Kritik zu Red Rooms – Zeugin des Bösen
Auf der Grundlage eines Gerichtsverfahrens gegen einen Serienmörder, der drei Mädchen auf dem Gewissen hat, entwickelt Regisseur Pascal Plante in seinem Thriller das Grauen aus dem Digitalen
Ein Prozess, nicht irgendeiner, dafür ist die Schlange der Interessenten, die ihm als Zuschauer beiwohnen wollen, einfach zu lang. Es geht um dreifachen Mord – an drei Mädchen im Alter von 13, 14 und 16 Jahren, die zuvor tagelang gefoltert wurden. Die Folterungen hat der Täter nicht nur in Wort und Bild festgehalten, sondern darüber hinaus zahlungswilligen Interessenten als Livestream angeboten. Starker Tobak, in der Tat. All dies erfahren wir zu Beginn des Films aus dem einleitenden Statement des Richters und dem Plädoyer der Staatsanwältin. Aber dies ist kein Gerichtsfilm. Beim Zuschauer dürfte der Beginn Angstlust auslösen: Werden wir die Videoaufzeichnungen des Täters zu sehen bekommen? Werden wir schreckliche Gewaltszenen ertragen müssen? Wird der Film, der zu Beginn in langen Einstellungen die Plädoyers der Staatsanwältin und des Verteidigers präsentiert, zu einem snuff movie mutieren, zu Torture Porn, angelehnt an Eli Roths »Hostel«-Trilogie?
Dem ist nicht so, glücklicherweise. Vielmehr fokussiert der Film die Frau, die anfangs in der Morgendämmerung durch die Stadt lief, um einen der begehrten Zuschauerplätze bei diesem Prozess zu ergattern. Kelly-Anne bleibt für den Zuschauer bis zum Ende ein Rätsel. Sie arbeitet als Model, sitzt zu Hause die meiste Zeit vor dem Computer. Wenn sie nicht gerade mit Onlinespielen Geld verdient, recherchiert sie in Dokumenten, die eigentlich nicht öffentlich zugänglich sind. Mit Computer-Hacks kennt sie sich jedenfalls aus.
Schließlich freundet sie sich mit der jüngeren Clementine an, die von weit her nach Montreal getrampt ist und auf der Straße übernachtet, um morgens rechtzeitig in der Warteschlange zu stehen. Sie ist eine Art Groupie des Angeklagten, behauptet, die Polizei hätte mit unsauberen, illegalen Methoden Beweise gesammelt, die Augen des Killers (das Einzige, was von ihm hinter der Maske zu sehen ist) seien mit KI bearbeitet worden. Kurz: Ludovic Chevalier sei unschuldig.
Dass diese Figur so eindimensional erscheint gegenüber der rätselhaften Kelly-Anne, gibt zu denken. Ein Schwachpunkt des ansonsten so sorgfältig konzipierten Films? Oder doch eine gezielte Irreführung des Zuschauers?
Die Irritation setzt sich fort, wenn Kelly-Ann später – in starkem Kontrast zu ihrer bisherigen Zurückhaltung – etwas vollkommen Verrücktes macht, das absehbar schwerwiegende Folgen auch für sie selbst hat. Ist sie die eigentlich Durchgeknallte, die ihre Obsession verbirgt hinter einer Fassade von Gleichgültigkeit und Coolness, die ihre Luxusresidenz finanziert, indem sie beim Online-Poker jene ausnimmt, die ihre Gefühle nicht so gut unter Kontrolle haben wie sie selber?
Das überraschende Ende des Films könnte darauf eine Antwort geben – aber Zweifel bleiben. Vielleicht sollte man den Film nach 111 Minuten verlassen, dann wäre die eigene Irritation größer. Die letzten vier Minuten lassen zwar Fragen offen, aber sie haben doch etwas sehr Versöhnliches.
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