Der Animationsfilm

Sieht nicht echt aus. Hat aber Seele
»Der Herr der Ringe: Die Schlacht der Rohirrim« (2024). © Warner Bros.Pictures

»Der Herr der Ringe: Die Schlacht der Rohirrim« (2024). © Warner Bros.Pictures

Fans des Animationsfilms lieben das Handgezeichnete. Der Trend in Hollywood ging dagegen lange zu einem digitalen Naturalismus. Kein Thema mehr, meint Andreas Rauscher: Die Zukunft ist hybrid

»Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter!« lautet das Motto des digital animierten Astronauten Buzz Lightyear in den »Toy Story«-Filmen, die uns seit 1995 begleiten. Die Pionier*innen aus den Pixar-Studios lieferten mit dieser Losung zugleich ein Versprechen und eine indirekte Zielvorgabe für die weitere Entwicklung des digitalen Animationsfilms. 

Mit ihren belebten Spielzeug­figuren fanden sie einen für die letzten Jahrzehnte ausgesprochen inspirierenden Ausweg aus der Sackgasse des sogenannten Uncanny Valley. Mit diesem 1970 von dem Robotikexperten Masahiro Mori geprägten Begriff werden menschenähnliche animierte Figuren bezeichnet, die einen verstörenden Eindruck erzeugen. Sie ähneln in ihrer detaillierten Gestaltung zwar lebenden Wesen. Aber aufgrund einzelner verräterischer Eigenheiten wie einer ausdruckslosen Mimik oder allzu mechanischen Bewegungen wirken sie dann doch vage unmenschlich – wie unheimliche Wiedergänger von uns. »Der Polarexpress« (2004) und »Beowulf« (2007) von Robert Zemeckis oder »Final Fantasy – Die Mächte in dir« (2001) bieten einprägsame Beispiele für diesen Effekt, den die Medienwissenschaftlerin Lisa Bode als realistisch, aber nicht realistisch genug beschreibt. Häufig sind es die Augen, die die künstlichen, animierten Figuren verraten. Sie stehen in einem auffälligen Kontrast zu den hyperrealistisch gezeichneten Körpern.

Die Animationskünstler*innen aus den Pixar-Studios umgingen geschickt diese Fallgrube, indem sie ihre Figuren gar nicht erst fotorealistisch, sondern stets mit einem gewissen Hang zur Abstraktion gestalteten. Während Tom Hanks als Schaffner des Polarexpresses mit seinem streifigen Schnurrbart und den Highlights auf der Iris seelenlos wirkte, zählt der von ihm gesprochene Spielzeugcowboy Woody aus den »Toy Story«-Filmen zu den einprägsamsten Charakteren der neueren Animationsfilmgeschichte. Auch die an große Augen erinnernden Linsen des kleinen Roboters »WALL·E« (2008), der unermüdlich den Müll der Menschheit auf der verlassenen Erde aufräumt, nutzen das assoziative Potenzial der Abstraktion. Zugleich ermöglichen die realistisch gestalteten Hintergründe in den Pixar-Produktionen komplexe Kamerafahrten, die sich dem Spielfilm annähern. Die Fortschritte in der Computergrafik bereiten den animierten Figuren ein ausgesprochen lebendiges Spielfeld, das von Wassersimulationen mit glaubwürdigen Wellenbewegungen bis hin zum detailreich gestalteten Großstadtdschungel reicht. 

Doch besteht, wie der als Berater für Animationsfilme tätige Kameramann Roger Deakins neulich in seinem Podcast bemerkte, auch eine gewisse Gefahr darin, dass sich der digitale Animationsfilm in den Weiten eines zunehmend schematischen Naturalismus verliert. 

»WALL-E – Der letzte räumt die Erde auf« (2008). © Walt Disney

Dabei haben es gerade in den letzten Jahren viele Animationsfilme verstanden, die technischen Fortschritte der Digitalisierung für ungewöhnliche künstlerische, kreative Ansätze zu nutzen. Sie entziehen sich dem hyperrealen Naturalismus, der etwa die wie Spielfilme aussehenden, aber komplett animierten Remakes klassischer Disney-Filme bestimmt. Mit Tablet, Zeichenstift und Keyboard entdecken Filmemacher den Charme der von Hand gezeichneten Animation neu, die nun mit digitalen Hilfsmitteln in einen innovativen Dialog mit der Computer-Generated Imagery (CGI) tritt. Animationssoftware ermöglicht, die von Hand gezeichneten Entwürfe mit digitalen Elementen zu kombinieren und beide gemeinsam in Bewegung zu versetzen. Das in den Pixar-Filmen begonnene Wechselspiel zwischen Abstraktion und Realismus wird hier auf eine neue Ebene befördert. 

