Animationsfilme: Wunderkammer der Subversion

»Anomalisa« (2015) © Paramount Pictures

»Anomalisa« (2015) © Paramount Pictures

Animationsfilme gibt es seit den Anfängen des Kinos. Und sie sind keineswegs immer Familienunterhaltung gewesen. Wie kreativ und abenteuerlich Animationen für Erwachsene sein können, zeigt gerade wieder der Autorenfilmer Charlie Kaufman, der in »Anomalisa« Figuren aus dem 3D-Drucker zum Leben erweckt. Gerhard Midding über die bizarre Schönheit eines unterschätzten Subgenres

Jede Utopie geht vom Bestehenden aus und überschreitet Grenzen. Sie beruht auf vertrauten Erkenntnissen und Gewissheiten und ist doch bereit, andere Lehren aus der Wirklichkeit zu ziehen. Wo wäre eine Utopie im Kino besser aufgehoben als in einem Animationsfilm, der fest an die Wandelbarkeit von Realitäten und Existenzen glauben muss?

Michael Stone, der erfolgreiche, trinkfeste Autor von Büchern über Kundenberatung, hat dieses Zutrauen nicht. Seine Umwelt erscheint ihm anonym und uniform, selbst seine Frau und seinen Sohn nimmt er nicht aus. Das muss den Zuschauer nicht wundern, denn sämtliche Figuren in »Anomalisa« stammen aus einem 3D-Drucker. Die Menschlichkeit ihrer Gesichter wirkt unspezifisch, gleichsam generisch. Unversehens scheinen für Michael in einem Gesicht jedoch Lebendigkeit und Individualität auf: in dem von Lisa, der er in einem Hotel begegnet. Sie selbst nimmt sich als unscheinbar und durchschnittlich wahr, aber Michael gerät unwiderruflich in ihren Bann. Aus einem alltäglichen Zusammentreffen schöpft er die Zuversicht, das Leben müsse nicht so bleiben, wie es war.

»Anomalisa« (2015)

In einem Realfilm würde diese Konjunktion zweier Existenzen vielleicht schal wirken. Aber die Animation schärft in Charlie Kaufmans Film den Blick für das Einzigartige, Unverwechselbare. Seine Geschichte gewinnt Gewicht und Nuancen. Es war vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis der wehmütige Puppenspieler Kaufman sich einmal auf dieses erzählerische Terrain wagen würde. Er befindet sich in erlesener Gesellschaft. Zu den Autorenfilmern, die sich in der Disziplin schon versucht haben, gehören Wes Anderson (»Der fantastische Mr. Fox«), Tim Burton (hauptsächlich als Produzent, etwa von »Nightmare Before Christmas«), Richard Linklater ­(»Waking Life«, »A Scanner Darkly«) und Todd Haynes (dessen ­Debütfilm »Superstar« die Lebensgeschichte der Sängerin Karen ­Carpenter mit Barbiepuppen rekonstruiert). Sie greifen vorzugsweise auf altmodische Techniken wie die Stop-Motion-Animation zurück, die zeitaufwendig und arbeitsintensiv sind, sich aber stilistisch prononciert von der Glätte vieler Disney-Produktionen unterscheiden und inhaltlich mit deren Gereimtheiten brechen. Mit ihren ästhetischen Entscheidungen treten sie die Nachfolge von Pionieren wie Jan Švankmajer und den Zwillingen Stephen und Timothy Quay an, kühnen Freischärlern, die zusammen mit dem erotomanen Revisionisten Bill Plympton der Animation ungekannte Perspektiven eröffnet haben und aus deren Filmen eine tiefe Skepsis gegenüber Autoritäten und sozialen Machtverhältnissen spricht. Sie haben filmische Universen von je eigener, unverwechselbarer Gestalt geschaffen, sind dem großen Publikum aber weitgehend unbekannt. In deutsche Kinos sind ihre Filme kaum je gekommen; sie sind fast nur als allerdings exquisite DVD-Importe greifbar. Wer Subversion betreibt, bestehende Ordnungen infrage stellt oder gar verändern will, tut dies zunächst am besten im Verborgenen.

