Faschismus und Schoah: Der Spuk ist nicht vorbei
»In Liebe, Eure Hilde« (2024). © Pandora Film / Frédéric Batier
»The Zone of Interest«, »Die Ermittlung«, Andreas Dresens Film über die »Rote Kapelle«, demnächst »Riefenstahl«: Es gibt aktuell eine erstaunlich vielfältige Reihe von Arbeiten, die an den Faschismus und die Schoah erinnern. Und sie kommen zur rechten Zeit. Ein Überblick
»Der Schatten des Kommandanten«
Um die zweite und dritte Generation von Tätern und Überlebenden, das Privileg des Verdrängens auf der einen und das traumatische Nicht-vergessen-Können auf der anderen Seite geht es im Dokumentarfilm »Der Schatten des Kommandanten«. Darin rollt Daniela Völker aus einer anderen Perspektive auf, was auch im Zentrum von »The Zone of Interest« steht: die Geschichte der Familie von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz. Für dessen Sohn Hans-Jürgen Höss, geboren 1937, war die Kindheit in der Villa »wirklich schön und idyllisch«, die Eltern waren »liebevoll«, von der systematischen Vernichtung von mehr als einer Million Menschen wenige Meter weiter will er nichts gewusst haben. Vor Völkers Kamera stellt er sich im hohen Alter erstmals zögerlich der eigenen Familiengeschichte. Auch auf Initiative seines Sohns Kai, Jahrgang 1962, Pastor einer Freikirche bei Stuttgart, der seinen Großvater »den größten Massenmörder aller Zeiten« nennt und sich der eigenen Verantwortung bewusst ist. Auf der anderen Seite der Mauer überlebte Anita Lasker-Wallfisch als Jüdin das KZ, weil sie als Cellistin im Orchester des Lagers spielte. Deren 1958 in London geborene Tochter Maya setzt sich intensiv mit der Schoah und dem Schicksal ihrer Familie auseinander, zieht schließlich nach Berlin, besucht erst mit den Höß-Nachfahren Auschwitz und arrangiert schließlich ein Treffen der beiden Männer mit ihrer Mutter. Völker begleitet diese Annäherung behutsam und klar in der Haltung, verbunden mit historischen Aufnahmen und Ausschnitten aus der Autobiografie, die Rudolf Höß in Gefangenschaft geschrieben hatte. Ein ebenso erhellendes wie erschütterndes Zeitdokument über die Gegenwart der Vergangenheit.
Thomas Abeltshauser
Daniela Völker, USA/ISR/POL/D/GB 2024. Lief in vereinzelten Kinos, bisher noch keine VoD-Termine.
»The Zone of Interest«
In der Rezeption wurde »Zone of Interest« bisweilen dafür kritisiert, die Banalität des Bösen ebenso banal zu reproduzieren. Dabei handelt der Film vielmehr von der – kalkulierten wie tragischen – Distanziertheit, dem Nicht-Sehen, der Abstumpfung und dem Desinteresse, das das Alltägliche beinahe zwangsläufig mit sich bringt und das, in anderer Form, auch die heutigen Reinigungskräfte im ehemaligen Lager erfasst. Gegen diese Gewöhnung arbeitet der Film.
Im Mittelpunkt steht die Familie von Rudolf Höß, Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, deren trautes Heim nur eine Mauer von den unvorstellbaren Schrecken der Gaskammern und Krematorien trennt. Die Big-Brother-Anordnung der Kameras und Mikrofone bei sehr freiem Schauspiel sowie die forensisch zusammengestellte Tonkulisse bilden einen widerlich-authentischen Digitallook, der nahegeht.
Der Film versucht, hinter die historische Erfahrung zu treten, uns den Moment der Tat nahezubringen, was zwar unmöglich ist, aber dennoch einige Erkenntnis birgt. Die ganze Dimension des eigenen Wegsehens wird dabei auch erfasst; welche Kriege, welche Leiden sind uns schon zur Alltäglichkeit geraten?
Tim Abele
Jonathan Glazer, USA/UK/P 2023. Stream bei Amazon und Videobuster, DVD: Leonine.
»Schattenstunde«
Spielfilme über die Zeit des Nationalsozialismus versuchen oft, ein irgendwie naturalistisches Bild jener Jahre zu zeichnen, mit einer Authentizität, die auch schiefgehen kann, wenn sie nur an der Oberfläche hängenbleibt, an den marschierenden Stiefeln und den Hakenkreuzfahnen in den Fenstern.
