Kritik zu Unendlicher Raum

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Paul Raatz' Dokumentarfilm begleitet ein Paar aus der Großstadt, das in die Provinz-Stadt Loitz zieht. Statt nur eine »Fish out of Water«-Geschichte zu erzählen, nimmt er das kollektive Engagement zur Belebung der Region in den Fokus

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»Zukunftsstadt Peenetal Loitz« steht in großen Lettern auf der Plane vor der Baustelle im Stadtzentrum der Stadt Loitz, wo Bagger beim Abriss alter Gemäuer Staub aufwirbeln. Ein »Generationen-Quartier« soll hier entstehen, heißt es, und der Verdacht liegt nah, dass es sich um einen Euphemismus für Altersheim handelt. Denn die fast 800 Jahre alte Landstadt südwestlich von Greifswald hat wie viele Orte der ehemaligen DDR-Provinz seit der Wende ein Drittel ihrer Einwohner verloren, ein weiteres Drittel sagen Prognosen bis zum Jahr 2030 voraus. »Loitz ist eine Stadt, die stirbt«, heißt die drastische Diagnose auf einer der ersten Texttafeln dieses Films. Auf der nächsten erfahren wir von dem Förderprojekt »Dein Jahr in Loitz«, das »zwei Menschen aus der Großstadt« in die Stadt holt, »damit sie einen leeren Raum mit Leben füllen«.

Das Subgenre »Fish out of Water« ist ein beliebtes Erzählmuster. Es passt gut auch auf Annika und Rolando aus Berlin (sie gelernte Kulturvermittlerin für Jugendliche, er kamerabasierter Geschichtenerzähler), die mit ihrer launigen Videopräsentation den Aufenthalt 2020/21 in dem zur Verfügung gestellten Reihenhaus im Stadtzen­trum mit einem Stipendium von 1 000 Euro erringen und antreten. Die Einstellung der beiden Großstädter ist (samt Rolandos Metropolenhintergrund Caracas und Mexiko-Stadt) angemessen szene-urban, das bei einem ersten Stadtrundgang vorgestellte kleinstädtische Neu-Umfeld dagegen ausgesprochen piefig: mit »Solarium« und »Bürobedarf-Schreibwaren-Spielwaren« neben dem Versicherungsbüro an der menschenleeren Hauptstraße und dem Kriegerdenkmal direkt neben der Bushaltestelle. Dazu ist das den beiden (neben einem »Willkommensbeutel«) bereitgestellte Domizil überhaupt erst nach größeren Sanierungsarbeiten bewohnbar. 

Naheliegender Stoff also für eine klischeesatte Komödie, wie sie auch im Dokumentarischen seit einiger Zeit populär ist. Doch schon nach zehn Minuten weitet sich der Blick des Films vom gesetzten Kontrastprogramm auf andere Schauplätze und Ebenen: zuerst zu jungen Menschen der Region, die in der aufgegebenen ehemaligen Stärkefabrik vor Ort ein Musikfestival hochziehen wollen. Dann zur Nachbarschaft des Städtchens, aus der erfreulich viele Menschen den Neuankömmlingen tatkräftig unterstützend zur Seite stehen – oder aus dem Leerstand selbst kreative Räume schaffen wie der Klangkünstler Peter Tucholski, der einen alten Tanzsaal mit sogenannten »Sacrophonen« und Tango zu neuem Leben erweckt. 

Auch die oft undurchschaubaren bürokratischen Hindernisse, die städtische Gremien den bürgerschaftlichen Initiativen immer wieder in den Weg legen, kommen zur Sprache. Politisch konkretisiert wird das nicht näher. Offensichtlich soll der Fokus auf dem Widerständigen der Gemeinschaften bleiben, die sich von solchen Hürden nicht unterkriegen lassen. So fällt das geplante Neolink-Festival zwar chemischen Altlasten zum Opfer. Doch Annika und Roland bleiben (jedenfalls erst mal) vor Ort. Und sie sind dabei nicht allein.

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