Mohammad Rasoulof: »Wir durften nicht auffallen«
Mohammad Rasoulof ist schon immer dahin gegangen, wo es wehtut. Sein neuer Film »Die Saat des Heiligen Feigenbaums« wurde heimlich gedreht – eine scharfe Anklage gegen das iranische Regime
Nach einem Soziologiestudium, Kurz- und Dokumentarfilmen inszenierte Mohammad Rasoulof (Jahrgang 1972) 2002 seinen ersten abendfüllenden Spielfilm: In »The Twilight« wird ein Strafgefangener zwecks Rehabilitierung zur Heirat mit einer ebenfalls inhaftierten Drogenabhängigen gedrängt, die Darsteller verkörpern sich selber in dem semidokumentarischen Film. Marginalisierte Charaktere waren auch die Protagonisten von »Iron Island«, arabischstämmige Arbeiter, die sich in einem verlassenen Frachtschiff niedergelassen haben. Internationale Aufmerksamkeit bekam Rasoulof mit »Auf Wiedersehen« (2011), »Manuscripts Don't Burn« (2013) und »A Man of Integrity« (2017), die allesamt im Rahmen der »Quinzaine des Réalisateurs« in Cannes liefen und dort ausgezeichnet wurden. »Doch das Böse gibt es nicht« erhielt 2020 den Goldenen Bären. 2012, beim Dreh zu »Manuscripts Don't Burn«, an dem er zusammen mit Jafar Panahi arbeitete, wurde er erstmals verhaftet, nach einer erneuten Verhaftung im Juli 2022 verbrachte er sieben Monate im berüchtigten Evin-Gefängnis. Als ihm im April 2024 der bevorstehende Antritt einer Gefängnisstrafe von acht Jahren angekündigt wurden, beschloss er, den Iran zu verlassen. Das ging nur auf illegalem Wege, da die Behörden seinen Reisepass bereits im September 2017 konfisziert hatten. Im Mai konnte er seinen neuen Film beim Festival von Cannes persönlich vorstellen. Dort wurde er mit einem Spezialpreis der Jury, dem FIPRESCI-Preis und dem Ökumenischen Preis ausgezeichnet. »Die Saat des heiligen Feigenbaums«, dessen Postproduktion in Deutschland stattfand, ist die deutsche Oscar-Einreichung für den besten internationalen Film. Frank Arnold hat Mohammad Rasoulof in Berlin getroffen. Das Gespräch fand auf Farsi mit Übersetzerin statt.
epd Film: Herr Rasoulof, Ihren Film »Doch das Böse gibt es nicht« haben Sie einmal bezeichnet als »Film über Verantwortung«. Kann man »Die Saat des heiligen Feigenbaums« als Fortsetzung sehen? Wieder geht es um Formen der Verantwortung: die des Staatsdieners gegenüber seinem Arbeitgeber, die seiner Töchter gegenüber einer bei den Protesten verletzten Kommilitonin und die der Mutter für den Zusammenhalt der Familie.
Mohammad Rasoulof: Ich stimme Ihnen zu, ich sehe diesen Film als eine Fortführung – aber nicht nur des letzten Films, sondern auch desjenigen, den ich davor gedreht habe, A Man of Integrity. Diese drei Filme sehe ich als ein Gesamtbild.
Der neue Film mündet in eine Tragödie, weil der Vater immer starrsinniger wird im Beharren auf seiner Autorität. Anfangs hat er noch Schwierigkeiten damit, nach seiner Beförderung zum Untersuchungsrichter Todesurteile unterzeichnen zu müssen. Sind Menschen in höheren Positionen des Staatsapparates für den Widerstand verloren?
Wir sollten diesen Mann nicht als Vertreter aller Menschen sehen, die Teil dieses Apparates sind. Ich glaube, die Menschen, die eingebunden sind in diese Struktur, bewegen sich in einem gewissen Spektrum zwischen gut und schlecht. Man kann nicht sagen, dass diese Figur stellvertretend für alle steht. Die Frage, die wir stellen sollten, ist die: Was passiert, dass diese Menschen zu Mitläufern werden, woher kommt ihre Ergebenheit?