Die Animationsforscherin Maureen Furniss erklärt in ihrem Standardwerk »Art in Motion« (2007), dass handgezeichnete Animation deutlicher als andere Varianten der Animation ihren konstruierten Charakter offenbart. Auf einer graduellen Skala der Stilformen stellt sie dem Realismus der Nachahmung die Abstraktion animierter Weltentwürfe gegenüber. Auf der einen Seite des Spektrums stehen die synästhetischen Form- und Farbenexperimente von Oskar Fischingers »Komposition in Blau« (1935) bis zu Norman McLarens »Begone Dull Care« (1950). Auf der anderen Seite finden sich die nahezu naturalistisch mit Verfahren wie dem Roto­scoping nachgezeichneten Darsteller*innen in Filmen wie Richard Linklaters »Waking Life« und »A Scanner Darkly«. 

»Spider-Man: A New Universe« (2018). © Sony Pictures

Das von Furniss beschriebene Spannungsverhältnis zwischen mimetischen und abstrakten Elementen nutzen die oscarprämierten »Spider-Man«-Filme »Spider Man: A New Universe« (2018) und »Across the Spider-Verse« (2023) auf ausgesprochen einfallsreiche Weise. In den Paralleldimensionen des Multiversums tummelt sich ein hochgradig diverses Ensemble von Superheld*innen, die ihre ganz eigenen ästhetischen Ausdrucksformen mitbringen. Das Spektrum reicht vom afroamerikanischen Miles Morales als neuem Spider-Man und der Protagonistin Spider-Gwen über den klassischen, jedoch gealterten Helden Peter Parker, ein Cartoon-Spider-Schwein und einen in Schwarz-Weiß gehaltenen Noir-Spider-Man bis hin zu einer Animeheldin mit Spider-Roboter. Die unterschiedlichen Welten der populären Comics schicken die Filme mit sichtlichem Vergnügen auf Kollisionskurs. Die bunte Mischung der Inhalte wirkt sich unmittelbar auf die formale Gestaltung aus, der je nach Figur unterschiedliche Grade von Realismus zugrunde liegen. Während das Spider-Schwein aus dem Nichts einen überdimensionalen Cartoonhammer ausfahren kann, übernimmt der Noir-Spider-Man den Harte-Kerle-Manierismus seines Sprechers Nicolas Cage, und die Animeheldin wird von gezeichneten, genretypischen Speedlines begleitet.

Der betont zweidimensionale Look der Figuren ermöglicht eine deutliche Sichtbarkeit der Ecken und Kanten rund um die Zeichnungen. Die »Spider-Man«-Filme verzichten bewusst auf gängige Verfahren zur Erzeugung von Bewegungsunschärfe (Motion Blur). Mit deren Hilfe nähern sich digitale Animationen sonst häufig der Optik realer Kameraaufnahmen an. Als Alternative nutzen die Zeichner*innen einen stilisierten Cartoonlook. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen wird mit Hilfe von unterschiedlichen Zeichenstilen und nicht durch Schärfeverlagerungen gelenkt. Die filmische Sprache des Animationsfilms bleibt zwar erhalten. Sie wird jedoch um einfallsreiche Varianten erweitert. So wird beispielsweise das Bild in einer Mischung aus Splitscreen- und Layout-Komposition unterteilt, um auf der Leinwand einzelne Cartoon­panels gegenüberzustellen. Der Co-Regisseur Peter Ramsey sagt, die Filme sollten den Eindruck vermitteln, man würde in einer Comicwelt leben. 

Der enorme kommerzielle Erfolg der »Spider-Verse«-Filme hat in Hollywood die Tür für digitale Animationsfilme aufgestoßen, die auf abstraktere Formen als die üblichen Fingerübungen in Sachen naturalistischer Hyperrealismus setzen. 

