»Riefenstahl«: Die Lügen dechiffrieren

»Riefenstahl« (2024). © CBC

»Riefenstahl« (2024). © CBC

Brauchen wir noch einen Dokumentarfilm über Leni Riefenstahl, die Propagandistin der Nazis? Andres Veiel kennt dafür gute Gründe. Da ist zum einen der entlarvende Nachlass der Regisseurin. Zum anderen ist ihre Geschichte wieder brandaktuell

Vermutlich ist Ihnen die Entscheidung, mehrere Jahre mit Leni Riefenstahl zu verbringen, nicht ganz leichtgefallen: Was waren denn die größten Bedenken?

Andres Veiel: Die Ausgangsfrage war: Gibt es genügend neue Einsichten und Erkenntnisse im Nachlass? Es war ja absehbar, dass Leni Riefenstahl ihr großes Archiv vor ihrem Tod bearbeitet und gefiltert hat. Um so überraschter war ich, dass ich zu Beginn der Recherchen auf immer neue Materialien gestoßen bin: unbekannte Fotos und private Filme, aber auch persönliche Notizen, ein Tagebuch oder die Entwürfe zu ihren Memoiren, die nicht nur das erzählten, was ich schon über Riefenstahl wusste. Dazu gehörte auch ein Konvolut von etwa 25 Seiten Kindheitsbeschreibung, das sich fundamental von den fertigen Memoiren unterschied, insbesondere was die Gewalterfahrung mit ihrem Vater anging. 

Welche Rolle spielten für Sie diese Kindheitsbeschreibungen?

Nicht nur Riefenstahl, ihre ganze Generation stand noch unter dem Einfluss preußischer Erziehungs­ideale: Drill, harte Disziplin, heroische Kampfbereitschaft waren über Jahrhunderte Überlebensmechanismen eines kleinen Landes, das sich übermächtigen Feinden gegenübersah. Dem war Riefenstahl auch als Mädchen sehr früh ausgesetzt. Glaubt man ihren Erzählungen, wurde sie als Kind vom Vater ins Wasser geworfen, sie sollte Schwimmen lernen. Riefenstahl berichtet von der Angst zu ertrinken, von Momenten von Todesangst. Sie dreht in ihren Entwürfen diese angstbesetzte Erfahrung in eine Feier des Sieges: Sie wurde kurz danach eine gute Schwimmerin, gewann Wettbewerbe. Sie identifiziert sich mit der Stärke des Vaters. Die Feier des Starken und Überlegenen setzt sich dann später fort – in den Begegnungen mit ehemaligen Weltkriegsteilnehmern am Set ihrer Bergfilme. Einer ihrer Kollegen bringt diese Erfahrung auf den Punkt: Die Schwachen seien an den Kriegserfahrungen zerbrochen, aus denen die anderen gestärkt hervorgegangen sind. Das sei Voraussetzung gewesen, sich vor der Fahne des Führers zu versammeln. Das galt auch für Riefenstahl. Der Film sollte in solchen Momenten auch etwas über die tieferen Voraussetzungen erzählen, warum Menschen faschistischen Idealen folgen. Warum sie eine ­Sehnsucht nach einer starken Hand, nach einer Autorität entwickeln, die ihnen das Gefühl einer Auserwähltheit vermittelt. Immer verbunden mit einem Feindbild, der Abwertung anderer. Damit wird es auch sehr heutig.

Im Film erzählt Leni Riefenstahl von den drakonischen Strafen ihres ­Vaters. Nachdem sie Schokolade geklaut hatte, wird sie verprügelt und stundenlang eingesperrt. Am Ende sagt sie: »Stellen Sie sich mal vor, ich habe nicht eingesehen, dass ich schuldig war.« Das ist eine Blaupause für ihre spätere Uneinsichtigkeit.