Der Regisseur und Drehbuchautor Benjamin Martins ist mit seinem ohne Fördergelder entstandenen Low-Budget-Film den mutigeren Weg gegangen: Er hat sich nicht nur auf die letzten Stunden des Schriftstellers Jochen Klepper und seiner Familie konzentriert, sondern sie expressiv und surreal in Szene gesetzt, in einem ungewöhnlichen quadratischen Bildformat, ohne jede Rücksicht auf realistische Genauigkeit. Aber immer mit Blick auf die auch heute wichtigen Themen Ausgrenzung und Selbstbestimmung.
Der christliche Schriftsteller Klepper, seine jüdische Frau und seine Stieftochter wählten vor der Deportation der beiden Frauen 1942 den Suizid. Bei einem Gespräch mit Adolf Eichmann, das historisch überliefert ist, hängen Puppen an der Wand und Fotografien fangen zu sprechen an – beredte Symbole auch der Selbstzweifel des Mannes. Und aus der sowieso nur spärlich eingerichteten Wohnung der Familie verschwinden immer mehr Gegenstände, wenn die Wände sich auf die Personen zuschieben, ihnen buchstäblich Stück für Stück die Freiheit nehmen.
Rudolf Worschech
Benjamin Martins, Deutschland 2021. Stream bei Amazon und Magenta TV, DVD: 375 Media.
»Ein verborgenes Leben«
Er plante kein Attentat, er verteilte keine Flugblätter, er führte keine Sabotageakte durch. Eigentlich hat Franz Jägerstätter nichts gemacht. Aber das tat er mit einer monolithischen Integrität, mit einer derart unerschütterlichen Überzeugung, dass sein Nichts-Tun in seiner Widerständigkeit herausragt – vor allem in einer Gesellschaft, in der fast alle eines taten: mitmachen.
Franz Jägerstätter, das historische Vorbild, geboren 1907 im österreichischen Bergdorf Radegund, verheiratet mit Franziska, Vater dreier Töchter, war ein einfacher Bauer. Aber sein Gewissen und sein christlicher Glaube verboten ihm zu töten. Jägerstätter, im Film als warmherziger Familienvater und stoischer Prinzipienmensch gespielt von August Diehl, verweigert den Kriegsdienst. Im Nazireich wurde das als Wehrkraftzersetzung gewertet und mit dem Tod bestraft.
Jägerstätter sucht im Film die Unterstützung der Kirche, in Person des Pfarrers Ferdinand Fürthauer (Tobias Moretti), doch der ist den Nazis nicht abgeneigt und versucht, Franz von der Sinnlosigkeit seiner Weigerung zu überzeugen. Mit der Zeit wendet sich die Stimmung im Dorf gegen Jägerstätter: Er wird beschimpft, seine Familie ausgegrenzt, die Töchter werden bespuckt. Doch Franz bleibt standhaft wie die Berge seiner Heimat, bleibt entschlossen, selbst im Angesicht des Todes: »Ich kann nicht tun, was ich für falsch halte.«
Terrence Malicks Film macht es dem Zuschauer nicht leicht, denn Jägerstätter hat etwas zu verlieren: seine Familie. Die Entscheidung, sein Leben für seine Prinzipien zu opfern, trifft er nicht im luftleeren Raum. Zugleich demonstriert er, wie Menschen zu Helden geworden sind, »die getreulich ein Leben im Verborgenen gelebt haben und in Gräbern ruhen, die niemand besucht«, wie es in einem Zitat im Abspann heißt, und dass der Widerstand auch aus »unhistorischen Taten« erwächst. So wie aus dem Nichts-Tun, dem Nicht-Kapitulieren, dem Nicht-Mitmachen des Franz Jägerstätter.
Michael Güthlein
Terrence Malick,USA/D 2019. Stream bei Amazon, Apple TV+ und weiteren. DVD: Pandora.
»Unrecht und Widerstand« / »Wankostättn«
Im Jahr 1979 fand die erste Gedenkkundgebung für die ermordeten Roma und Sinti im ehemaligen KZ Bergen-Belsen statt. Die französische Politikerin und jüdische Holocaust-Überlebende Simone Veil nahm teil und sagte in ihrer Rede, dass die Asche von Juden und Sinti und Roma von nun an nicht mehr zu trennen sei. Sie verknüpfte damit die Erfahrung der Schoah mit der des Porajmos, wie der Völkermord an den Sinti und Roma in der Sprache der Roma heißt.
