RTL+: »Zeit Verbrechen«
»Zeit Verbrechen – Dezember« (2024). © RTL+
Mit rund fünf Millionen Streams im Monat ist der Podcast »Zeit Verbrechen« schon lange eine eigene Marke in Sachen »True Crime«. Vielleicht war eine Filmadaption also nur eine Frage der Zeit. Doch aus der Masse an filmischen/seriellen Bearbeitungen realer Kriminalfälle ragen die zunächst vier rund einstündigen Beiträge der neuen Reihe heraus. Bereits die Regienamen belegen den Willen, keinesfalls Durchschnitt zu liefern: Jan Bonny (»Wintermärchen«), Mariko Minoguchi (»Mein Ende. Dein Anfang.«), Faraz Shariat (»Futur Drei«) und Helene Hegemann (»Axolotl Overkill«) stehen für sehr individuelle Handschriften. Bei der Auswahl von Geschichten aus dem Pool der akribisch recherchierten Fälle hatten sie ebenso freie Hand wie bei ihrer Herangehensweise. Und so testet jeder der Filme auf eigene Weise aus, was im Genre möglich ist.
Auf den ersten Blick erkennbar ist der allen gemeinsame Mut, aus den aktenkundigen Schicksalen Erzählungen zu stricken, die ihre Wahrheit nicht in nackten Fakten suchen – die lassen sich in vier flankierenden Dokus nachvollziehen –, sondern in der künstlerischen Einfühlung. So erzählt Mariko Minoguchi in ihrem bewegenden »Dezember« weitgehend als »One Take« und ganz nah an der Hauptfigur die Odyssee des 18-jährigen Tim durch die Nacht, von beschwingter Feierei in einem Club über den alkoholbedingten Kontrollverlust und einsames Herumirren in Kälte und Dunkelheit bis hin zum tragischen Ende. Als Zuschauer fragt man sich an jeder Wendung der immersiv erzählten Geschichte, bei jeder Begegnung des von Samuel Benito grandios gespielten Tim, wer wie viel Verantwortung an dessen Tod trägt. Doch Schuldfragen lassen sich hier wie in den anderen Fällen kaum eindeutig beantworten.
Am verstörendsten ist diese Vieldeutigkeit in Helene Hegemanns »Deine Brüder«, obwohl man gerade bei ihr aufgrund der Rahmung als Gerichtsdrama auf eine rationale Klärung des Falls hoffen könnte. In Rückblenden entfaltet sich die Geschichte einer unzertrennlichen jugendlichen Freundesclique. Wie tief verwurzelt ihre Verbindung ist, zeigt Hegemann in kurzen, poetischen Einschüben, in denen die jungen Männer buchstäblich wieder zu Kindern werden, etwa wenn sie nachts ins Bassin des Freibads tauchen. In der Jetztzeit allerdings stehen sie vor Gericht, als Angeklagte, bis auf einen von ihnen, der tot ist: Cem (Zethphan Smith-Gneist) hatte Charisma, war mitreißend und einfühlsam, doch auch extremsten, destruktiven Stimmungsschwankungen ausgesetzt. Seine Gewaltausbrüche wurden zur Gefahr für die Clique und für andere. Ist Cems Tod ein Akt von »Bandenkriminalität«, wie der Staatsanwalt postuliert, oder eine Art »ausgelagerter Suizid«, wie ein Verteidiger meint? »Deine Brüder« erzählt erstaunlich vielschichtig von einem Charakter, der jede Ordnung sprengen muss. Doch wie nebenbei werden auch die Fremdheits- und Ausgrenzungserfahrungen migrantisch geprägter Jugendlicher zum Thema.
Jan Bonnys ambivalente Gangsterballade »Der Panther« stimmt grellere Töne an, und das liegt nicht zuletzt an Lars Eidinger, der mit einer furiosen Performance als exzentrischer Gangster Johnny mit einer Schwäche für Koks und Rilke den Film trägt. Immer wieder ungemütlich wird einem die Mischung aus Amüsement, Abscheu und Mitgefühl, die diese Spielernatur erweckt. Er will mit allen Mitteln in einer kriminellen Bande aufsteigen, ist jedoch auch als V-Mann tätig, außerdem möchte er seiner drogensüchtigen Tochter ein neues Leben ermöglichen. Und lange glaubt der Trickser, er könne alle an der Nase herumführen – bis sein Kartenhaus in einem heftigen Strom von Blut, Kotze und Koks zusammenbricht.
Auch Faraz Shariats »Love by Proxy« stürzt einen in ein Wechselbad aus Anteilnahme und Unverständnis, wenn sich der verwitwete Ralf (Jan Henrik Stahlberg) in Liebe verzehrt für die ach so geheimnisvolle junge US-Amerikanerin, die er übers Internet kennengelernt hat. In Ghana will sie das Millionenerbe ihres Vaters antreten, doch der hatte Feinde. Nur mit immer neuen Geldsendungen von Ralf kann sie überleben... Shariat hat einen wunderbaren Dreh gefunden, die Projektionen des einsamen Mannes ins Bild zu setzen und parallel zu dekonstruieren, indem er sie mit der harten Realität des »Love-Scamming« kollidieren lässt. So erzählt er clever vom Erbe der kolonialen Vergangenheit und rassistischen Stereotypen.
»Zeit Verbrechen« wurde bereits mehrfach ausgezeichnet – hochverdient, sind doch alle vier Folgen der Reihe Musterbeispiele für ein Erzählen, das wagt, zu irritieren, herauszufordern und im Krimigenre existenzielle Geschichten zu erzählen.
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