»Der fantastische Mr. Fox« (2009)

Mithin besitzt es unweigerlich einen Überraschungseffekt, Animationsfilme für Erwachsene zu sehen. Sie erscheinen als Regelbruch. Es wohnt ihnen ein Moment des Umstürzlerischen inne – als würden die Filmemacher ein Genre, eine Erzählform kapern. Dabei handelt es sich eigentlich um eine Rückeroberung. Es war keine unausweichliche Bestimmung des Trickfilms, nur für Kinder und Jugendliche produziert zu werden. Bereits in der Vorgeschichte des Kinos etablierten sich Formen der Animation, etwa Émile Reynauds »Optisches Theater«, die sich zunächst an Erwachsene richteten. Der Bühnenmagier Georges Méliès hatte anfangs das Theater- und Varietépublikum im Blick, das er mit Tricks verblüffen wollte; die Zeichentrickfilme seines Nachfolgers Émile Cohl behandeln mulmige Themen wie Rauschzustände. Während der Weltkriege gab das Militär animierte Propaganda- und Lehrfilme in Auftrag, die vor Geschlechtskrankheiten oder Tellerminen warnten. Die 20er Jahre waren in Europa eine heroische Epoche des animierten Experimentalfilms. Künstler wie Oskar Fischinger, Julius Pinschewer und Walter Ruttmann erprobten das Zusammenspiel von sich kontinuierlich verwandelnden abstrakten Formen mit Musik. Len Lye und Norman McLaren knüpften in England an ihre Farbspiele an und gaben dem Genre eine verstärkt choreographische Ausrichtung. Max Fleischer, der wackere Rivale Walt Disneys, fand mitunter zu einer durchaus anzüglichen Bildsprache. Und Disney selbst nutzte zuweilen die Animation, um sein Publikum über verfängliche Themen wie die Menstruation aufzuklären.

»Fritz the Cat« (1972)

Bis Anfang der 70er Jahre war die Animation für Erwachsene weitgehend eine Domäne des Kurzfilms. Ralph Bakshis Adaption der rüden »Fritz the Cat«-Comics von Robert Crumb brach nicht nur mit Tabus, sondern stellt in mehrfacher Hinsicht eine Pionierleistung dar. Die Bildsprache konnte rissiger, schmutziger, verstörender werden. Mit »Der phantastische Planet« von René Laloux und ­Roland Topor kündigt sich ein Zyklus von dystopischen Fantasy- und Science-Fiction-Filmen an – etwa »Die Welt in 10 Millionen Jahren« von Bakshi –, die sich in postapokalyptische Szenerien versenken. »Wenn der Wind weht« nach dem Comic von Raymond Briggs reagiert 1986 ganz unmittelbar auf den Schrecken nuklearer Bedrohung, in dem er ein Rentnerehepaar in der Zeit vor und nach einem Atomschlag begleitet. Es ist einer der traurigsten Animationsfilme überhaupt. Schonungslos führt er die Folgen des Fallouts auf die greisen Körper vor Augen. Im Original werden die zartfühlend ausgeführten Hauptfiguren von zwei Veteranen patriotischer Kriegsfilme gesprochen, Peggy Ashcroft und John Mills, was dem Film einen Boden bitterer Ironie einzieht. Besonders in Japan haben in der Folge düstere Visionen einer postatomaren Welt Konjunktur, darunter die Manga-Verfilmungen »Akira« und »Ghost in the Shell« sowie »Jin-Roh«, die kontrafaktische Geschichte eines Nachkriegsjapan, das nicht von den USA, sondern einer faschistischen Macht besiegt wurde.

Seit dem Welterfolg von Ari Folmans »Waltz with Bashir« ist der Animation im Dokumentarfilm eine ungeahnte Zuständigkeit zugewachsen. Als Mittel, auf die Bildernot des Genres zu reagieren, erhebt sie sich über die Realität, um diese umso beklemmender erscheinen zu lassen. Rithy Panh stellt in Das fehlende Bild die Geschichte seiner Familie unter der Terrorherrschaft der Roten Khmer mit Tonfiguren nach. Auch in sozialen Medien gepostete Zeugnisse des arabischen Frühlings sind fürs Kino animiert worden. In Marjane Satrapis »Autofiktion« »Persepolis« spiegelt sich die iranische Geschichte nach dem Sturz des Schahs.