Es gibt im Film eine Szene, die irritiert: Als die Familie gegen Ende mit dem Auto in ihr Refugium in der Provinz fährt, wird sie von Regimegegnern verfolgt, die sie mit ihren Handys filmen, schließlich kommt es zu Handgreiflichkeiten. Der Film verharrt jedoch in der Perspektive der Familie, die Regimegegner muss man als Bedrohung empfinden.
Sie sind nicht die Bösen, aber das Gefühl der Irritation, das Sie beschreiben, ist genau das Gefühl, das die beiden Töchter in diesem Augenblick empfinden: Sie müssen sich für eine Seite entscheiden. Als die jüngere Tochter in dieser Szene erwähnt, dass es keinen Handyempfang gibt, wird deutlich, dass sie ihren Vater bis zu diesem Moment noch unterstützt und sich als Teil der Familie sieht, ihn aber dennoch kritisch betrachtet. Die Tatsache, dass er ihr Vater ist, verleiht ihm nicht automatisch eine moralische Autorität. Dass Regimegegner versuchen, die Gesellschaft zu informieren, ist etwas, das heute im Iran zum Alltag, zu den Protesten dazugehört.
Ist es eine reale Praxis im Iran, dass dem Vater als Untersuchungsrichter ein Revolver ausgehändigt wird? Die Waffe spielt ja eine große Rolle.
Das ist eine Erfindung. Ich habe allerdings auch Recherchen betrieben und Informationen darüber gesammelt, was passiert, wenn so eine Dienstwaffe verloren geht, was für juristische Folgen das für den Betreffenden haben kann. Die Waffe hier hat eher eine metaphorische Rolle. Es ging mir darum, sie als Symbol des Patriarchats zu zeigen. Wenn die Macht verloren geht, ist man bereit, alles zu tun. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass bei Mitgliedern des Apparates, die dessen Ideologie nie infrage stellten, es häufiger zu brutalen Auseinandersetzungen mit Mitgliedern der eigenen Familie kam.
Der Protagonist in »A Man of Integrity« lehnte sich auf gegen die Willkür eines mächtigen Mannes und der Behörden. In den Filmen, die Sie danach gemacht haben, stehen dagegen Figuren im Zentrum, die Teil des Herrschaftsapparates sind. Was hat Sie zu dieser Umgewichtung bewogen?
In meinen Begegnungen mit Menschen aus dem System – Ermittlern, Richtern, Mitarbeitern von Sicherheitsbehörden – habe ich mich immer wieder gefragt: Wie denken sie? Auch der Protagonist von »Die Saat des heiligen Feigenbaums« ist ein Produkt dieser Fragen.
Sie haben mit kleinen Kameras gedreht. Das hatte sicher einen Grund.
Heute bieten semiprofessionelle Kameras fast dieselben Möglichkeiten, die man mit professionellen Kameras hat. Natürlich fordert die Verwendung solcher Kameras die eigene Kreativität heraus, etwa, was Lichtsetzung anbelangt. Für uns waren diese Fragen wichtig, weil wir gleichzeitig ja nicht auffallen durften. Das technische Equipment klein zu halten war unerlässlich, damit niemand von offizieller Seite auf die Idee kam, dies sei ein großes Projekt. Unsere erste Priorität war die Sicherheit der Crew – schließlich wollten wir diesen Film zu Ende bringen.
Inwieweit müssen im Iran nicht nur Regisseure, sondern auch die anderen Mitarbeiter eines Films mit Repressalien rechnen? Bei der deutschen Premiere Ihres Films im September beim Filmfest Hamburg waren ja auch die beiden Darstellerinnen der Töchter anwesend. Durften sie aus- und wieder einreisen?
