72. Filmfestival von San Sebastián

Viel Blut und leise Töne
»Tardes de soledad« (2024). © Andergraun Films

»Tardes de soledad« (2024). © Andergraun Films

Zahlreiche Stars präsentierten sich beim 72. Internationalen Filmfestival von San Sebastián auf dem roten Teppich. Zumeist bestimmten leise und subtile Töne die diesjährige Ausgabe

Ganz nah kommt die Kamera dem Stierkämpfer in der Arena, der sich dem durch Banderillas verwundeten und aufgestachelten Tier entgegenstellt, es anfeuert und mit dem roten Tuch um sich herumlockt und in Bewegung hält. Der spanische Regisseur Albert Serra hat den Matador Andrés Roca Rey bei seinem blutigen Handwerk beobachtet. Er zeigt, wie Rey mit seinen expressiven Posen in der Arena tänzelt, bis er das Tier mit seinem Säbel ersticht. Es gibt keinen Off-Kommentar in »Tardes de soledad« (Einsame Nachmittage), auch keine Gespräche, die einzigen privaten Szenen zeigen Rey mit seinem Team im Tour-Bus (wo es aber auch nur um den Kampf geht) und beim Ankleiden, beim Reinzwängen in das hautenge Kostüm.

Für mitteleuropäische Augen ist der Dokumentarfilm, dessen Stilprinzipien die Konzentration auf seinen Protagonisten und die Wiederholung sind, mitunter schwer erträglich. Man muss aber seinem Regisseur konzedieren, dass er konsequent die Archaik der Rituale herausstellt und auch die Qual des Tieres zeigt. 

Die Jury des Filmfestivals von San Sebastián hat ihm dafür den Hauptpreis, die Goldene Muschel, zuerkannt. Ansonsten aber wurde der in diesem Jahr vielfältige und ansprechende Wettbewerb des Festivals, das neben Cannes, Venedig und Berlin zu den wichtigsten in Europa zählt, eher von den leisen, subtilen Tönen bestimmt. Laura Carreira stellt in ihrem »On Falling« (Beim Fallen) eine in Schottland arbeitende Portugiesin in den Mittelpunkt, die in einem Versandlager arbeitet und nicht so recht Anschluss findet. Carreira vermeidet Überdeutlichkeit, zeigt die Trostlosigkeit ihrer Arbeit zwischen den endlosen Regalen. Die Jury hat ihr für ihren langsam erzählten Film zu Recht den Regiepreis zugesprochen, ex aequo mit Pedro Martin-Calero, der mit dem episodisch erzählten Horrorfilm »El Llanto« (Das Weinen) brillierte. 

Der Tod war in diesem Jahr Thema einiger Filme. Altmeister Costa-Gavras lässt in seinem »Le dernier souffle« (Der letzte Atemzug) einen Palliativarzt und einen Philosophen darüber diskutieren, François Ozon taucht in »Quand vient l'automne« (Wenn der Herbst kommt) in das Leben einer älteren Frau, das durch den Tod ihrer Tochter erschüttert wird, und erhielt dafür den Preis für das beste Drehbuch. In dem herausragenden »Los destellos« (Das Funkeln) der Spanierin Pilar Palomero muss sich eine Frau mit dem Sterben ihres Ex-Mannes auseinandersetzen und zu ihm ein neues Verhältnis finden. Hauptdarstellerin Patricia López Arnaiz wurde für ihr Spiel zwischen Distanz und Zuneigung als beste Schauspielerin ausgezeichnet. 

Zwei Filme, die einen Preis verdient hätten, sind leider leer ausgegangen. Zum einen »Soy Nevenka« (Ich bin Nevenka), in dem Iciar Bollain nach einem wahren Fall im Jahr 2000 sehr differenziert zeigt, wie sich das Opfer der Übergriffe eines Provinzpolitikers wehrt. Und zum anderen der argentinische Beitrag »El hombre que amaba los platos voladores« (Der Mann, der UFOs liebte) von Diego Lerman über einen Fake-News produzierenden TV-Journalisten. Die Filmproduktion in Argentinien, darauf machte das Festival in einer Protestveranstaltung aufmerksam, ist in der Krise, durch die Sparbeschlüsse der rechten neoliberalen Regierung Milei. 

Selten zuvor konnte das Festival so viele Stars auf dem roten Teppich präsentieren wie in diesem Jahr. Andrew Garfield und Tilda Swinton begleiteten ihre Filme, Cate Blanchett, Javier Bardem und Pedro Amodóvar, dessen Karriere mit seinem ersten Film in San Sebastian begonnen hatte, wurden mit dem Donostia Award geehrt, der Auszeichnung des Festivals für ein Lebenswerk. Und Johnny Depp stellte im Wettbewerb seine zweite Regiearbeit »Modi« über 72 Stunden im Leben des Malers und Bildhauers Modigliani im Paris des Jahres 1916 vor. »Modi« reiht sich in die Phalanx der Filme ein, die das Paris des frühen 20. Jahrhunderts als einen Ort der Bohemiens und Ekstase beschreiben – und fügt den ausgetretenen Pfaden aber wenig Neues hinzu. Man fragt sich sowieso, wie bei den ganzen Exzessen und Räuschen überhaupt die Kunst entstehen konnte, die heute in den Museen hängt.

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