Kritik zu Memory
Der mexikanische Regisseur Michel Franco wirft in seinem mit Peter Sarsgaard und Jessica Chastain prominent besetzten Demenzdrama einen neuen und originellen Blick auf regelmäßig abgespielte Themenhits des Kinos
Dieser Film hat es in sich: Alkoholismus, Vergewaltigung, Missbrauch, Traumata, familiäre Konflikte, Lebenslügen. Und Demenz. Der 1979 in Mexiko-Stadt geborene Michel Franco montiert die Themen, die jedes für sich bereits ein eigenes Filmgenre generiert haben, zu einem komplexen Gebilde. »Memory« – Buch und Regie: Franco – bedient dabei keines der häufig reproduzierten Klischees, erzählt stattdessen eine New Yorker Geschichte voll emotionaler Tiefe, zärtlicher Momente, märchenhafter Züge und leisen Humors.
Der Film beginnt mit einem Treffen bei den Anonymen Alkoholikern. Sylvia (Jessica Chastain) feiert in Gegenwart ihrer Tochter Anna (Brooke Timber) den 13. Jahrestag ihrer Abstinenz. Sylvia, die in einer Tageseinrichtung für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen arbeitet, erscheint abweisend und schroff, streng im Umgang mit der zwölfjährigen Tochter. Ihre Wohnung neben einem Autoreifen-Shop sichert sie mit Alarmanlage und mehreren Schlössern wie einen Schutzraum gegen eine feindliche Außenwelt. Nach einer Highschool-Jubiläumsparty verfolgt sie ein Mann auf dem Weg nach Hause wie ein bedrohlicher Schatten. Am nächsten Morgen liegt er durchgefroren vor ihrer Haustür. Saul (Peter Sarsgaard), stellt sich heraus, ist dement. Verbindet sie eine gemeinsame Vergangenheit, eine Situation, die für Sylvias aggressiv verteidigte Unzugänglichkeit mitverantwortlich ist? »You really don't remember me?«, fährt sie ihn mit inquisitorischer Intensität an. Erinnerst du dich wirklich nicht an mich? Der Film nimmt sich Zeit, seine dramaturgischen Versatzstücke zu einem Gesamtbild zu vereinen. Es ist spannend zu beobachten, wie ein Mann, der sich nicht erinnern kann, und eine Frau, die nicht vergessen kann, einander näherkommen.
Franco wollte ein Werk über Menschen schaffen, »die aus welchem Grund auch immer durchs Raster der Gesellschaft fallen«. Gerade ihr Außenseitertum könne ihnen einen Ausweg eröffnen, »um den Schatten der Vergangenheit zu entkommen« und ein neues Leben aufzubauen. Das klingt formelhaft. Der Film ist das genaue Gegenteil. Chastain und Sarsgaard verkörpern ein Paar, das zu Beginn in unterschiedlichen Welten eingekerkert ist: er als Opfer der fortschreitenden Krankheit, sie als Opfer verheerender kindlicher Erfahrungen und einer sie verzehrenden Wut. Yves Capes Kamera illustriert Sylvias Isolation aus der Distanz, als sie allein auf einem Baumstamm im Park sitzt, und aus der Nähe, wenn sie in der häuslichen Küche wirkt. Saul, der in einem wohlhabenden New Yorker Milieu zu Hause ist, erscheint immer wieder wie ein Verlorener, kommunikativ abgekoppelt. Chastain und Sarsgaard entwickeln ungeheuer nuanciert eine Paarbeziehung, in der Blicke mehr ausdrücken als Worte und ein Wechselspiel aus Annäherung und Abwehr in einem spontanen Kuss kulminiert.
»Memory« entfaltet seine visuelle und emotionale Kraft nicht in melodramatischen Close-ups und mit Betroffenheitspathos. Der Film hält immer Abstand zu den Figuren, selbst wenn während einer Familienzusammenkunft mit Sylvias Mutter (Jessica Harper) und Schwester (Merritt Wever) eine lange verdrängte Wahrheit ans Licht kommt. Das beobachtet die Kamera kühl, ohne der Dramatik des Augenblicks etwas von ihrer Wirkung zu nehmen.
Franco verzichtet nicht nur auf plakative Nahaufnahmen, sondern auch auf gefühlige Musikbegleitung. Dabei spielt die Musik eine wichtige Rolle in »Memory«. Der Song »A Whiter Shade of Pale« der englischen Band Procol Harum aus dem Jahr 1967 verbindet Saul mit seiner langsam in der Erinnerung verblassenden Biografie und der früh verstorbenen Ehefrau. Das Air aus Bachs Orchestersuite Nr. 3 in D-Dur entwickelt sich gleichermaßen zum musikalischen Leitmotiv einer – zögerlich aufblühenden – Liebe.
Es mag sein, dass »Memory« mit seinen bisweilen allzu glücklichen Zufällen einen unbarmherzigen Realitätscheck nicht bestehen würde. Franco verschmäht märchenhafte Motive nicht, aber er erzählt keine Märchen.
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