Interview: Jan Georg Schütte über »Micha denkt groß«
Jan Georg Schütte (2024). © Thomas Leidig
Herr Schütte, wer Ihre Arbeitsweise nicht kennt, dürfte ziemlich überrascht gewesen sein, als er bei der Premiere während des Filmfests München hörte, dass »Micha denkt groß« in nur sechs Tagen gedreht wurde. Bei der von Ihnen entwickelten Methode der »Impro Comedy« entwickeln Sie zunächst die Biografien der Figuren. Wie geht es dann weiter?
Die Schauspieler bekommen diese Biografien und auf dieser Grundlage vertiefen wir sie, dann wird gedreht.
Ihr Regiedebüt gaben Sie 2006 mit »Swinger Club«. War das auch schon die erste Impro-Arbeit?
Ja.
Sie erinnern sich vermutlich auch noch daran, wie es dazu kam?
Oh ja. Das war eigentlich aus der Not geboren. Ich hatte damals als Schauspieler tatsächlich zu wenig zu tun. Ich war bis dahin am Theater gewesen, auch mit Erfolg, fing aber an, mich zu langweilen mit mir selber auf der Bühne. Ich dachte, ich müsse etwas Anderes machen und bin vom Theater weggegangen und wollte dann selber Drehbücher schreiben, denn die Drehbücher, die auf meinem Schreibtisch lagen, fand ich schwach. Dann kam ich darauf, dass ich selber gar nicht besser schreiben kann, daraus erwuchs die Idee, mit den Kollegen zusammen so eine Art Spielenachmittag zu veranstalten, damit die das Drehbuch schreiben, indem sie es improvisieren. So ist dieser erste kleine Dreh entstanden, das war auf einmal schon kein Drehbuch mehr, sondern ein Film.
Wie kam bei »Micha denkt groß« das Thema der Wasserknappheit mit den Figuren zusammen?
Zuerst war das Setting da, es war auch die Idee zuerst da, das kam über Charly Hübner, weil der bei sich zu Hause wirklich ein Wasserproblem hatte. Mein Ko-Autor und Ko-Regisseur Lars Jessen war sehr in dem Thema drin und meinte, daraus sollten wir einen Film machen.
Läuft das öfter so, dass Ihr Ko-Regisseur eher auf die thematische Seite fokussiert ist und Sie auf die Figuren und deren Darsteller?
Wenn ich jetzt mit Lars Jessen zusammenarbeite, ist das tatsächlich eher so. Wir haben vorher ja schon den Film »Für immer Sommer 90« zusammen gemacht, ebenfalls nach einer Idee von Charly Hübner. Der entstand während Corona, da setzten wir uns zu dritt zusammen.
Bei Ihrer Fernsehserie »Kranitz« haben Sie mit einem anderen Ko-Regisseur zusammengearbeitet...
Bei Sebastian Schultz ist es so, dass wir von Anfang an gemeinsam arbeiten. Das Setting für »Kranitz« kam allerdings von mir, denn ich hatte das zuvor schon als Hörspielserie gemacht mit Wolfgang Seesko, das bei Radio Bremen extrem erfolgreich war.
Zum Kinostart von »Micha denkt groß« hat der Verleih Pandora im August eine ausgedehnte Kinotour organisiert, vor allem in den neuen Bundesländern, die in gut 20 Vorstellungen über 6000 Zuschauer erreichte...
Ich war bei vielen Terminen dabei. Wir sind sehr viel rumgefahren mit dem Film, das war auch ein großer Wunsch von uns, dass wir den Film als Vehikel benutzen wollten um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, insbesondere im Osten unseres Landes.
Gab es dabei unterschiedliche Reaktionen in Ost und West?
Ich hatte den Eindruck, die Gespräche (an denen ja teilweise auch Fachleute beteiligt waren) waren im Osten engagierter, im Sinne von: das betrifft uns mehr. Der Film erzählt ja nicht nur von der Wasserknappheit und vom Klimawandel, sondern auch von der Stimmung im Lande, wie wir miteinander reden oder eben nicht reden und wie wir uns auf die Köppe hauen. Wir waren dort ja vor den Landtagswahlen unterwegs, dabei haben wir gemerkt, dass die Leute das dort deutlich mehr beschäftigt als im Westen.