Das war ein interessanter Punkt, sie streitet ab, gestohlen zu haben, damit ist der sie schlagende Vater im Unrecht. Das war für uns wie eine Urszene der Realitätsverleugnung, der Schuldabwehr und damit auch der Lüge. Wobei mich nie der moralische Vorwurf interessiert hat, dass Riefenstahl die Unwahrheit erzählt. Viel interessanter ist die Frage: Wofür steht die Lüge? Wird sie glaubhafter, weil sie jemand mit Vehemenz wiederholt? Und sie damit zu einer neuen Wahrheit wird? Einer Wahrheit, die nicht nur für den steht, der sie ausspricht, sondern auch für den, der sie hört? Damit sind wir bei der Produktion und der Wirksamkeit von ­Fake News. Dieses Phänomen lässt sich an Leni Riefenstahl gut beobachten.

Nach »Beuys« ist das Ihr zweiter Film über eine Person, die nicht mehr lebt. Die direkte Begegnung oder Auseinandersetzung liegt Ihnen eigentlich mehr, oder?

Unbedingt. Das war erst einmal eine deutliche Einschränkung, Riefenstahl keine eigenen Fragen stellen zu können. Im Nachlass hatte ich 50 oder 80 Stunden aufgenommene Interviews, die andere geführt haben. Einmal hatte ich deshalb die Idee, einen Avatar zu entwickeln, eine virtuelle Leni Riefenstahl, die mit Hilfe von KI mit ihrem Sprachduktus, ihren Redewendungen gefüttert wird. Diese Kunst-Riefenstahl wollte ich dann mit meinen Fragen konfrontieren. Ich habe 30 Seiten Dialoge geschrieben. Ich habe Riefenstahl in die Enge getrieben und sie mich, sie brüllt und tobt und weint. Das war ein Befreiungsschlag, der mir zudem auch noch viel Spaß machte. Ich konnte mich aus der Abhängigkeit von ihrem Nachlass und den damit verbundenen Einschränkungen befreien. 

Das war Anfang 2022, und dann kam der Ukraine-Krieg, die Ästhetik der Riefenstahl-Filme war wieder allgegenwärtig, die Inszenierung der Massen als Ornament der Macht – in China bei der Eröffnung der Winterolympiade, bei den Moskauer Paraden im Mai 2022. Der spielerische Ansatz eines Avatars, die Leichtigkeit, der böse Humor dieser Szenen – all das war plötzlich nicht mehr stimmig. 

Aber ist das denn wirklich Riefenstahls Ästhetik und nicht der Teil, den sie nur abgebildet hat?  

Das ist ja eine ihrer Legenden, sie habe in ihren Filmen die vorgefundene Realität nur dokumentarisch abgebildet. Natürlich hat sie ihre Bilder inszeniert, mit Unterperspektiven auf Hitler, die dessen Größe betonen, mit riesigen Totalen der dressierten Massen, die deren Unterordnung und Ergebenheit demonstrieren. Von Film zu Film hat sie ihre Bildsprache, die Feier des Schönen und Heroischen, perfektioniert. Ihr erster Film »Sieg des Glaubens« ist noch unfertig, Riefenstahl sucht noch nach einer Filmsprache, und auch ihre Helden üben noch: ­Hitler rutscht mal eine Haarsträhne ins Gesicht, die Ordner laufen durcheinander, ein vorbeifahrendes Auto wirbelt den Menschen Staub ins Gesicht. »Triumph des Willens« hat Längen, die auch Goebbels moniert hat, aber der Film entfaltet eine suggestive Wucht, die bis heute gefährlich ist. Interessanterweise vor allem in den stilleren Szenen, also zum Beispiel bei den Totenfeiern. Der Führer als gottgleicher Erlöser, die Feier der Erhabenheit – dafür hat sie instinktiv eine kongeniale Form gefunden. Ihre Sehnsucht nach Identifikation mit dem Schönen, Erhabenen, Überhöhten hat sich mit ihrem Talent für Rhythmus und Raum ergänzt, das sie vielleicht durch den Tanz erworben hat.