Die beiden sind bereits ausgereist, bevor bekannt gegeben wurde, dass der Film im Mai beim Festival von Cannes seine Weltpremiere erleben würde. Was aber auch bedeutet, dass sie nicht mehr in den Iran zurückkönnen. Gegen fast alle leitenden Mitglieder der Crew wurde mittlerweile Anklage erhoben. Einige haben das Land verlassen: parallel mit mir, kurz davor oder kurz danach. Als ich das Land verlassen habe, wusste das Regime noch nichts von dem Film. Der entscheidende Grund für meine Ausreise war die endgültige Bestätigung des Urteils, dass ich eine achtjährige Haftstrafe anzutreten habe. Erst sieben Tage danach wurde die Existenz dieses Films bekannt. Daraufhin hat das Regime das Büro des Kameramannes gestürmt, der Tonmeister wurde am Flughafen verhaftet, als er ausreisen wollte.
Sie haben in Bezug auf Ihre Zeit im Gefängnis erzählt, dass Sie dort auch im Austausch mit anderen politischen Gefangenen waren. Wie hat man sich das vorzustellen?
Die erste Zeit nach meiner Verhaftung war ich in Einzelhaft, damals lief das Ermittlungsverfahren gegen mich. Danach war ich in den »allgemeinen Räumen« im Zusammenhang mit einem anderen Verfahren. Je nachdem, um welche Straftat es geht, ist man dann auch mit anderen Menschen zusammen. Die Schwerkriminellen waren in einem anderen Bereich; wo ich war, waren Menschen, die angeklagt waren wegen Steuerdelikten, viele, die sich für den Umweltschutz eingesetzt hatten und dafür angeklagt wurden, zum Teil auch Drogenhändler, aber auch viele politische Gefangene und Menschen, die der Spionage beschuldigt wurden, sowie Doppelstaatler, die normalerweise als Geiseln festgehalten werden. Es gab bestimmte Zeiten am Tag, wo wir uns in der Bibliothek, beim Sport oder auch bei Hofgängen treffen konnten. Das Evin-Gefängnis ist ein großer Komplex, der aus mehreren kleinen Gefängnissen besteht, jedes gehört zu einer anderen Behörde – eines ist den Revolutionsgarden zugeordnet, ein anderes dem Sicherheitsministerium. Je nachdem, warum man verhaftet wurde, kommt man in eines der kleineren Gefängnisse und wird später in ein größeres verlegt. [Mohammad Rasoulof zeigt mir auf seinem Handy eine Luftaufnahme des Gefängnisses.] Hier verbrachte ich fünf Monate in Einzelhaft, dann war ich hier für fünf Wochen in einem Raum, nicht größer als dieser Tisch hier.
Beim Filmfest Hamburg lief auch »Seven Days« von Ali Samadi Ahadi, für den Sie das Drehbuch geschrieben haben. Erzählt wird darin von einer bekannten Aktivistin, die sieben Tage Ausgang aus dem Gefängnis bekommt, um eine Krankheit auszukurieren. Hinter der Grenze trifft sie ihren Ehemann und ihre beiden Kinder, die in Hamburg im Exil leben. Die hoffen, dass sie mit ihnen kommen wird, während sie versucht, ihre Familienangehörigen davon zu überzeugen, dass sie zur Fortsetzung ihrer Arbeit im Iran bleiben müsse. Ich musste beim Ansehen an die letzte Episode von »Doch das Böse gibt es nicht« denken, die Begegnung auf dem Flughafen, in der Ihre Tochter Baran mitwirkt. Kann man »Seven Days« als deren Fortführung sehen, gewissermaßen als einen Brief an Ihre in Hamburg lebende Familie: Sie begründen zu jenem Zeitpunkt, warum Sie trotz der Gefahr weiterhin Filme im Iran machen wollen.
Beide Arbeiten folgen demselben Impuls. »Seven Days« habe ich zuerst geschrieben, erst dann die Episode in »Doch das Böse gibt es nicht«. Da war in der Tat etwas zwischen mir und meiner Tochter, mein Unwohlsein darüber, wie meine Entscheidung sich auf ihr Leben auswirken würde. Sie sieht das aber anders und glaubt nicht, dass meine Entscheidung ihr Leben so negativ beeinflusst hat. In der Erzählung von »Seven Days« geht es eher um das Leben von Narges Mohammadi – damals habe ich mich gefragt, wie soll sie sich fühlen als Mutter. Dieses Thema hat mich sehr beschäftigt.