»Waltz with Bashir« (2008)

Um seinen nächsten Film »The Congress«, eine Kombination aus Real- und Zeichentrickfilm, realisieren zu können, war Ari Folman auf Fördergelder und das zeichnerische Know-how eines runden Dutzends von Ländern angewiesen. Einzelne Elemente wurden in Deutschland, Belgien, Luxemburg, Polen, der Türkei und den Philippinen hergestellt und mussten zusammengefügt werden. Auf diese Weise wird das Risiko beim europäischen Animationsfilm geteilt. Die Finanzierung von Filmen für Erwachsene ist prekär, in der Regel fehlt ihr der Rückhalt eines großen Studios. Charlie Kaufman griff bei »Anomalisa« auf das Crowdfunding zurück. Sein Landsmann Bill Plympton ist meist auf einen Vorschuss seines französischen Verleihers angewiesen; die Brüder Quay arbeiten vornehmlich mit Partnern und Geldgebern aus England zusammen. Die lange britische Tradition der Animation für Erwachsene beruht ohnehin auf einer dezidierten Internationalität. Entscheidende Einflüsse hat sie durch Emigranten erhalten: durch den Neuseeländer Len Lye, dessen Stil sich an der Bilderwelt der Maori inspiriert, die deutsche Exilantin Lotte Reiniger, den gebürtigen Ungarn John Halas (der zusammen mit seiner Frau Joy Batchelor unter anderem George Orwells »Farm der Tiere« für das Kino adaptierte), den Kanadier George Dunning (»Yellow Submarine«) und den Amerikaner Terry Gilliam, der für die grotesken Eskapaden der Monty-Python-Truppe ins Reich der animierten Bilder verantwortlich ist.

Erstaunlicherweise sind weder Belgien noch Frankreich mit ihrer anspruchsvollen Comickultur entscheidende Impulsgeber für das anspruchsvolle, beziehungsreiche Animationskino Europas. Neben Großbritannien ist es vielmehr vor allem die Tschechoslowakei. Auch »Der phantastische Planet« entstand als Koproduktion mit dem Land, in dem eine lange vitale Animationstradition existiert. Jan Švankmajer unterzieht seit den 60er Jahren heimische Märchen und Volkssagen einer makabren Revision; an »Faust« und »Alice im Wunderland« hat er sich auch herangewagt. Nie wurde im Kasperletheater so rabiat und blutrünstig gekämpft wie bei ihm. Er bedient sich unterschiedlichster Techniken, ist fasziniert von der Mechanik alter Automaten, die auch einen erotischen Aspekt besitzt. Das Loch in der Wand ist ein zentrales Motiv seines Werks: Grenzen sind bei ihm auf verstörende Weise durchlässig, Körper vielfältigen Verletzungen ausgesetzt. Reale Objekte führen bei ihm ein anarchisches Eigenleben. Unbewegte Requisiten animiert er mittels Stopptricks und rasanter Montagen und lässt sie in surrealen Tableaus kollidieren.

»The Cabinet of Jan Svankmajer« (1984)

Die Brüder Quay erweisen dem tschechischen Meister in einem ihrer ersten Kurzfilme ihre Reverenz. Sie sind Archäologen der Wahrnehmung und legen sich Rechenschaft ab über die Bedingungen ihres Mediums. Ihre Filme entstehen in manueller Arbeit – zuweilen sieht man die Hand eines Bruders im Bild –, und widersprechen damit dem Anschein der mühelosen, unbegrenzten Verfügbarkeit der Mittel, den sich traditionelle Trickfilme gern geben. Bei den Quays erwachen Stecknadeln, Federn und Streichholzschachteln zum Leben; nur Puppen wirken beunruhigend blass. Menschen, Tiere, Insekten und Puppen sind für sie gleichberechtigte Akteure. Das Sounddesign ihrer Filme ist ungemein expressiv; die Musik spielt bei ihnen eine ebenso hintergründige, ironisierende Rolle wie bei Švankmajer. Indes ließ Karlheinz Stockhausen es sich nicht nehmen, einmal eine Partitur für die nostalgischen Modernisten zu komponieren.

