10/2024

»Das lachende Ungeheuer« – Der Joker, vom Comic bis zum neuen Film: Mutationen eines Superschurken. Ein Essay von Georg Seeßlen +++ 

»Risky Business« – Er war der beste Freund von Captain America. Jetzt kommt Sebastian Stan mit »The Apprentice« als junger Donald Trump ins Kino +++ 

»Der Spuk ist nicht vorbei« Und man kann nicht oft genug erinnern: neuere Filme zum Faschismus und zur Schoah +++ 

Im Kino: Pedro Almodóvars The Room Next Door | Bertrand Bonellos The Beast | Joker: Folie à Deux | Memory | Dahomey +++

Streaming: Disclaimer | Rebel Ridge | Wolfs | Where's Wanda? | The Penguin +++

In diesem Heft

Tipp

In »Wolfs« versuchen George Clooney und Brad Pitt, an den scheinbar mühelosen Charme und Erfolg der »Ocean's«-Filme anzuknüpfen.
Ein Niederländer in Berlin: Die internationale Serienproduktion »This Is Gonna Be Great« verhandelt die Sorgen und Nöte heutiger Endzwanziger.
Im Vakuum der Macht: »The Penguin« spielt zwar im »Batman«-Universum, sucht aber eigentlich den Anschluss zu den »Sopranos«.

Thema

Den Joker werden wir einfach nicht los: über dreißig Jahre läuft seine Kinokarriere schon. Und er präsentiert sich in immer neuer Maske. Georg Seeßlen über die Mutationen eines Superschurken.

Meldung

Habt ihr uns vergessen? Das Filmfest Oldenburg richtete den Blick auf Myanmar: mit einem Tribute an den Regisseur Na Gyi und die Schauspielerin Paing Phyo Thu.