Ungeachtet dieser solidarischen Geste ist der Porajmos medial nur vereinzelt präsent gewesen. Der erste Dokumentarfilm, der den Völkermord wie die nach 1945 fortlaufende soziale und rassistische Diskriminierung der Roma und Sinti behandelt, ist Peter Nestlers Unrecht und Widerstand. Nicht die Fülle an Archivmaterial oder eine spezielle Ästhetik sind besonders. Nestler und sein Kameramann Rainer Komers treten zurück, kultivieren eine Filmsprache des Ausredenlassens und schaffen so auch ein Porträt von Romani Rose, der als mitreißender und gebildeter Erzähler und Gesicht der Bürgerrechtsbewegung durch den Film und die Geschichte einer historischen Aufarbeitung führt.
Auch Karin Berger lässt dem Protagonisten in »Wankostättn« Raum, seine Erinnerungen zu entfalten. Das 16-mm-Material mit Karl Stojka entstand während des Dokumentarfilmdrehs über seine Schwester, seine Aufnahmen wurden damals nicht verwendet. Bis Berger Karls Stimme lange nach seinem Tod wieder Gehör verschaffte. Stojka, 1931 geboren, läuft im Film 1997 durch einen Wiener Häuserblock, die Wankostättn, vom 15. Jahrhundert bis 1941 Freigelände und Treffpunkt für Roma und Sinti aus ganz Österreich. Zum O-Ton seiner Schilderungen verschwinden die Betonbauten, wird das soziale Leben der Menschen in den 1930er Jahren lebendig: Die Wiese, die Wohnwagen, die Pferde, die Kinder – alles legt sich wie ein zweiter Film über unser inneres Auge. Eine spiralartige Erzählweise, die biografisches Erinnern oft begleitet. In der klaffenden Abwesenheit dessen, was Stojka hier beschreibt, manifestiert sich die ganze Tragödie des Porajmos. Stojkas Kindheit endet an dem Tag, an dem er mit seinem Bruder zur Wankostättn kommt und alle Menschen, darunter seine Großeltern, plötzlich verschwunden sind, deportiert nach Auschwitz. Immer wieder hat er diesen Ort besucht, an dem nichts erinnern könnte außer ihm. »Wenn ich dann wieder hier weggeh', dann bin ich ganz leer.«
Maxi Braun
Peter Nestler, D 2022, bis 3.11. in der 3sat Mediathek.
Karin Berger, Aut 2023, bei vodclub.online.
»Die Wannseekonferenz«
Das heute als Wannseekonferenz bezeichnete Treffen fünfzehn leitender Vertreter von SS, NSDAP und staatlicher Verwaltung am 20. Januar 1942 diente zur Koordinierung der – praktisch schon angelaufenen – Vernichtung der europäischen Juden. Dramaturgisch perfekt in der Einheit von Zeit und Ort war die vormittägliche Zusammenkunft im idyllisch gelegenen Gästehaus der Sicherheitspolizei ein dankbares Sujet für spätere mediale und filmische Verdichtungen der komplexen bürokratischen Verfahren zur »Endlösung«. So wurde das Treffen seit einem ARD-Film 1984 (Regie: Heinz Schirk) schon drei Mal unter gleichem Namen als griffige Doku-Fiction verfilmt, darunter 2001 von BBC und HBO mit Kenneth Branagh in der Rolle von Reinhard Heydrich als einladendem Leiter des NS-Reichssicherheitshauptamts.
Stoffliche Grundlage war die (als Kopie im Netz verfügbare) Abschrift eines offiziellen Protokolls – auch bei der durch den 80. Jahrestag der Konferenz angestoßenen aktuellen dritten Verfilmung 2022 für das ZDF in Regie von Matti Geschonneck, zu der wie 1984 der im Juli verstorbene Paul Mommertz das Drehbuch schrieb. Dabei suggerieren die dokumentarische Grundlage und das in Szenenbild und Details historisch penible Setting (u. a. wurde in der Originalvilla gedreht) allerdings –
genreüblich – eine faktische Authentizität, die das mit oft fast arabesken Dialogen freigiebig ausgestattete Buch nicht einlösen kann. Hier wäre eine nüchterne Inszenierung mit distanzierenden Elementen historischer Erkenntnis sicherlich dienlicher gewesen.