Mit dem aktuellen Animationsfilm »Der wilde Roboter« von Chris Sanders öffnen sich auch die Dreamworks-Studios verstärkt den Möglichkeiten hybrider Stilformen. Immer wieder betont Sanders (»Drachenzähmen leicht gemacht«, »Lilo & Stitch«) in Interviews, dass ihm als gestalterisches Konzept eine Mischung aus den impressionistischen Gemälden Claude Monets und den Wäldern in den Animearbeiten von Hayao Mi­yazaki (»Prinzessin Mononoke«) vorschwebte. 

Die Abenteuer des Roboters Roz, der auf einer entlegenen Insel strandet und dort mit einem listenreichen Fuchs und einem jungen Gänserich eine Ersatzfamilie aufbaut, basieren auf einem beliebten Kinderbuch. Neben Einflüssen aus Miyazakis Ghibli-Studios und der bildenden Kunst bezieht das Team um Sanders auch Elemente aus klassischen Animationsfilmen wie Walt Disneys »Bambi« (1942) ein. Für die Abenteuer des niedlichen Zeichentrickrehs nutzten die Disney-Studios eine Multiplan-Kamera. Mit dieser konnten in der Bildkomposition Kamerafahrten und unterschiedliche Tiefenebenen mit Hilfe von hintereinander montierten beweglichen Glasplatten realisiert werden. »Der wilde Roboter« knüpft in der Darstellung der Natur, die im Unterschied zu abstrakten Cartoonwelten als realistisch anmutendes Ambiente mit einer glaubwürdigen Physik erscheint, an diese Tradition an. Doch im Unterschied zum digitalen Naturalismus von Filmen wie Jon Favreaus »König der Löwen«-Adaption (2019) verzichtet die Präsentation der Kulissen und Charaktere bewusst auf hyperrealistische Details. Lichteinsatz und Farbgestaltung zielen auf eine stilisierte ästhetische Wirkung ab. Auch die Tiere auf der einsamen Insel erinnern mit ihrer ausdrucksstarken Mimik und ihrem flauschigen Fell bewusst an die Qualität handgezeichneter Figuren. 

»Der König der Löwen« (2019). © Walt Disney

Dass animierte Tiere sich auch ganz von der Tradition der Vermenschlichung lösen können, demonstriert auf eindrucksvolle Weise der Animationsfilm »Flow« (2024), der bei uns fürs Frühjahr angekündigt ist. Die lettisch-belgisch-französische Co-Produktion kommt ohne Dialoge aus und setzt stattdessen auf ein elaboriertes Sounddesign. Eine apokalyptische Sintflut bringt eine Katze, einen Hund, einen Storch, einen Lemuren und ein Wasserschwein auf einem ins Ungewisse treibenden Boot zusammen. Durch die Lichtsetzung und den Einsatz der virtuellen Kamera, etwa in den Unterwasserszenen, wird ein ganzes Ökosystem simuliert. Die Tiere verfügen jedoch über die ausdrucksstarke Qualität von gezeichneten Figuren. Dass sie sich zugleich weiterhin wie Tiere verhalten und keine Worte die Handlung erklären, verstärkt das assoziative Potenzial des Films. Regisseur Gints Zilbalodis (»Away«, 2020) gelingt mit dem auf seinem früheren Kurzfilm »Aqua« (2012) basierenden Flow ein intensives animiertes Äquivalent zur Entschleunigung im Independent-Kino. Utopische Perspektiven werden in der Gemeinschaft der Tiere angedeutet, bleiben aber in ihrer Ausformulierung dem Publikum überlassen. 

