DVD-Tipp: »Tide«
Auf einer Wattwanderung soll es zur berühmten Abtei Mont-Saint-Michel an der Küste der Normandie gehen, jener bei Flut so fotogen aus dem Meer ragenden, kirchturmgekrönten Insel. Doch unterwegs zum Treffpunkt verfahren sich die vier britischen Tourist*innen Charlotte, Xavier, Olivia und Elliott; es wird deutlich, dass die beiden Pärchen kein harmonisches Quartett bilden.
Als sie viel zu spät endlich doch noch am vereinbarten Ort ankommen, schimpft der Wattführer und die Mitwanderer sind angesäuert – man stapft also eher missgestimmt los. Ab durch den bei jedem Schritt schmatzenden Batz, der das Watt ist und der an manchen Stellen verheerende Sogwirkung entfaltet: Dass mit Treibsand nicht zu spaßen ist, beweist eine Demonstration des Führers, die beinahe schiefgeht. Immerhin wissen nun alle, womit sie es zu tun bekommen, wenn sie nicht rechtzeitig vor der Flut festen Boden unter den Füßen haben.
Als unzuverlässig erweist sich in Berty Cadilhacs minimalistischem Horrorfilm »Tide« allerdings nicht nur der Untergrund und nicht nur die Beziehungen der Figuren zueinander schwanken, auch den Protagonist*innen selbst ist nicht zu trauen. Insbesondere Charlotte trägt mit erratischem Verhalten zur unentspannten Atmosphäre bei – ist es Trauma oder Tücke, was sie auf der Insel herumtrödeln und den Aufbruch zurück verzögern lässt? Steht sie mit Mächten im Bunde, die im Wasser dräuen? Dräut da überhaupt irgendwas?
Mit den sichtlich bescheidenen Mitteln einer kleinen unabhängigen Produktion holt Cadilhac, der mit »Tide« ein eigenes Drehbuch in Szene setzt, sehr viel aus ziemlich wenig heraus. Keine Special Effects, keine Jumpscares, kein aufwendiges Produktionsdesign – und doch ein stetig wachsendes Gefühl der Bedrohung und des Unheils. Vor allem aber imponiert der Mut, mit dem Cadilhac die filmischen Mittel immer weiter reduziert, während er die Grenzen zwischen Wahn und Wahrheit verschwimmen lässt. Bis nur mehr das Licht auf dem Wasser tanzt und die Erde wüst und leer ist.
VÖ: 10. Oktober 2024
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