War der Film über »Beuys« eine gute Vorbereitung für »Riefenstahl«?

Nein, weil das eine ganz andere Erzählung ist. Was uns bei Beuys gerettet hat, war sein Humor, der Riefenstahl völlig fehlt. Die eigene Belastung im »Dritten Reich«, seine Rolle als Soldat hat Beuys über die Kunst reflektiert. Das ist nicht immer gelungen, aber er hat da immer wieder angesetzt. Er hat Kunst als Mittel der Reflexion und Transformierung von Schuld und Mitverantwortung eingesetzt. Bei Riefenstahl dagegen gibt es nur Abwehr, und je älter sie wird, desto starrer wird sie. Zur Frage, warum sie stehen bleibt, gibt es zwei Thesen, die beide plausibel sind. Die eine ist, dass die Schuld zu groß war, etwa eines der ersten Juden-Massaker im Zweiten Weltkrieg unwillentlich mitausgelöst zu haben. Sie wollte im polnischen Konskie die Beerdigung von vier getöteten deutschen Soldaten filmen. Eine Gruppe von Juden war gezwungen worden, auf dem Dorfplatz eine Grube für die Toten auszuheben. Die grabenden Männer störten offenbar Riefenstahls ästhetisches Empfinden, sie soll gerufen haben: »Die Juden aus dem Bild.« So beschreibt es ein Adjutant nach dem Krieg. Durch ihre Regieanweisung soll die Situation eskaliert sein, die Juden wurden geschlagen, sie versuchten wegzurennen, Schüsse fielen, 22 Juden wurden erschossen. Riefenstahls Verwicklung in das Massaker von Konskie könnte eine Erklärung für ihre lebenslange Leugnung ihrer Schuld sein, sie wäre damit sehr viel größer als bisher angenommen. Die andere Entdeckung im Nachlass war: Riefenstahl blieb auch nach dem Krieg weiter der NS-Ideologie verhaftet, nicht nur der Ästhetik, sondern auch im Glauben an die Notwendigkeit einer starken Hand, an ein sittlich-moralisch überlegenes Deutschland. 

Es gibt einen Bogen zwischen Beuys und Riefenstahl: Er betrachtet Kunst ganz klar als politisch, und sie leugnet jeglichen Zusammenhang.

Das Interessante bei Beuys war, dass er mit der Idee der »Sozialen Plastik« ein unmittelbares politisches Interventionsmodell entwickelt hat. Für ihn war jeder Mensch ein Künstler. Damit meinte er nicht, dass jeder ein guter Bildhauer, Maler oder Musiker ist, sondern einen Beitrag zu einer positiven Gesellschaftsentwicklung leisten kann, unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht. Dahinter steckt ein Gleichheitsgedanke, es gibt in seinen Vorstellungen keine Privilegien, keine Überlegenheit des einen über den anderen. Das war für mich das Überraschende bei Beuys – anders, als viele behauptet haben, hat er sich ideologisch vollkommen von dieser NS-Ideologie gelöst. Bei Riefenstahl war es genau das Gegenteil. Sie behauptet, es gäbe eine Trennlinie zwischen Kunst und Politik, sie selbst habe sich nie für Politik interessiert. Das ist eine ihrer vielen Legenden. Die Verbindung zwischen Kunst und Politik hat sie konsequent bestritten. Was angesichts ihrer Verbundenheit mit Hitler und der NS-Elite natürlich absurd ist. Wir haben ein Interview im »Daily Express« gefunden, das nicht im Nachlass war, da sagt sie 1934: »Ich habe ›Mein Kampf‹ schon 1931 gelesen, und nach Seite eins bin ich überzeugte Nationalsozialistin geworden.« Das widerspricht ihrer Aussage, vollkommen unpolitisch gewesen zu sein, und dass es im ­»Triumph des Willens« nichts Rassistisches, nichts Antisemitisches gebe. Aber solche Filme kann nur jemand machen, der ideologisch von den NS-Idealen überzeugt ist.