Waren die anderen beiden Filme, für die Sie das Drehbuch verfasst haben, »Das rote Coupé« und »Son-Mother« (beide 2019), ursprünglich auch als eigene Inszenierungen gedacht?
Nein, das Drehbuch für »Son-Mother« hatte ich schon vor langer Zeit geschrieben, vor »Iron Island« (2005). Mahnaz Mohammadi hat mich immer wieder danach gefragt, so habe ich es ihr schließlich gegeben, auch, weil ich nicht sicher war, wie ich das selbst machen könnte. Das war eine sehr komplizierte Geschichte und ich muss denn auch ehrlich sagen, wenn ich den Film gemacht hätte, hätte ich ihn wirklich anders gemacht, das war weit entfernt von meinen Vorstellungen. »Das rote Coupé« habe ich für jemand anderen geschrieben – Ashkan Najafi war einer meiner Regieassistenten bei »Doch das Böse gibt es nicht«.
Im Mai haben Sie sich dafür entschieden, den Iran zu verlassen. Können Sie schon sagen, was das für Ihre künftige Arbeit bedeutet?
Diese Frage stelle ich mir fortwährend selbst, kann sie aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beantworten. Sicher ist, dass sich meine Filme nicht plötzlich ändern werden.
Wie ist Ihre Situation hier? Leben Sie in Hamburg bei Ihrer Familie? Ich las, dass Sie in Berlin sind.
Ja, ich bin manchmal auch in Berlin, aber vor allem reise ich im Augenblick viel zu den verschiedensten Filmfestivals. Ich glaube, ich habe gerade eine Zeitkrise in dem Sinne, dass ich gar nicht viel in Deutschland bin. Ich denke aber, dass ich mich in den nächsten Monaten niederlassen werde und dass dann alles ruhiger verläuft.
Zu Hamburg haben Sie ein spezielles Verhältnis: Sie haben hier Co-Produzenten gefunden, die Filmförderung hat Sie unterstützt, Ihre Filme hatten Ihre Deutschlandpremiere auf dem dortigen Filmfest. Wie hat sich das ergeben? Hat die große iranische Community in der Hansestadt dabei eine Rolle gespielt?
Ich war 2005 zum Filmfest Hamburg mit meinem Film »Iron Island« eingeladen, und damals habe ich zu mir gesagt: Eines Tages werde ich in Hamburg leben. Jetzt ist die Zeit gekommen. Die iranische Community und die Hamburger Filmförderung waren nicht die Auslöser für meinen Entschluss, aber ihre Unterstützung ist schon wichtig.
Wenn man an die Entführung des Deutsch-Iraners Jamshid Sharmahd 2020 in Dubai denkt, der jetzt im Iran hingerichtet wurde, fragt man sich: Haben Sie Angst? Sie stehen ja nicht unter Polizeischutz.
Nein, unter Polizeischutz stehe ich nicht, ich will auch frei leben können. Natürlich ist es klar, dass das Regime in Teheran keine moralischen Maßstäbe kennt und alles Mögliche passieren kann. Aber das ist etwas, über das ich keine Kontrolle habe. Ich denke dann lieber an etwas, über das ich Kontrolle habe, etwa an mein nächstes Projekt. Ich möchte nicht daran denken, wozu dieses Regime fähig ist, weil das zu einer gewissen Passivität führt – und das möchte ich nicht.
Welche Unterstützung kann das Ausland für die Menschen im Iran leisten? Gibt es andere Möglichkeiten, als Filme und Filmemacher auf Festivals einzuladen? Ist mit der Ermordung von Jamshid Sharmahd die »stille Diplomatie« gescheitert? Sollten Regierungen zu härteren Sanktionen übergehen?
Was die Entscheidungen von Politikern anbelangt, möchte ich das denen selbst überlassen. Was den Film betrifft, so ist das eine Kunst, die Geschichten erzählt. Man muss zusammen mit den unterhaltsamen Narrativen auch versuchen, gewisse Ebenen von Informationen und Bewusstsein zu vermitteln. Die Szenen, die Bilder müssen ihre Aussagekraft haben, sie müssen beeindruckend sein. Die Erzählung von menschlichem Leid ist es, was Kino wichtig macht.
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