Silvia Hallensleben
Noch bis 18.11. in der ZDF Mediathek
»Jojo Rabbit«
Mit respektlosem Humor hat Taika Waititi schon Vampire und Superhelden aufgemischt, mit ähnlich anarchistischer Attitüde nähert er sich in »Jojo Rabbit« der Zeit des Nationalsozialismus: Der zehnjährige Titelheld lebt in den letzten Monaten des »Dritten Reiches« in einer deutschen Kleinstadt und will einfach nur dazugehören – gar nicht so leicht für einen, der es beim Hitlerjugend-Feriencamp nicht mal übers Herz bringt, auf einen Hasen zu schießen. Glücklicherweise hat er einen imaginären väterlichen Freund namens Adolf Hitler, den Taika Waititi als Halbmaori mit jüdischen Wurzeln mit subversiver Lust zwischen Understatement und Knallcharge oszillieren lässt. Die Wende kommt mit der erschreckenden Entdeckung, dass hinter einer Wand von Jojos Zuhause ein jüdisches Mädchen lebt, das seine Mutter dort versteckt hat. Jojos erster Impuls als aufrechter Nazi ist, sie anzuzeigen, doch dann treten der imaginäre Freund und die reale Freundin in einen Wettstreit um die Seele von Jojo. Die leise, nachdenkliche und warmherzige Coming-of-Age-Geschichte über einen verwirrten kleinen Jungen, der durch die zartromantisch gefärbte Freundschaft zum sechzehnjährigen jüdischen Mädchen Elsa herausfindet, wer in seiner Welt die wahren Monster sind, hält eine schwindelerregende Balance zwischen schrillem Klamauk und zarter Wahrhaftigkeit.
Anke Sterneborg
Taika Waititi, USA/D 2018. Stream bei Amazon und Disney+, DVD: 20th Cent. Fox.
»Jeder schreibt für sich allein«
Dominik Grafs Dokumentarfilm über Schriftsteller*innen, die unter den Nazis in Deutschland blieben, ist ein fast drei Stunden langer Strom von Geschichte und Geschichten. Inspiriert vom gleichnamigen Buch von Anatol Regnier, begibt sich Graf mit dem Autor auf eine Spurensuche, vom Literaturarchiv Marbach bis in ein kleines Hotelzimmer in Sanary-sur-Mer, in dem Klaus Mann auf seinem Weg ins Exil unterkam. Mit dessen Geschichte ist Regnier, Jahrgang 1945, persönlich verbunden: Seine Mutter Pamela Wedekind war mit Klaus Mann verlobt, seine Großmutter Tilly wiederum hatte eine lange Liebesbeziehung mit Gottfried Benn. Dessen anfängliche Anbiederung an das Regime, gefolgt von Ernüchterung und Rückzug ins Private, ist paradigmatisch für lauter seltsam gewundene bis gebrochene Lebensläufe in der NS-Zeit. In der Wolle gefärbte Nazis wie Will Vesper oder konsequente Regimegegner wie der tragische Jochen Klepper waren wenige. Autoren wie Erich Kästner, Hans Fallada oder Ina Seidel waren wohl weder Helden noch Schufte – sie wurschtelten sich irgendwie durch. »Jeder schreibt für sich allein« ist ein enorm facettenreicher Film und wichtig, weil er uns eindrucksvoll daran erinnert, dass Geschichte voller moralischer Grauzonen ist. Sogar dann, wenn es um die NS-Zeit geht.
Patrick Seyboth
Dominik Graf, D 2023. Stream bei Amazon und Apple TV+, DVD: Goodmovies.
»Zustand und Gelände«
»Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein«: Im Licht dieses Satzes von Walter Benjamin hat sich die Dokumentarfilmerin Ute Adamczewski auf Spurensuche in Sachsen begeben. Dort, wo die Arbeiterbewegung gut organisiert, die NSDAP aber auch besonders stark war, haben die Nazis im Frühjahr 1933, die Tinte auf der »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« war kaum trocken, ihr Vernichtungswerk begonnen. 200 000 politische Gegner, Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden, auch Zeugen Jehovas, wurden in sogenannten wilden Lagern inhaftiert, zur Arbeit gezwungen, gefoltert, ermordet. Alles unter den Augen der Bevölkerung, in Zusammenarbeit mit Polizei, Kommunalverwaltungen, Gewerbevereinen, in Sporthallen, Jugendherbergen, Fabriken und Gaststätten.