Die aktuellen Entwicklungen im Animationsfilm gehen einher mit einem verstärkten kulturellen Austausch. Für »Robot Dreams« (2023) erweitert der spanische Regisseur Pablo Berger eine Comicvorlage der US-amerikanischen Autorin Sara Varon um seine eigenen Erinnerungen an das New York der 1980er Jahre. Auch diese Geschichte um die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem Roboter und einem Hund wird wortlos erzählt. Zugleich eröffnen die detailverliebt gestalteten Hintergründe, in denen sich Punks, Rapper, Breakdancer und gewöhnliche Passanten in Tiergestalt tummeln, ein breites Spektrum popkultureller Assoziationen. Der entspannte Groove von Songs wie »September« von Earth, Wind & Fire und der elegante Jazz-Soundtrack verbinden tragikomische Handlung und surreale Traumsequenzen. Die Träume des im buchstäblichen Sinne gestrandeten Roboters drehen sich nicht um elektronische Schafe, sondern um die Musicalchoreografien von Busby Berkeley und den »Zauberer von Oz«. In diesen Sequenzen erzielt der Animationsfilm eine allgemeingültige Emotionalität, wie sie in der Filmtheorie auch für die universelle Sprache des Stummfilms behauptet wird. Der minimalistische Cartoonrealismus veranschaulicht in »Robot Dreams«, wie sich digitale Animation und assoziative zeichnerische Abstraktion ergänzen können.

Besonders prägnante Beispiele für die transkulturellen Austauschprozesse zwischen den Animationsgenres bilden die Globalisierung des Animes und die Inspiration durch medienübergreifende Franchises. Die vier Staffeln umfassende Netflix-Serie »Castlevania« (2017 - 2021) etwa adaptiert als US-amerikanische Produktion mit Anime-Anleihen eine japanische Videospielvorlage. Die darin mit einer deutlichen Freude an der Reanimation von Pulp-Motiven geschilderten Kämpfe zwischen einem Vampirjäger und den Horden Draculas erinnern an den Charme alter Universal- und Hammer-Horrorfilme.

Die gerade um eine zweite Staffel fortgesetzte Serie ­»Arcane« (seit 2021) basiert auf dem erfolgreichen Multiplayer-Strategievideospiel »League of Legends«. Doch im Unterschied zu einer konventionellen Game-Adaption wie der aktuellen Netflix-Serie »Tomb Raider: The Legend of Lara Croft« erweitert »Arcane« die Spielwelt um Hintergrundgeschichten einzelner aus dem Spiel bekannter Charaktere. Die in ihrem Steampunk-Setting und der Charakterisierung der Figuren am Animestil orientierte Serie wird von dem französischen Studio Fortiche in Zusammenarbeit mit dem Spieleentwickler Riot Games produziert. Das Setting ist grafisch besonders akzentuiert, indem lediglich die Figuren dreidimensional animiert werden. Die Hintergründe sind hingegen wie zweidimensionale Gemälde gestaltet.

Dass das naturalistische Paradigma nur noch eine Stiloption innerhalb einer ganzen Palette von realistisch bis abstrakt gehaltenen Animationsstilen darstellt, zeigt auch der kurz vor Weihnachten veröffentlichte »Herr der Ringe«-Spin-off-Animationsfilm »Die Schlacht der Rohirrim«. Die Animeabteilung des Hollywoodstudios Warner hatte bereits eigenwillige Animationsfilme wie »Batman Ninja« (2018) mit japanischen Künstler*innen realisiert. Als Regisseur für die 183 Jahre vor Peter Jacksons Herr der Ringe-Filmen angesiedelte Vorgeschichte der heroischen Reiter von Rohan wurde Kenji Kamiyama verpflichtet. Mit den Animeserien »Ghost in the Shell: Stand Alone Complex« (2002) und »Blade Runner: Black Lotus« (2021) hatte er bereits zwei animierte Spin-offs zu bekannten Serien und ihren stilprägenden Welten realisiert. Für »Die Schlacht der Rohirrim« nutzte er das Design von Jacksons Spielfilmen als Referenz. Mit Hilfe der Unreal Engine, die sowohl für die Herstellung von Videospielen als auch für die Generierung von Echtzeithintergründen auf LED-Screens bei Dreharbeiten genutzt wird, wurden die schauspielerischen Darbietungen in 3D-Aufzeichnungen übertragen. Die dienten wiederum als Vorlage für die 2D-Animationen im fertigen Film. 

Wie dieser Rückbezug auf analoge Techniken mit den Mitteln der digitalen Filmproduktion verdeutlicht, liegt die Zukunft des Animationsfilms nicht zwangsläufig in der Überwindung des Uncanny Valley. Wie die aktuelle Vielfalt an ästhetischen Ansätzen und stilistischen Strategien demonstriert, kann der Blick auf analoge Animationsformen den nächsten Schritt in die digitale Zukunft inspirieren.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt