arte-Mediathek: »La Mesías«
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Auf dem Bildschirm in der Hotelbar läuft das Musikvideo einer katholischen Girlgroup, die in hochgeschlossenen Einheitskleidern und schiefem Sprechgesang die Gottesmutter anbeten, »Stella Maris«. Der Clip ist in den sozialen Medien zum viralen Hit geworden, nun berichtet auch das Fernsehen. Enric (Roger Casamajor), der als Kameraassistent gerade für Dreharbeiten in der Gegend ist und sein Feierabendbier trinkt, starrt gebannt auf den Bildschirm. Was für andere Gäste allenfalls Grund für belustigtes Kopfschütteln ist, triggert bei Enric ein tief sitzendes Trauma.
Damit holt Enric in seinem scheinbar geordneten Leben die eigene Vergangenheit ein, ausgerechnet an diesem Ort, dem sagenumwobenen Berg Montserrat, wo Hirten um 880 nach Christus eine schwarze Madonna gefunden haben, La Moreneta, und später Menschen Ufos gesichtet haben wollen. Montserrat heißt auch seine Mutter (Carmen Matchi), deren Einfluss er lange entflohen ist und die ihn doch nicht loslässt. Einst hatte sie als Sexarbeiterin versucht, für sich und ihre Kinder zu sorgen, verfiel den Drogen, bevor sie zur Radikalreligiösen wurde. Als Sektenführerin hielt sie ihre Kinder unter strenger Überwachung, psychische und körperliche Gewalt waren an der Tagesordnung, nur Enric und einer Schwester gelang die Flucht. In den Mädchen im Musikvideo erkennt er seine Halbgeschwister wieder, die er damals im Stich gelassen hat.
In Rückblenden erzählt die spanische Miniserie »La Mesías – Die Auserwählte« dieses Aufwachsen und das langsame Aufbegehren, während Enric in der Gegenwart wieder Kontakt zu seiner entfremdeten Schwester Irene (Macarena García) aufnimmt, die sich wie er ein neues Leben aufgebaut hat. Mit ihr will er sich dem fanatischen Treiben der Mutter entgegensetzen. Wie frei ist man wirklich in seinem Leben als Erwachsener, in den Entscheidungen, der psychischen Verfasstheit, und wie sehr prägt das Vergangene die Gegenwart? Wann kippt das Bedürfnis nach Erlösung in den Wahn?
Das Regiepaar Javier Ambrossi und Javier Calvo, geboren 1984 und 1991, beruflich und privat liiert, wurden wegen ihrer queeren Serien wie der Comedy »Paquita Salas« über eine chaotische PR-Agentur und »Veneno« (2020) über die Trans-Ikone Cristina Ortiz Rodríguez zu Erben Pedro Almodóvars erklärt. Mit der Miniserie »La Mesías«, die 2023 auf dem Filmfest in San Sebastián uraufgeführt und seitdem mit zahlreichen Preisen, darunter sieben Feroz-Awards des spanischen Filmkritikverbands, ausgezeichnet wurde, gelingt ihnen ein wilder Ritt aus Tragikomödie, Thriller, Familienepos und campigem Alptraummärchen mit popkulturellen Referenzen. Die unterschiedlichen Genreperspektiven sind keine hohle Spielerei, sondern fügen sich in ihrer Gegensätzlichkeit zum erstaunlich reifen Gesamtkunstwerk, bei dem es auf allen Ebenen ambivalent schimmert. Bis hin zu den Figuren, die sich als widersprüchlicher erweisen, als es zunächst scheint.
OV-Trailer
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