Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg
»The Kingdom« (2024). © Chi Fou Mi Productions
Zum 73. Mal: Das Internationale Filmfest Mannheim-Heidelberg
Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt wie es ist. Das ist eines der berühmtesten Zitate der Filmgeschichte, aus einem der großartigsten Filme, die je gedreht wurden: »Der Leopard« von Luchino Visconti, nach dem Roman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Alain Delon als Fürst Tancredi sagt es zu seinem Onkel, dem Fürsten Salina, und er meint es in eher opportunistischer Absicht. Aber es passt auch gut auf das Filmfest Mannheim-Heidelberg. Viel hat sich verändert, seitdem Sascha Keilholz und sein neues Team vor fünf Jahren (und fünf Ausgaben) das Heft übernommen haben, die erste Ausgabe fiel mitten in der Pandemie. Das Team hat die Sektionsstruktur des Festivals verändert (und mit englischen Titeln versehen), es mehr mit den beiden Städten und den dortigen Kinos vernetzt und ein neues Talent Camp eingeführt. Aber: die Konzentration auf Newcomer, also auf erste und zweite Langspielfilme aus aller Welt, ist geblieben. Und auch die Bereitschaft, dem Publikum mal etwas Sprödes und Experimentelles zuzumuten.
Nun, die Rechnung ist aufgegangen, mit vollen und ausverkauften Vorstellungen bei der diesjährigen 73. Ausgabe des seit 1952 spielenden Filmfestivals. Und wenn man sich die großen Themen des Wettbewerbs anschaut, Migration, Gewalt und patriarchale Strukturen, dann deutet das Festival auf die großen Wunden unserer Gegenwart, erzählt aber mitunter aus ungewöhnlichen Perspektiven. Zum Beispiel in »The Kingdom« (Le Royaume). Der Film des Franzosen Julien Colonna führt in das Korsika der neunziger Jahre, in dem nicht nur die Nationalisten ihre Bomben werfen, sondern sich auch die Banden des organisierten Verbrechens bekriegen, wie es scheint aus Blutrache. Alles Männer. Aber gesehen durch den Blick des Teenagers Lesia (Ghjuvanna Benedetti, die auch in Mannheim war). Sie wird zu Beginn des Films, in den langen französischen Sommerferien, in das Haus gebracht, in dem ihr Vater mit seinen Getreuen versteckt residiert, eine für sie und uns Zuschauer schwer zu durchschauende Situation – wer sind die Männer, was wollen sie? Konsequent enthüllt der Film bis zu seinem Ende nicht, welcher Art die Geschäfte ihres Vaters sind. Wir merken nur, dass sein Clan auf dem absteigenden Ast ist und das Netz des Todes sich immer mehr um ihn zieht, der Vater muss untertauchen. Zu den vielen Stärken des Films gehört, dass der Film sich nicht in der Abfolge von Attentaten und Morden erschöpft, sondern viel Zeit darauf verwendet, dass Vater und Tochter sich überhaupt erst finden, auch wenn das Damoklesschwert der Gewalt immer über Lesia liegt. Immer mehr wird sie in dieser Vater-Tochter-Beziehung auch zu einer Komplizin. Am Schluss werden sie zu einer letzten gemeinsamen Reise aufbrechen.
Auch im brasilianischen »Manas« von Marianna Brennand steht eine Vater-Tochter-Geschichte im Mittelpunkt, die in diesem beeindruckenden Film auf Macht und Missbrauch gründet. Die 13jährige Marcielle, Tielle genannt, lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Hütte am Ufer des Amazonas. Auch wenn der Fluss Weite vorgaukelt, ist es eine Situation der Abgeschlossenheit, die anderen Familien und Dörfer sind nur über das Boot erreichbar. Ihre ältere Schwester hat sich vor langer Zeit davon gemacht, aber zwei Brüder und ihre jüngere Schwester leben noch unter dem Dach. Auf dem Fluss fahren riesige Lastkähne, deren Mitarbeiter von den Mädchen der Ortschaften versorgt werden – auch mit sexuellen Dienstleistungen. Ihr Vater warnt immer davor, dass sie nicht eine von denen werden soll, aber als er sie auf einen Jagdausflug mitnimmt, vergeht er sich an ihr. Brennand zeigt diesen Missbrauch nicht, auch später nicht, als Tielle von ihrem Vater gezwungen wird, mit ihm in einem Bett zu schlafen. Die Mutter sieht weg, auch als die Polizei sich einschaltet, und der Film deutet an, dass sich dieser Missbrauch von Generation zu Generation fortsetzt. Auch »Manas« ist wie »The Kingdom« aus der Perspektive eines Mädchens erzählt, das am Schluss eine Waffe in die Hand nimmt. Doch wo in »The Kingdom« sich der flirrende und blaue Himmel über die Szenen legt, bleibt in »Manas« die klaustrophobe Enge der kleinen Hütte in Erinnerung, zwischen deren löcherigen Balken sich die patriarchale Gewalt breit macht. Die Jury für den Newcomer-Wettbewerb On The Rise hat dem Film ihren mit 30.000 Euro dotierten Preis zugesprochen. Zu Recht.