Sie haben für die einzelnen Figuren Biografien entwickelt, das ist ja Ihr Ausgangspunkt. Können Sie Beispiele nennen dafür, wo Figuren sich durch die Gespräche mit ihren Darstellern wesentlich verändert haben?
Ich würde nicht sagen »verändert«, sondern »ergänzt«. Eigentlich hat sich das bei allen ergänzt durch die Begegnung mit Menschen vor Ort. Mit Jonas, dem Schäfer, waren wir mit einem Schäfer unterwegs, sind dadurch noch mehr in die Sache eingestiegen und konnten so den Widerspruch, in dem er sich befindet, noch klarer herausarbeiten. Mit Jördis Triebel haben wir eine Masseurin getroffen, das hat ihre Figur noch mal in einer Richtung angereichert – dass sie noch kontroverser gegenüber Micha wurde.
Gibt es einen bestimmten Punkt, an dem Sie Ihre eigene Figur festlegen?
Diesmal stand von Anfang an fest, dass ich mitspielen wollte. Wenn ich so einen erfahrenen Ko-Regisseur wie Lars Jessen haben, dann kann ich die Regie auch zeitweise abgeben. Die Figur ist ja so etwas wie eine Mischung aus Reichsbürger und Björn Höcke, da ist alles drin. Uns war klar, dass der aus dem Westen kommt, dass wir nicht wieder die Saga bedienen, die Ossis sind alle die Verschwörer. Bei Verschwörungstheorien kann man natürlich sehr viel aus dem Internet holen.
Ihre Impro Comedy entstand aus der Praxis, es gab gar keine Beschäftigung mit Vorbildern? Man könnte ja an Mike Leigh denken, der die Filme auch in langer Vorbereitungszeit mit den Darstellern erarbeitet.
Das habe ich erst hinterher erfahren, ein Vorbild war eher John Cassavetes, der vor der Kamera improvisiert hat, lange vor digital, also mit Massen von Filmrollen. Bei Mike Leigh ist es ja so, der improvisiert vorher mit den Darstellern, zieht sich dann zurück und schreibt das Buch. Aber Cassavetes war der, der vor der Kamera improvisiert hat und das dann auch verwendet hat. Aber auch mit dem habe ich mich erst nach »Swinger Club« beschäftigt, am Anfang war das wirklich ohne Vorbild.
Gibt es heute, vielleicht auch in anderen Ländern, Personen, die ähnlich arbeiten? Konnten Sie Sich mit denen austauschen?
Ne, komischerweise nicht, jedenfalls nicht so extrem. Bei »Micha denkt groß« haben wir ja bloß mit sechs Kameras gearbeitet. Ich habe mich aber mal mit Kollegen getroffen, die auch improvisieren, etwa die von »jerks« oder »Die Discounter«, das war sehr nett, das finde ich auch toll, was die da machen. Aber dieses ganz Heftige, mit 50 Kameras, da weiß ich tatsächlich niemanden, der das sonst so macht – sonst würde ich mich gerne mit dem mal austauschen.
Wie habe ich mir das genau vorzustellen? Sie haben für jede Figur eine Biografie ausgearbeitet, dann sitzen Sie zusammen mit den Schauspielern und entwickeln die Geschichte?
Nein, wir sitzen nicht zusammen, wir spielen das sofort. Bei »Micha...« haben wir eine Woche gedreht. Das haben wir vorher alles besprochen und dann geht es am nächsten Tag los. Wir haben ja auch schon Szenen gehabt, wir wissen, da kommt Jenny an, da zeigt Micha den Leuten seine Präsentation. Und dann drehen wir. Wir sind vorher alle informiert, dann gibt es keine Probe oder so. Die Kameras werden aufgebaut, dann drehen wir das Ding durch, gucken das an, besprechen das ein bisschen und dann wiederholen wir es nochmal. Und meistens drehen wir es noch ein drittes Mal, das ist dann mehr das technische, wo wir mit den Kameras ganz nah reingehen und Details holen.
Mehr als drei Mal ist unwahrscheinlich?
Das schaffen wir auch gar nicht, weil wir den ganzen Neunzigminüter in sechs Tagen gedreht haben.
Hier haben Sie mit sechs Kameras gedreht...
Die Zweierszenen auch schon mal mit weniger...
Wie sind die Kameras dabei positioniert?
Möglichst so, dass sie sich möglichst wenig gegenseitig filmen! (Was immer mal wieder vorkommt). Und dann arbeiten wir natürlich mit verschiedenen Objektiven, es gibt Kameras, die die Aufgabe haben, nah heranzugehen.
Das heißt, Sie haben hinterher ziemlich viel Material?
Das hat man bei einem normalen Dreh aber auch, weil man da fünf oder zehn Takes dreht. Die Materialmenge bei »Micha...« war jetzt gar nicht so viel mehr als bei einem konventionellen Film.
Wie arbeiten Sie dann mit dem Material? Gibt es einen Editor, der eine Vorauswahl trifft? Sitzen Sie mit ihm zusammen? Schauen Sie alles gemeinsam an?
Also ich schaue alles durch, habe auch ein Schnittprogramm zu Hause, aber inzwischen habe ich zwei Editoren, denen ich sehr vertraue. Die lasse ich dann gerne den ersten Entwurf machen. Diesen ersten Schnitt sehen wir uns dann gemeinsam an. Der frische Blick der Editoren auf das gedrehte Material ist mir schon sehr wichtig.
Wie lange hat bei »Micha...« jetzt der Schnittprozess gedauert?
Circa drei Monate. Es ist schon ein Tick länger als bei einem normalen Film.
Haben Sie die zeitliche Möglichkeit, es dann noch einmal eine Weile liegen zu lassen oder ist das zeitlich sehr eng getaktet?
Es ist eng getaktet, aber manchmal liegen noch Schulferien oder so etwas dazwischen, die nehmen wir dann gerne mit, dann kann ich danach noch einmal draufgucken, das empfinde ich als großen Vorteil.
Kommt es denn auch vor, dass in der Abnahme durch den Sender gesagt wird, »das hätten wir gern anders«?
Oh ja, das kommt vor. »Micha...« wurde zunächst als Chaos empfunden, das habe ich in der Tat sehr oft gehabt. Die Rohschnittsichtungen von meinen ersten Filmen für das Fernsehen waren damals ein richtiger Albtraum, weil die Redaktionen diese Art von Material nicht kannten und nicht das Vertrauen hatten, dass sich daraus ein Film machen lässt. Bei »Altersglühen« und »Klassentreffen« gab es bei den Redakteuren lange Gesichter: Was soll denn der Scheiß? Wie sollen wir das jemals ausstrahlen?
Erst als es Preise hagelte, die Presse sich überschlug und die Leute sich das massenhaft angeschaut haben, hat sich doch irgendwann ein Vertrauen gefestigt. Bei »Micha...« waren viele Redakteure dabei, die diese Arbeit noch nicht erlebt hatten, der wird ja am Freitagabend ausgestrahlt, ein Sendetermin, für den ich noch nicht gearbeitet hatte. Ich bin ja sonst eher für die Mediathek unterwegs, da hat man Freiheiten und darf auch ein bisschen wilder sein. Der Freitagabend hat so seine eigenen Gesetze, zumindest was die Redakteure angeht. Da gab es zuerst gewisse Missverständnisse. Aber schon im freundschaftlichen Ton, das Vertrauen war da.
Wie habe ich mir das jetzt mit den fünfzig Kameras bei Ihren Serien wie »Das Begräbnis« oder »Das Fest der Liebe« vorzustellen?
