69. Filmfestival San Sebastián
Preis für die beste Regie: »As in Heaven« (2021)
Beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián überzeugten Filme, die von heranwachsenden jungen Frauen erzählten. Und der Hauptpreis ging, wie in Cannes und Venedig, an eine Regisseurin
Für die junge Irina ist die Familie wie ein Gefängnis. Sie lebt bei ihren Verwandten in der rumänischen Provinz, die dort ein abgeschieden gelegenes Hotel betreiben, träumt aber davon, in Bukarest zu studieren. Ihr Vater – die Eltern sind getrennt – befürwortet das, lebt aber in London – sein Wort hat wenig Gewicht. Für ihre Familie muss sie die Buchhaltung erledigen und ihrem Cousin Liviu bei Besorgungen helfen, denn der hat eine Schreib- und Leseschwäche. Gewalt bestimmt ihr Leben, ihr Cousin Liviu rastet in seiner Atemlosigkeit regelmäßig aus; als Irina sich auf einer Party zudröhnt, wird sie in ihrer Bewusstlosigkeit vergewaltigt.
Immer wieder wird in dem rumänischen Film Crai Nou/Blue Moon der Zusammenhalt dieser toxisch wirkenden Familie beschworen. Der Film ist das Debüt der Rumänin Alina Grigore, die bislang vor allem als Schauspielerin im rumänischen Film gearbeitet hat. Grigore folgt mit einer Handkamera ihrer Protagonistin, die ihren Platz im Leben noch nicht gefunden hat, der aber eins klar ist: dass sie dieser Familie entkommen muss. Für ihr Debüt hat Grigore den Hauptpreis des Internationalen Filmfestivals von San Sebastián, die Goldene Muschel, gewonnen, übrigens schon der zweite wichtige Preis für einen rumänischen Film bei einem großen Filmfestival in diesem Jahr nach dem Goldenen Bären für Radu Judes »Bad Luck Banging or Loony Porn« bei der Berlinale im März.
Die Jury würdigte damit auch einen thematischen Strang des Festivals, der von den Schicksalen heranwachsender junger Frauen erzählt, die sich mit ihren Familienstrukturen auseinandersetzen müssen, die gegen starre Verhältnisse rebellieren – oder sich fügen müssen. Wie Irina in »Blue Moon«, so wirkt auch Camila in dem argentinischen Beitrag Camila saldra esta noche/Camila Comes Out Tonight von Inés Barrionuevo eher verschlossen, vor allem ihrer Mutter gegenüber; sie muss sich in der Schule durchsetzen, vor allem gegenüber einem übergriffigen Jungen, erlebt in ihrer Liebe zu einer Mitschülerin eine tiefe Demütigung. Der Film beeindruckt durch seine Atmosphäre und ein sicher gezeichnetes Personengeflecht. Leider ging »Camila« bei der Preisverleihung leer aus.
Wie »Blue Moon« und »Camila Comes Out Tonight«, so bezieht auch der dritte Film dieses Strangs, Tea Lindeburgs Du som er i himlen/As in Heaven, seine Faszination aus der authentisch wirkenden Beschreibung der Lebenswirklichkeit seiner Hauptfigur. Die 14-jährige Lise lebt im Dänemark des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf dem Gut ihrer Eltern. Der Vater ist unterwegs, die Mutter steht kurz vor der Entbindung. Lise, die davon träumt, auf die Schule zu gehen, muss in dieser schicksalhaften Nacht auf ihre vielen Geschwister aufpassen, in einer Familie, die in der Hauptsache aus Frauen zu bestehen scheint. Eine feste Religiosität bestimmt das Leben in diesem Film, der auch die Magie einer vergangenen Welt heraufbeschwört. Man wird als Zuschauer:in förmlich hineingesogen in die Bilder dieses Films. Tea Lindeburg hat für ihr Debüt zu Recht den Preis für die beste Regie erhalten, die 16-jährige Hauptdarstellerin Flora Ofelia Hofmann Lindahl den Preis für die beste schauspielerische Leistung (ex aequo mit Jessica Chastain).
Das Festival von San Sebastián fand wie im letzten Jahr physisch statt, mit strengen Hygieneauflagen und einer 50-prozentigen Platzbelegung. Es sollte auch eine Feier des Kinos sein, mit vielen anwesenden Filmstars wie Johnny Depp, der einen Ehrenpreis des Festivals erhielt, und einer Retrospektive zum koreanischen Kino der 60er Jahre. Der internationale Wettbewerb zeigte sich äußerst ansprechend in diesem Jahr, man hätte auch noch viele andere Werke finden können, die einer Auszeichnung wert gewesen wären. Zum Beispiel den chinesischen Beitrag Ping Yuan shang de huo yan/Fire on the Plain von Zhang Ji, eine betörende Melange aus Liebesmelodram und Film noir. Oder Vous ne désirez que moi/I Want to Talk About Duras, in dem die Französin Claire Simon ein Interview rekonstruiert, das tatsächlich stattgefunden hat: zwischen Yann Andréa, dem langjährigen Lebensgefährten der Schriftstellerin und Filmemacherin Marguerite Duras, und der Journalistin Michèle Manceaux. Der Film, der von einer großen Liebe, aber auch von einer totalen Unterwerfung handelt, folgt einem klaren Strukturprinzip: Die Kamera schwenkt langsam zwischen den beiden hin und her und zwingt die Zuschauer:innen zur Konzentration auf das Gesagte. Ein minimalistischer und doch beeindruckender Film. Und mit zwei großartigen Schauspielern: Swann Arlaud und Emanuelle Devos.Vom Aufbegehren
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