Heute sieht man diesen Orten die Verbrechen nicht mehr an. Während die Kamera von Stefan Neuberger sanft durch Dörfer und Wälder streift, vorbei an umgewidmeten Bauten und Denkmälern, rekonstruiert der Film die Gewaltgeschichte dieser »Kulturlandschaft« in Auszügen aus behördlichen Briefwechseln, Zeitungsartikeln, Tagebüchern, die die Schauspielerin Katharina Meves aus dem Off einspricht. »Zustand und Gelände« belegt nicht nur, dass jeder »Volksdeutsche« gewusst haben muss, worauf das Regime hinauswollte. Der Film reflektiert auch die hilflose Vergangenheitsbewältigung in West und Ost und zeigt in klugen Text-Bild-Ton-Montagen, wie der Terror sich mit dem Harmlosen, der Faschismus mit dem Kitsch verbündet. Am Ende ist es, als wäre kein Stein auf dem anderen geblieben.
Sabine Horst
Ute Adamczewski, D 2019. Streaming und DVD: Absolut Medien.
»Elser – Er hätte die Welt verändert«
Er schaut sich das eine Weile an, den zunehmenden Verlust von Freiheit, dann beschließt er: Einer muss was machen. Und weil sich sonst keiner findet, macht er dann halt. Sein Sprengstoffattentat auf Adolf Hitler am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller scheitert, weil Hitler 13 Minuten früher als geplant den Laden verlässt. Beim Versuch, sich abzusetzen, wird Johann Georg Elser – ein Schreiner aus einfachen Verhältnissen, 1903 im Württembergischen Hermaringen geboren – festgenommen. Bis zu seiner Erschießung im KZ Dachau kurz vor dessen Befreiung 1945 darf man sich sein Leben als Hölle vorstellen. Oliver Hirschbiegel, der zuvor schon in »Der Untergang« (2004) keine Hemmungen an den Tag legte, malt auch in »Elser« (2015) mit kräftigen Farben und groben Strichen, und so ist die Brutalität mitunter kaum auszuhalten. Doch ebenso wie in Hirschbiegels Schilderung der letzten Tage im Führerbunker sind es auch in dieser mit konventionellen Mitteln in Szene gesetzten Geschichte eines gescheiterten Tyrannenmordes die Schauspieler:innen, die den Film vor dem Abgleiten in die Exploitation retten. Allen voran Christian Friedel, der in der Titelrolle einen vielgestaltigen Mann vor uns hinstellt, den Ideologien wenig kümmern, doch dessen moralischer Kompass nicht zittert. Sozusagen das Positiv, dem Friedel im vergangenen Jahr mit Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß in Jonathan Glazers »The Zone of Interest« das Negativ folgen ließ. Männer des zwanzigsten Jahrhunderts: aus unterschiedlichen Richtungen und mit verschiedener Konsequenz, geeint in Furcht und Schrecken.
Alexandra Seitz
Oliver Hirschbiegel, D 2015. Stream: Amazon, Netflix. DVD: Eurovideo.
»Die Ermittlung«
Angesichts von Steven Spielbergs »Schindlers Liste« hat Claude Lanzmann sich im März 1994 in aller Deutlichkeit gegen fiktionalisierte Annäherungen an den Holocaust ausgesprochen: „. . . und es ist meine tiefste Überzeugung, dass jede Darstellung verboten ist.“
Diesem Verdikt muss man sich nicht unbedingt anschließen. Wie jedes Bilderverbot fordert auch Lanzmanns Bann eben jene Übertretungen heraus, gegen die er sich so vehement wendet. Zugleich kann es aber auch eine Richtschnur sein: für eine andere Art der Darstellung des Zivilisationsbruchs, den Auschwitz markiert. Eine Darstellung wie in »Die Ermittlung«, RP Kahls Adaption des gleichnamigen Dokumentarstücks von Peter Weiss.
Kahl verwandelt den Text, ein poetisch verdichtetes Protokoll des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, in eine so präzise wie erschreckende Analyse der NS-Vernichtungsmaschinerie. Dafür braucht er nicht mehr als einen grauschwarzen Raum, ein bewundernswert konzentriert agierendes Ensemble und die nüchterne Sprache von Peter Weiss. Die Beschreibungen der Gräuel durch überlebende Zeugen, die zynischen Einwürfe des Verteidigers und die schamlosen Lügen der Angeklagten bilden das System Auschwitz nahezu lückenlos ab. So beweist »Die Ermittlung«, dass in der filmischen Aufarbeitung des Holocausts die Sprache mächtiger als alle Bilder sein kann.
Sascha Westphal
RP Kahl, D 2024. DVD: Erscheint am 31.1.2025 auf DVD.
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