Erstaunlich gut vertreten waren in diesem Jahr die US-amerikanischen Filme, immerhin drei von 16 Wettbewerbsbeiträgen. Man hatte den Eindruck, um es einmal hoch zu hängen, dass die US-Independents zu einem neuen Höhenflug ansetzen. Und Mannheim-Heidelberg ihnen auch ein Forum bietet, nachdem vor Jahren das Münchner Filmfest seine American Independents eingestellt hat. »Dead Mail« von Joe DeBoer und Kyle McCoanaghy beginnt mit einem blutverschmierten Brief, den ein an die Kette gelegter Mann in einen Briefkasten wirft und dessen Vorgeschichte der Film nun entwirft: wie ein reicher Musikfan einen Synthesizer-Ingenieur engagiert und diese Partnerschaft sich zu einem Psychothriller ausweitet. Treffsicher und liebevoll haben die beiden Regisseur das Umfeld der achtziger Jahre wieder heraufbeschworen, als die Synthesizer noch Moog oder Korg hießen, Computerbildschirme vor allem Datenkolonnen zeigten und schnurlose Telefone noch nicht einmal zu ahnen waren. Der Look des Films wirkt, als er wäre er mit grobkörnigem 16-mm-Material realisiert, was aber nicht der Fall ist. Aber »Gazer« von Ryan J. Sloan wurde auf 16-mm-Kodak-Material gedreht. Was man auch als eine Hommage an seine Vorbilder, das New Hollywood und das Paranoia Kino der Zeit, sehen kann. Frankie leidet an einer seltenen Krankheit: Dyschronometrie. Sie, deren Tochter nach dem Tod ihres Mannes bei der Schwiegermutter lebt, hat Blackouts, schweift mit ihren Gedanken ab. Um bei der Sache zu bleiben, hört sie mit einem Walkman Kassetten, spricht auch ihre Erlebnisse ein. Und wird über eine Selbsthilfegruppe in eine Intrige hereingezogen, bei der man schwer unterscheiden kann, wer die Guten und die Bösen sind – und ob alles wirklich so real ist, wie wir es sehen. Sloan und Ariella Mastroianni, die Hauptdarstellerin und Drehbuchautorin, haben in Mannheim erzählt, wie sie den Film fast ohne jedes Geld in Szene gesetzt haben, an Wochenenden mit Freunden, so wie Peter Jackson seinen Erstling »Bad Taste« gedreht hat. Und wie sie dafür gekellnert und in diversen anderen Jobs gearbeitet haben.
Beide Filme waren charmante Genrewerke, ein gekonnter Thriller und ein atemberaubend inszenierter Neo Noir. »Familiar Touch« von Sarah Friedland, der dritte US-amerikanische Film, dagegen ist ein sympathisches und witziges Demenzdrama, das dort beginnt, wo andere Demenzfilme aufhören: wenn ein kranker Mensch ins Altersheim kommt. Ruth ist zwar 80, aber ohne erkennbare körperliche Gebrechen. Dass sie ihren Sohn zu Beginn des Films eher für ein Date hält, legt aber ihre Krankheit nahe. Und auch im Altersheim schwankt sie immer wieder zwischen Wachheit und Verwechslung. Nun ist das Altersheim des Films eher ein Idyll (einen Country Club nennt es ein Mitarbeiter), mit einem Betreuungsschlüssel, von dem andere Einrichtungen nur träumen können, aber treffsicher hat Friedland die Auswirkungen der Krankheit in Szene gesetzt. Nur in lichten Momenten gibt es Einsicht bei Ruth, die sogar die Küche übernimmt, weil sie davon ausgeht, sie habe dort immer schon gearbeitet. »Familiar Touch« wurde mit dem Rainer Werner Fassbinder Award für das beste Drehbuch ausgezeichnet.
Die Ökumenische Jury entschied sich für den chinesischen Beitrag »Bound in Heaven« (Kun bang shang tian tang) von Huo Xin, der ergreifendste Film des Programms. »Bound in Heaven« beginnt und endet mit einem Konzert der Sängerin Faye Wong, und in dem Jahr dazwischen entfaltet sich eine der schönsten Liebesgeschichten der letzten Jahre, zwischen der Investmentbankerin Xia Yo (Ni Ni) und dem Straßenverkäuferin Xu Zitai (Zhou You), eine Liebe zwischen den Klassen und bis in den Tod. Und eine Liebe, der man nicht entkommen kann. Beide haben ihre Vorgeschichte: sie ist mit einem gewalttätigen Verlobten liiert, und er hat ein gespanntes Verhältnis zu seinen auf dem Land lebenden Eltern. Und er ist todkrank, wie sie bei einem Besuch zu ihnen feststellen muss, eine seltene Blutkrankheit. Aber die beiden begegnen sich von Anfang an mit Respekt und Zärtlichkeit und ohne Angst vor dem Tod. Regisseurin Huo Xin ist als Drehbuchautorin bekannt (nicht nur in China, sie hat »Kung Fu Hustle« geschrieben), in ihrem Spielfilmdebüt inszeniert sie beeindruckend eine amour fou vor den Kulissen dreier chinesischer Städte mit ihren Skylines und ärmeren Vierteln.
»The Kingdom« wird auch bei uns ins Kino kommen, irgendwann, der Berliner Progress Verleih hat ihn gekauft und damit ein gutes Werk getan. Alle anderen hier beschriebenen Filme haben noch keinen Verleih, tauchen auf der Anlaufliste der Verleiher nicht auf, obwohl manche wie »Gazer« in Cannes gelaufen sind. Das ist die bittere Seite des exquisiten Mannheim-Heidelberger Programms – und das Armutszeugnis für unsere Kinosituation. Wenn ein deutscher Film auf einem Festival läuft, in Saarbrücken, Berlin, Hof oder wo immer, hat er meist einen Verleih, weil die Förderregularien des Bundes und der Länder das vorschreiben und fördern. Dadurch verstopfen auch rund 150 deutsche Filme pro Jahr die Kinos (von denen manche beim Fernsehen besser aufgehoben wären), das sind drei pro Woche. Ein bisschen mehr Mannheim täte auch unseren Kinospielplänen gut.
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