Die Transformation ist das Grundprinzip von Bill Plymptons Kino. In seinen Filmen ist alles ist in Bewegung, im Fluss – in »Idiots and Angels«, wo sich ein Wasserstrahl in Rasiercreme und dann wieder zurück transformiert, um schließlich als Milch über Cornflakes ausgegossen zu werden, gar im Wortsinne. Er beginnt mit etwas Vertrautem und verwandelt es in etwas Ungekanntes. Eine kleinbürgerliche Musterexistenz entpuppt sich in »I Married a Strange Person!« als Alptraum; die vermeintliche Idylle birgt ungeahnte Schrecken, wenn sich der Rasen fürs Mähen rächt. Das Prinzip der Transformation übersetzt Plympton auch in ein Spiel mit den Genrekonventionen: »Hair High« fängt als Highschool-Romanze an und mündet in einen Geisterfilm. Sein Zeichenstift entwickelt eine kinetische, anarchische Energie, die sämtliche Ordnungen sprengt. Die Gags reiht er wie Perlen an einer Kette auf; erst beim zweiten Hinsehen entdeckt man, dass sie gezündete Dynamitstangen sind.

»Cheatin'« (2013)

Bei Plympton ist die Welt unablässig von Instabilität bedroht. Figuren und Objekte besitzen keine Integrität, auf die man sich verlassen könnte. Darin zeigt sich ein verquerer Optimismus. Denn im Durchdeklinieren der physischen Möglichkeiten steckt insgeheim ein sehr amerikanischer Glaube an die Flexibilität der Lebensentwürfe. Jeder hat die Chance, über sich hinauszuwachsen und ein anderer zu werden. Allerdings ist Plympton alles andere als ein Puritaner. Sein Erzählterrain ist die orgiastische Satire. Er glaubt an die befreiende Kraft des Sex. Jeder hat ein Anrecht darauf. Die Lust ist für ihn der schönste, faszinierendste Spezialeffekt. Die Verführungsszene zu Beginn von »I Married a Strange Person!« ist ein Kabinettstück seines Talents, Gesten und Requisiten erotisch aufzuladen. Die Lust der Jungvermählten ist ansteckend, bald macht das ganze Ambiente mit: Blumenvase, Glühbirne, Lampe und Schuhe verstrickt er in ein zusehends heftiges und ganz reueloses Liebesspiel. Später werden im Film sogar Panzer kopulieren; nicht einmal ungeschickt.

Einen entscheidenden, prägenden Auftrieb erhielt die Animation für Erwachsene in den späten 70er Jahren, als sich Ralph Bakshi bei der Produktion von »Der Herr der Ringe« auf eine verschollene Technik besann, die das Genre in eine unverhoffte Nähe zur Bildsprache des Realfilms brachte: die Rotoskopie. Das Verfahren, eine Szene zunächst mit Darstellern zu drehen und diese Aufnahmen dann überzeichnen zu lassen, wurde in den 1910er Jahren entdeckt. Schon Max Fleischer bediente sich ihrer; sie kam auch bei einigen Figuren in Disneys »Schneewittchen und die sieben Zwerge« zum Einsatz. Ihre Verwendung in »Der Herr der Ringe« war jedoch aufsehenerregend, zumal erstmals das Making-of eines Films eine breite Ausstrahlung in den Medien hatte. Bakshi und sein Chefanimator Craig Armstrong setzten das Verfahren vornehmlich in den Sequenzen ein, in denen die schwarzen Reiter und andere Truppen der bösen Mächte auftauchen. Ihre Physiognomie ist furchterregend, weil die Scheusale viel lebensechter wirken als die traditionell putzig gezeichneten Hauptfiguren. Die Schlachtenszenen besaßen eine im Animationsfilm beispiellose Blutrünstigkeit. In den USA war die erste Verfilmung der Tolkien-Saga ein denkwürdiger Misserfolg; in Europa und besonders Deutschland zog sie jedoch zahlreiche Zuschauer in den Bann.

