropolis; Mitte Mai bis September).
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