Beide Filme, »Beuys« und »Riefenstahl«, haben im Titel nur den Nachnamen, vermutlich aus unterschiedlichen Gründen?

»Beuys« wurde ja von allen Beuys genannt, selbst von seiner Ehefrau, da wäre es komisch gewesen, ihm im Titel einen Vornamen zu geben. Bei »Riefenstahl« haben wir tatsächlich überlegt, ein Leni davorzusetzen, auch um uns vom anderen Titel abzugrenzen. Aber es hörte sich falsch an, als ob ich mit ihr inzwischen per Du wäre. Ich hatte von Anfang an ein von Distanz und Misstrauen geprägtes Verhältnis zu Riefenstahl. Das heißt nicht, dass es nicht auch Momente gab, in denen ich versuchte, ihr empathisch zu begegnen, etwa bei den Gewalterfahrungen durch den Vater und andere Männer. 

Sie zeigen sie auch in anderen Momenten sehr menschlich, etwa zu Beginn der Sequenz über den Aufenthalt bei den Nuba. Sie gestehen ihr zu, in Afrika glücklich gewesen zu sein.

Ja, wir müssen begreifen: Sie ist kein monströses Alien. Nein, sie ist eine von uns, kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Das entschuldigt nichts, sie ist und bleibt die Propagandistin eines Unrechtsregimes. Interessant ist, wie sie es wurde. Und warum sie sich davon nicht lösen konnte. 

Quentin Tarantino preist Leni Riefenstahl als »beste Regisseurin, die jemals lebte«. Um das zu erkennen, müsse man nur ihre Olympia-Filme sehen. Wie sehen Sie ihren Rang als Künstlerin?

Sie war eine herausragende Editorin, sie hatte ein feines Gespür für Bewegungsabläufe und Rhythmus. Sie war auch eine gute Regisseurin, instinktsicher hat sie Menschen engagiert, die innovativ arbeiteten. Sie hat die Aufnahmen eines Weitspringers gesehen, der eine Kamera auf seine Skier montiert hatte, und gesagt: Den will ich! Sie war aber eine miserable Autorin, das zeigen die rund 25 Drehbücher im Nachlass. 

Aber ihre Obsession und ihr Ehrgeiz hatten sicher auch eine ausbeuterische Seite?

Den Kameramann Willi Zielke, der die berühmte Eröffnungssequenz des Olympia-Films kreierte, hat sie fallengelassen, als er ihr nicht mehr nützlich war, und seine Zwangssterilisierung und Einweisung in die Psychiatrie womöglich sogar aus Überzeugung gebilligt.

Auf die Frage, wofür sie erinnert werden will, nennt sie »Das blaue Licht«. Wenn man der Biografin Nina Gladitz folgt, dann ist der allerdings von Béla Balázs und nicht von ihr, in den ursprünglichen Credits ist sie nur als Mitarbeiterin genannt. Im Nachlass sind das dann vermutlich eher Leerstellen, genauso wie der Fall Zielke, dessen Arbeit sie in ähnlicher Weise an sich gerissen hat?

Zu Balázs finden sich im Nachlass keine Dokumente. Riefenstahl hat offensichtlich die Drehbücher, die Entwürfe und Notizen dazu alle vernichtet, möglicherweise um Balázs' Rolle in der Drehbucharbeit zu minimieren. Für mich steht außer Zweifel, dass Balázs das Drehbuch maßgeblich geprägt hat. Es ist qualitativ deutlich besser als alle anderen Bücher, die Riefenstahl allein verfasst hat. Zu Zielke gibt es nur wenige Dokumente, etwa einen sehr belastenden Brief, den seine zweite Frau in den Siebzigerjahren an Riefenstahl geschrieben hat. In dem konfrontiert sie Riefenstahl mit massiven Vorwürfen. Riefenstahl habe Zielke finanziell und ideell ausgebeutet, sich nie entschuldigt. Sie hat darauf nie reagiert. 