Da haben wir ein riesiges Motiv, bei »Das Fest der Liebe« war es diese riesige Villa. Da ziehen wir noch extra Wände rein und dann ist im Grunde das ganze Haus wie eine Bühne, die die Schauspieler bespielen dürfen. Sie können sich frei im ganzen Haus bewegen und wo auch immer sie hinkommen, stehen dort Kameras und nehmen sie auf. Auch draußen stehen Kameras, die sie umtanzen, wir nennen das das Kameraballett. Das trainieren wir vorher mit den Kameraleuten, eine ganze Woche lang – die Schauspieler dagegen üben gar nicht. Die haben ihre Biografie, wenn sie ankommen, gehen rein und dann läuft es durch. Am ersten Drehtag wird einmal das gesamte Geschehen gefilmt, am zweiten Tag versuchen wir dann, die schlimmsten Fehler auszugleichen und Szenen nachzudrehen, die wir in der Nacht gesichtet haben und die wir uns etwas anders vorgestellt hatten. Aber im Grunde gilt der erste Tag, 90% dessen, was später drin ist, ist in diesem einen Take drin.
Im Sommer haben Sie »Die Hochzeit« gedreht. Wird das die diesjährige Weihnachtsserie als Fortsetzung der letztjährigen »Das Fest der Liebe«?
Nein, da sind wir noch im Schnitt.
In einem Interview haben Sie gesagt, »Das Fest der Liebe« sei schwieriger gewesen, weil sie die großen Konflikte alle schon in »Das Begräbnis« drin hatten.
Das stimmt, aber im Schnitt haben wir glücklicherweise gemerkt, dass es ein paar neue Konflikte gab, die eigentlich großen Spaß machten. So ist die Serie ganz anders geworden als »Das Begräbnis«, sehr unterhaltsam, ich bin damit inzwischen zufrieden.
Bei »Das Fest der Liebe« hatten Sie wiederum Darsteller zum ersten Mal dabei, Oliver Wnuk und Nicole Heesters. Ist das für die dann schwieriger mit jenen zu arbeiten, die bereits mehrfach in Ihren Impro Comedies mitgewirkt haben?
Genau das ist das Gute: Wenn das Leute sind, die in ihrem Handwerk schon sehr sicher sind, dann Lust haben, dieses Handwerk mal hinter sich zu lassen und etwas Neues auszuprobieren. So wie es mir selber ging, dass ich mich auf der Bühne gelangweilt habe, weil ich dieselben alten Tricks abgezogen habe, so geht es auch dem einen oder anderen altgedienten Schauspieler. Die freuen sich auf eine neue Herausforderung.
Sie hatten noch nie das Problem, dass Sie einen Schauspieler ersetzen mussten, weil er es mit der Impro nicht hinbekommen hat?
Das geht dann nicht. Aber ich hatte schon mal den einen oder anderen, wo ich jetzt merke: der ist überfordert. Das kann man halt vorher nicht ausprobieren. Der Moment, wo fünfzig Kameras laufen, da werden alle etwas weich in den Knien. Ich hatte einmal einen, der seine Rolle komplett über Bord geschmissen hat, weil er etwas anderes gespielt hat. Das musste ich dann im Schnitt ausgleichen, in dem Fall musste ich ihn herausschneiden.
Was steht als Nächstes an?
Wir entwickeln gerade ein großes Essen, eine große Feier, wo wir nochmal versuchen wollen – das führt einen Schritt zurück zu »Altersglühen« – ein festeres Setting zu haben. Es soll aber ein großes und sehr prominentes Essen werden. Da arbeite ich mit meinem Ko-Autor Sebastian Schultz an dem Pitch, mit dem ich dann das Ensemble ins Boot holen kann.
Die Geschichte der Familien ist mit »Die Hochzeit« auserzählt?
Im Moment denke ich, es ist genug, aber ich schwanke noch.
Dürfen sich denn die »Kranitz«-Fans auf eine dritte Staffel freuen?
Das würde ich wahnsinnig gerne machen, aber das wird vorerst nicht passieren. Das bedaure ich extrem, denn ich hatte schon eine dritte Staffel entwickelt, die, glaube ich, ganz toll gewesen wäre.
Dann vielleicht bei einem Streamer? Oder bleiben Sie der ARD treu?
Das würde ich natürlich auch mit einem Streamer machen, auch wenn ich nach wie vor sehr gerne mit der ARD Mediathek arbeite.
»Micha denkt groß« wird am Freitag, den 1.11. um 20.15 Uhr in der ARD ausgestrahlt und ist in der ARD Mediathek bereits ab 30.10. verfügbar.
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