»Waking Life« (2001)

In »Tron« wurde die Technik erneut eingesetzt, geriet dann jedoch wieder in Vergessenheit. Trotz aller Lebensnähe können bei diesem Verfahren Konturen, Farben und Lichteffekte auf irreal anmutende Weise vibrieren. Richard Linklater machte in »Waking Life« aus dieser Instabilität eine Tugend. Eigentlich ist sie sogar das Thema des Films, in dem die Figuren und Dekors wie bei hohem Seegang unablässig und scheinbar unkoordiniert bewegt werden. Die Realität droht in lauter Fragmente zu zerbrechen. Das Drehbuch folgt einem gleichsam gebändigten Traumgeschehen; die Dialoge kreisen um die Fragen nach Realität und Illusion; Identitäten stehen zur Disposition. Einige der Realfiguren kann man deutlich hinter der gezeichneten Maske erkennen: Julie Delpy und Ethan Hawke etwa oder eingangs Linklaters Tochter Lorelei. Linklater erzählt im Kern nichts anderes als in seinen vorangegangenen Filmen: Figuren philosophieren über den Gang der Welt, während sie durch Austin irren oder an einer Theke sitzen. Aber er tut es mit einem anderen Elan.

Auf diese Befreiungsgeste des erwachsenen Animationsfilms ließ er einige Jahre später seine Adaption von Philip K. Dicks Roman »A Scanner Darkly« folgen, in der sich die Realitäten ebenso verschieben wie im Vorgänger. Das Verfahren wirkt technisch ausgereifter, die Darsteller sind noch unzweifelhafter zu erkennen, die Mimik ihrer Doppelgänger wird ihrer Ausdrucksvielfalt noch stärker gerecht. Das Schillern ist weitgehend verschwunden; es hätte nicht gestört. Dennoch herrscht ein Vorbehalt gegenüber den Figuren, ihrer Wirklichkeit, der triftig zur Paranoia des Romans passt. Eine zweite Parallelität scheint auf: Ebenso wie der Animationsfilm schien die Science-Fiction stets ein Genre für Heranwachsende zu sein, das schon sehr großer Künstler bedarf, um geadelt zu werden.

Die Rotoskopie war bereit, nun auch komplexe psychologische Studien visuell zu beglaubigen. Sie konnte auf andere Genres angewandt werden. Das Meisterwerk, das diesen Anspruch auf Feinfühligkeit einlöst, stammt aus der Tschechischen Republik: »Alois Nebel«, Tomás Lunáks Verfilmung des grafischen Romans von Jaroslav Rudis/Jaromír 99. Die Geschichte eines verschlossenen Bahnwärters, der vor dem Hintergrund der Grenzöffnung von 1989 versucht, endlich der Geiselhaft eines Kindheitstraumas zu entkommen, unterhält noch intimere Beziehungen zur Wirklichkeit als seine Vorgänger. In Schwarz-Weiß gedreht, könnte man ihn in manchen Tableaus für einen Realfilm halten (tatsächlich sind einige Flächen, Wände, Böden und Decken aus den wirklichen Dekors nahtlos in der Animation aufgegangen). Zutiefst berührt ist man vom Ringen der Charaktere um Nähe und Gemeinschaft. Der Titelheld wirkt fast noch trauriger, als er es in einem Spielfilm gewesen wäre.

Diese Traurigkeit der Figur liegt aber nicht nur in ihr, sondern gehört auch dem Genre an. Auch Charlie Kaufman hat dies gespürt, als er »Anomalisa« drehte. Die Künstlichkeit weckt eine tiefe Melancholie, denn insgeheim spürt der Zuschauer stets, dass die Figuren nicht aus eigenem Antrieb handeln. Sie sind geschaffen, jemand anders führt den Zeichenstift, zieht die Fäden, hält sie in der Hand und bewegt sie. Ihnen bleibt keine Wahl. Selbst wenn sie das Antlitz von Erwachsenen tragen, erblicken wir in ihnen die Kinder wieder, die sie einmal waren.

Filmkritik zu »Anomalisa« (Start 21.1.)

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