Leni Riefenstahls Alleinstellungsmerkmal als Frau im Filmgeschäft wird verstärkt durch ihre Sonderrolle im Nationalsozialismus, dessen Frauenbild sie ja in allen Punkten widersprach.

Die Rolle der Mutter mit fünf Kindern hat sie sicher nicht erfüllt. Julius Streicher, der Herausgeber des Hetzblattes »Der Stürmer«, beschreibt sie als Ausnahmeerscheinung, diese Sonderrolle müsse man einigen wenigen zugestehen. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie sie es geschafft hat, sich in dieser geschlossenen Männerwelt durchzusetzen. Offenbar hatte sie eine Gabe, Menschen für sich zu gewinnen, mit Charme, mit Tränen, aber auch mit offener Aggression. Das kann man sehr gut in einer Talkshow beobachten: Anfangs haben ihre Kritiker den Beifall auf ihrer Seite. Nach einer halben Stunde gelingt es Riefenstahl, sich mit feuchten Augen als Opfer zu inszenieren. Sie behauptet, nach Kriegsende drei Jahre in Lagern und Gefängnissen gesessen zu haben, heute wissen wir: Alles gelogen. Sie saß nicht mal sechs Wochen.

Von »Balagan« über »Black Box BRD«, »Der Kick bis Wer, wenn nicht wir« ist die Aufarbeitung der Vergangenheit immer damit verbunden, auch der Gegenwart in Deutschland den Puls zu messen. Im Zusammenhang mit »Riefenstahl« hat sich wohl auch die Wahrnehmung Ihrer eigenen Familiengeschichte verändert?

Das war eine Koinzidenz, dass ich um 2020 begonnen habe, mich intensiver mit der Rolle meines Großvaters zu beschäftigen, der General im Russlandfeldzug war. Durch meinen Vater wurde immer vermittelt, dass mein Großvater im Hitler-Attentat vom 20. Juli involviert war und nur durch seltenes Glück nicht zum Tode verurteilt wurde. Er sei ein extrem guter General gewesen, den man in den letzten Monaten des Krieges gebraucht habe, um die Heimatfront zu verteidigen. Ich fand das immer etwas eigentümlich, und als ich dann anfing zu recherchieren, stieß ich auf ein Affidavit von SS-Reichsführer Himmler, der meinen Großvater entlastet, indem er ihm für die »stets sehr gute Zusammenarbeit« dankt. Mein Großvater war bis etwa 1943 im Russlandfeldzug eingesetzt, bevor er an der Heimatfront in Württemberg, in Baden, im Elsass das Ersatzheer geleitet hat. Und was heißt da gute Zusammenarbeit? Mein freundlicher Großvater ist mit seiner Panzerdivision vorgerückt, hinter ihm die SS, die Gruben ausgehoben hat – für Juden und angebliche Staatsfeinde. Schließlich habe ich herausgefunden, dass mein Großvater den angeblichen Drahtzieher des Attentats noch in derselben Nacht bei der Gestapo gemeldet hat, woraufhin der verhaftet und vier Wochen später hingerichtet wurde. Diese Heldengeschichte, die keine war, hat mir gezeigt, dass auch ich Opfer familiärer Legendenbildung geworden bin.

Ist das der Punkt, an dem Ihr Psychologiestudium durchschlägt? 

Ich will Menschen in ihren Prägungen verstehen, was sie zu dem werden lässt, was sie sind. Ich hatte schon immer ein Interesse, den Dingen auf den Grund zu gehen. Als Kind habe ich meinen Teddybären mit einem Messer aufgeschnitten, ich wollte wissen, warum er brummt, wenn ich ihn in eine bestimmte Richtung drehe. Mit 15 hatte ich eine Couch besorgt und ein imaginiertes Behandlungszimmer ausstaffiert. In der Zeit hatte ich Freuds Traumdeutung gelesen und fand es faszinierend, das nicht rational Zugängliche auszuloten, dass der Mensch mehr ist als das, was er glaubt zu sein. Ich war überzeugt, dass die daraus gewonnene Selbsterkenntnis eine heilsame Wirkung entfalten kann. Nichts muss so bleiben, wie es ist, ein für mich immer noch sehr positiver Gedanke.

Warum war Riefenstahl eigentlich nicht NSDAP-Mitglied?

Von Frauen wurde eine Parteimitgliedschaft nicht erwartet, sie war in jedem Fall keine Voraussetzung, um als Frau Karriere zu machen.

700 Kisten Fotos, Filme, Dokumente: Wie viele andere Filme mussten Sie da zurücklassen?

In den 18 Monaten Schnitt gab es mindestens fünf sehr unterschiedliche filmische Versionen. Manchmal haben allein schon ein anderer Anfang, zwei oder drei Umstellungen und ein anderer Schluss zu einer ganz anderen Erzählung geführt. Es war uns sehr bald klar, dass der Film aus der Materialität des Nachlasses und seiner Leerstellen argumentieren muss. Und dass ich dem Material nichts aufzwingen kann, was dramaturgisch vielleicht wünschenswert wäre. Die großartigen Editoren hatten dabei einen freieren Blick, sie haben oft Dinge im Nachlass entdeckt, die mir nicht aufgefallen sind.

Wie sind Sie konkret im Schnitt vorgegangen?

Wir haben Schriftgut, ihre unzähligen Fotos und die Filme zunächst nach bestimmten Themenschwerpunkten vorsortiert – so wie es vom Treatment her angelegt war. Es war immer klar, dass wir niemals Riefenstahls gesamte Biografie auserzählen wollten. Von daher mussten wir von Anfang an auf den Mut zur Lücke setzen. Ich war eher der Anwalt inhaltlicher Erzählschwerpunkte, ich wollte beispielsweise unbedingt, dass die Gewalterfahrungen in der Kindheit einen Platz im Film finden. Wir haben nach innerer Stringenz gesucht, immer mit den Kernfragen: Wer ist Leni Riefenstahl? Und was bedeutet sie für heute? Eine der frühen Thesen war: über die unbekannten Materialien des Nachlasses ein Close-up dieser Frau zu erarbeiten. Um Riefenstahl als Prototyp zu verstehen – für die Entstehung von Faschismus bis zur Verbreitung von Fake News. Klar wäre da ein Mehrteiler denkbar gewesen. Aber mir war wichtig, eine kompakte Kinofassung zu machen, weil Kino immer noch der Raum ist, in dem ein Film konzentrierter wahrgenommen wird, in dem aus der Begegnung von Zuschauern und Zuschauerinnen Debatten entstehen.

Aber Kinofassung und Fernsehmehrteiler schließen sich ja nicht unbedingt aus.

Ja, es kann durchaus sein, dass die Produzentin Sandra Maischberger noch darüber nachdenken wird, mit diesem ungeheuren Fundus noch etwas ganz anderes auf die Beine zu stellen. 

Wie schwer war die Entscheidung, weitgehend ohne Kommentar zu arbeiten?

Zunächst hatte ich mit viel Kommentar gearbeitet. Ich glaubte, Riefenstahls Lügen dechiffrieren zu müssen. Je weiter wir ins Material des Nachlasses eingedrungen waren, desto mehr übernahm die Montage diese Funktion. Riefenstahl selbst war es, die sich widersprach. Ein wertender Kommentar wurde damit obsolet. 

Scheinbar gibt es selbst bei Journalisten dennoch ein großes Bedürfnis nach einem Beipackzettel . . .

Meine Erfahrung auf den Festivals in Venedig und Telluride war, dass der Film verstanden wird, auch von jungen Menschen. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir auch für das deutsche Publikum keinen Beipackzettel brauchen. 

Die Musik unterläuft die Bilder und Aussagen immer wieder, mit einer widersprüchlichen Tonlage: Ist das dann doch eine Art eingeschmuggelter Regiekommentar?

Ja, aber sehr subtil. Eher eine beiläufige Irritation, etwa in den Zitaten aus dem Olympiafilm. Die Musik scheut sich nicht, die Bilder groß zu machen. Dann aber gibt es einen sehr leisen, gegenläufigen Ton, der sich sozusagen von hinten einschleicht. Damit setzen wir ein Fragezeichen. 

Ähnlich verhält es sich mit den vielen, durchaus verführerischen Glamourfotos von Leni Riefenstahl am Anfang des Films. Mal anders gefragt: Wäre diese Karriere überhaupt möglich gewesen, wenn sie nicht so schön gewesen wäre?

Starkult ist immer mit einer gewissen Attraktivität verbunden, einschließlich der Homestories, in denen Riefenstahl 1928 auf der Couch liegend so tut, als würde sie gleich einen Mittagsschlaf machen, und dabei sanft in die Kamera blickt. Sie hat auch damals virtuos alle Möglichkeiten der Selbstvermarktung ausgeschöpft. Und sie war eine Ikone, die das ­Publikum durch ihre todesmutigen Leinwandabenteuer faszinierte. In denen sie in Gletscherspalten fiel, sich im Eis Erfrierungen aussetzte. Nur sie konnte das so machen, eine Marlene Dietrich wäre davongelaufen. 

Premiere hatte »Riefenstahl« auf dem Festival in Venedig, wo 1938 auch der Olympiafilm ausgezeichnet wurde: Wie haben Sie das erlebt?

Venedig war der richtige Ort für die Uraufführung, es hätte keinen besseren geben können. Nicht nur weil Riefenstahl dort in der Blüte des italienischen Faschismus gefeiert wurde. Sondern auch weil in Italien heute eine Ministerpräsidentin an der Macht ist, die die faschistischen Wurzeln ihrer Partei relativiert, deren Parteimitglieder den faschistischen Gruß zeigen und sich zu diesem Erbe bekennen. Der Film hat in Venedig viele Debatten angestoßen – wie übrigens auch in den USA. Dort haben viele gesagt, der Film müsse jetzt in die Kinos, in einer Zeit, in der ein Präsidentschaftskandidat davon spricht, dass Migranten das amerikanische Blut verseuchen. In den USA wie an vielen anderen Orten wird wieder die Überlegenheit der einen über die anderen propagiert. Aus der Verachtung des vermeintlich Anderen, des Kranken, Fremden wird Ausgrenzung, wird Hass, wird Vernichtung. Wir leben in einer Zeit der Schamlosigkeit, das, was vor ein paar Jahren noch nicht offen gesagt worden wäre, wird jetzt laut herausgeschrien– und mit Wählerstimmen belohnt. Insofern ist der Film eine Warnung – er spricht aus der Zukunft zu uns. 

Hat die Kunst, haben Dokumentarfilme die Kraft, die Welt zu verändern?

Kunst trägt in sich ein Versprechen, die Welt mit anderen Augen zu sehen, das Unbekannte als etwas Vertrautes, das scheinbar Bekannte als etwas Fremdes, Unbekanntes wahrzunehmen. Das kann als etwas Beglückendes, Befreiendes erlebt werden, aber auch Ängste und Widerstände hervorrufen. In diesem Sinne ist Kunst immer auch Zumutung. Wenn Menschen die Zumutung annehmen, wenn sie sich ihr gegenüber öffnen, dann hat Kunst das Potenzial, etwas zu verändern, wenn auch nicht gleich die ganze Welt. 

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