Filmkritik

Mit ihrem bewegenden Porträt über die iranische Poplegende Googoosh wirft die exiliranische Regisseurin Niloufar Taghizadeh einen bewegenden Blick zurück in die Zeit vor den Mullahs.
Bedrückendes, großartig gespieltes Liebesdrama um ein junges Paar, das glaubt, mit wechselnden Machtpositionen vor allem beim Sex Rollenklischees zu überwinden.
Zwischen Mensch und Tier müssen in einem Gestaltwandler-Internat Teenager ihre animalischen Instinkte kontrollieren lernen: Die erste Folge der Verfilmung der deutschen Fantasy-Bestseller-Reihe von Katja Brandis weist schöne Natur- und Tieraufnahmen auf, wirkt jedoch inszenatorisch noch etwas unbeholfen.
Beatrice Minger und Christoph Schaub gelingt eine elegante und in der Form sehr freie Auseinandersetzung mit der Designerin und Architektin Eileen Gray und ihrem bahnbrechenden Haus E.1027. Grays überlieferte Öffentlichkeitsscheu wird respektvoll beibehalten, was nicht leicht ist, wenn es trotzdem menscheln soll an der Riviera.
Alkoholismus, Vergewaltigung, Missbrauch, Traumata, familiäre Konflikte, Lebenslügen und Demenz: Michel Franco wirft einen neuen und originellen Blick auf regelmäßig abgespielte Themen-Hits des Kinos.
Ein 18-jähriger Soldat desertiert und hofft auf eine längst verlorene Normalität, doch als junger Israeli gibt es im Nahostkonflikt kein Entkommen. Gedreht vor dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023, wirkt der Film dringlicher denn je.
Kein Biopic, sondern ein Film, der eine Einladung in den Kopf des Choreographen John Cranko (Sam Riley) sein und mit seiner Seele auch die des Tanzes erfassen will. Dabei zielt Joachim A. Lang weniger auf naturalistische Wahrhaftigkeit als auf gelegentlich ein bisschen zu ausgeprägten Kunstwillen.
Andreas Dresen arbeitet die Geschichte der »Roten Kapelle« ganz aus der privaten Perspektive von Hilde Coppi (Liv Lisa Fries) auf und macht den Film zu einer universellen und berührenden Auseinandersetzung mit Diktatur und Widerstand.
Mit Schusswaffe und Elektromobil macht Thelma sich auf eigene Faust daran, die 10 000 Dollar zurückzuholen, um die sie beim »Enkeltrick« am Telefon betrogen wurde. Regiedebütant Josh Margolin macht dabei seine Titelheldin nicht nur zur ungewöhnlichsten Actionheldin des Jahres, sondern beschert der 94-jährigen June Squibb (oscarnominiert für »Nebraska«) auch ihre erste Hauptrolle überhaupt.
Märchenhafte Bestsellerverfilmung um Freundschaft, den Zauber von Büchern und das Glück des Lesens mit einem herausragenden Christoph Maria Herbst und einer ebensolchen Yuna Bennett, von dem erfahrenen Märchenverfilmer Ngo The Chau.
Eher assoziatives Geflecht denn konventionelle Narration über die Geschichte eines Ortes: Mit festem Blick auf Gegenwart und Zukunft gedenkt der Film der Gespenster des NS-Konzentrationslagers »Mittelbau Dora« im thüringischen Nordhausen.
Der Versuch, die klassische Nibelungensage noch einmal neu zu interpretieren und den bisherigen Antagonisten Hagen zur großen tragischen Figur zu machen, gelingt durch komplexe Personenzeichnung und durch Zurückhaltung bei den spektakulären Actionszenen. Bei der Einbindung der Fantasyelemente wirkt der Film ein wenig unentschlossen.
Das britische Regieduo Ian Bonhôte und Peter Ettedgui nähert sich Reeve mit huldvollem Respekt und der klassischen Mischung aus Archivmaterial und Talking Heads. Reeves filmisches Schaffen tritt dabei gegenüber seinem Unfall samt Querschnittslähmung als Narrativ deutlich in den Hintergrund. Doch gerade durch die Beteiligung seiner drei Kinder wird »Super/Man – The Christopher Reeve Story« zu einem bewegenden und nie banalen Film.
Spielfilm über die schwierige Beziehung des einflussreichen Künstlerpaares, der leider selten über das steife Nacherzählen vor aufwendiger Kulisse hinauskommt.
Offener Dokumentarfilm über die Geschichte einer Band, die sich immer wieder neu erfindet, um sich treu zu bleiben.
Viktor Kossakovsky bringt in seinem Essay-Film Steine zum Tanzen. Mit eindrucksvollen Drohnenflügen über verschiedenste Ruinen, Steinbrüche und Felslandschaften inspiriert er zum Nachdenken über die Materialität des Bauens und den Umgang des Menschen damit.
Pedro Almodóvars Venedig-Gewinner und erster englischsprachiger Langfilm ist ein intimes, nüchtern inszeniertes Zwei-Frauen-Kammerspiel, das seine Auseinandersetzung mit dem Alter und Sterben nahtlos fortsetzt.
Ein auf einer entlegenen Insel, auf der es nur Tiere gibt, gestrandeter Serviceroboter entdeckt, dass es ein anderes Leben gibt. Gelungener Animationsfilm, der auf ausgefeilte Charaktere setzt und das Hohelied von Solidarität und Zusammenarbeit singt.
Die französische Regisseurin Mati Diop findet in ihrem bei der Berlinale in diesem Jahr mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Essay-Film neue Bilder für den abstrakten Begriff der Restitution. Sie sprengt dabei nicht nur die dokumentarische Form, sondern auch eurozentrische Sehgewohnheiten, um den immensen Verlust von Geschichte, Identität und kulturellem Erbe in Benin nachvollziehbar zu machen.
Donald Trump (Sebastian Stan) erklettert die Karriereleiter, renoviert Skyscraper, wühlt sich in Politik und Schickeria und heiratet Model Ivana (Maria Bakalova). Als sein Meister fungiert Anwalt Roy Cohn (Jeremy Strong), dessen ambivalenter Charakter enorm erzählenswert ist. So funktioniert der Film von Ali Abbasi nicht nur als Persönlichkeitsanalyse, sondern als Beschreibung des Ultra-Kapitalismus, der die USA bis heute prägt.
Todd Phillips dekonstruiert im Sequel zu »Joker« den Comicmythos konsequent und inszeniert Arthur Fleck als öden Loser. Gewagt? – vielleicht; langweilig? – allemal.
Paul Raatz' Dokumentarfilm aus der Provinz Vorpommerns zeigt mit Geduld und Genauigkeit die Bedeutung von kollektivem Engagement für gelingendes Gemeindeleben.
Javier Espada, der Leiter des Buñuel-Zentrums in dessen Geburtsstadt Calanda, porträtiert den spanischen Regisseur mit adretter Gründlichkeit. Unverdrossen entwirrt er die Verschlingung von Motiven und Biografie. Der subversiven Kraft der Filme Buñuels nähert er sich mit einer Demut, in der zuweilen Spurenelemente eines eigenen inszenatorischen Temperaments aufblitzen.
Die britische Trickfilm-Komödie hat eine relevante Öko-Botschaft, ist aber etwas langatmig und setzt in den Animationen keine nennenswerten Akzente.
Ernst De Geers Regiedebüt über ein junges Paar, das sich bei der Entwicklung einer neuen Geschäftsidee entfremdet, kommt nicht so wirklich in Schwung.
In diesem tiefenscharfen Coming-of-Age-Drama werden mit der Annäherung zweier Austauschschülerinnen aus Deutschland und Frankreich mit leichter Hand eine Vielzahl politischer und psychischer Probleme zu einem anrührenden Stimmungsbild pubertärer Malaise verwoben.
Bertrand Bonello überfordert den Betrachter planvoll mit einer auf drei Zeit­ebenen spielenden, rätselreichen Erzählung über die Macht der Angst und der Liebe. Mit seinen faszinierenden Bildern entfaltet der Film trotzdem eine hypnotische Spannung.
Ein böses Katz-und-Maus-Spiel zwischen einer bemüht korrekten amerikanischen und einer englischen Familie. Auch im britisch gefärbten US-Remake des dänischen Thrillers zeigt sich, dass düstere Abgründe besonders interessant sind, wenn sie unter verführerisch-charmanter Fassade brodeln.
Die Prämisse scheint absurd: Ist die kleine Familie wirklich nur im Inneren ihrer Waldhütte oder an ein Seil geknotet vor dem weltbeherrschenden Bösen sicher? Oder ist die Mutter (Halle Berry) schlicht wahnsinnig? Alexandre Ajas Mischung aus Horror-, Survival- und psychologischem Thriller spielt recht spannend mit der Antwort.
Die von den Nerds argwöhnisch beäugte Geschichte ist eine Gothicromanze, wie sie im 19.-Jahrhundert-Buche steht, inklusive Rimbaud-Lektüre und Joy Division-Soundtrack. Und Skarsgård und Twigs spielen den tumben, gewalttätigen Plot nonchalant weg.
In Tim Burtons Wiederaufnahme seines »Beetlejuice«-Klassikers geht der Gruseltanz der Lebenden mit den Geistern der Toten in die zweite Runde. Das ist ein wildes, nostalgisches, handgemachtes Späßchen, das vor visuellen und motivischen Ideen nur so sprüht, aber als 105minütige Geisterbahnfahrt auch ein wenig ermüdet.

Film