01/2024

»Die Welt ist ein absurder Ort« – Von der Initiierung der neuen griechischen Welle bis zur oscarverdächtigen Groteske »Poor Things« hat sich Yorgos Lanthimos seine kinematografische Exzentrik bewahrt, findet Jens Balkenborg +++ 

»Chick Flicks? Sehen jetzt ganz anders aus« – Nachdem Hollywood junge Frauen im Coming of Age jahrzehntelang mit RomComs abgespeist hat, sieht Maxi Braun in aktuellen Filmen wie »How to Have Sex« eine selten dagewesene Komplexität von Figuren und Geschichten aus weiblicher Perspektive +++ 

»Schon spezieller« – Der romantische Liebhaber gehört glücklicherweise nicht zum Repertoire von Barry Keoghan. In Emerald Fennells »Saltburn« spielt der irische Charakterkopf jetzt endlich eine Hauptrolle +++ 

Filme des Monats: 15 Jahre | The Holdovers | Lola | Eine Frage der Würde | Priscilla | Joan Baez – I Am a Noise | Stella. Ein Leben. +++

In diesem Heft

Tipp

Rotterdam, 25.1.–4.2. – Das größte Filmfestival der Niederlande, mit dem charakteristischen Tigerkopf als Maskottchen, ist durch seine Programmausrichtung auf den internationalen Nachwuchs und experimentellere Filme auch europaweit bedeutend. Die 53. Ausgabe eröffnet mit der Weltpremiere des Post-Punk-Coming-of-Age-Films »Head South« von Jonathan Ogilvie.
Bamberg, 22.–28.1. – Rund 100 Spiel-, Dokumentar-, Animations- und Experimentalkurzfilme werden in Bamberg gezeigt, sieben Zentauren aus Schokolade als Preise verliehen. Die Online-Ausgabe schließt vom 29. Januar bis zum 4. Februar an das Präsenzfestival an.
Saarbrücken, 22.– 28.1. – Unkonventionelle Filme von Nachwuchsfilmemacher:innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz stehen in Saarbrücken traditionell im Mittelpunkt. Rund 130 deutschsprachige Filme werden in vier Wettbewerben gezeigt, hinzu kommen Nebenreihen und Sonderprogramme. 18 Preise werden verliehen.
Solothurn, 17.– 24.1. – Das Festival im gleichnamigen Kanton in der deutschsprachigen Schweiz widmet sich seit fast 60 Jahren allen Facetten des Schweizer Filmschaffens. Die Sektion »Rencontre« würdigt in diesem Jahr erstmals mit einer Retrospektive den Animationsfilm, der Fokus stellt die Entwicklung des Schauspiels innerhalb der hypermediatisierten Gesellschaft in den Mittelpunkt.
Stuttgart, 17.–23.1. – Wie der Titelzusatz »Festival for Expanded Media« verrät, hat sich der Stuttgarter Filmwinter der Medienkunst an der Schnittstelle von künstlerischem (Experimental-)Film, Installation und Musikvideo verschrieben. Das aktuelle Festivalmotto »Be water, my friend« stellt das Element Wasser als Denkfigur in den Mittelpunkt.
Stuttgart, 16.– 21.1. – Mit deutschen und internationalen Filmen für Kinder zwischen 4 und 12 Jahren leistet das Festival einen Beitrag zur Filmbildung »im Ländle«. Kino als Erlebnisraum spielt dabei eine wichtige Rolle, begleitet von einem medienpädagogischen Rahmenprogramm und kreativen Mitmachaktionen. Das Motto der diesjährigen Ausgabe lautet »Was uns bewegt«.
Köln, 11./ 12.1. – Das diesjährige Symposium der Kölner Dokumentarfilminitiative (dfi) verhandelt unter dem Titel »PROZESSIEREN. Zwischen dokumentarischen und juristischen Verfahren« das Verhältnis von Justiz und Dokumentarfilm. Gemeinsame Filmsichtungen und anschließende Gespräche, Vorträge und Podiumsdiskussionen werden durch film- und medienwissenschaftliche Perspektiven, immer im Dialog mit dem Publikum, ergänzt.
Der verdiente Serienschöpfer Stephen Merchant verwebt in der BBC-Serie »The Outlaws« souverän Tragikomödie, Drama und Krimi zu einem weiteren Glanzstück.
In der opulent ausgestatteten Kostümserie »The Buccaneers« gehen fünf unternehmungslustige Amerikanerinnen auf Bräutigamschau ins alte Europa und kollidieren dekorativ mit britischer Etikette und gesellschaftlichen Rollenzwängen.
In »American Symphony« begleitet Matthew Heineman den Jazzmusiker Jon Batiste durch Höhe- und Tiefpunkte von Schaffen und Privatleben.
In »Enlightened«, der frühen Serie von Mike White (»White Lotus«) brilliert Laura Dern als gleichermaßen idealistische und selbstsüchtige Frau.
Ein Genre-Klassiker für die Gegenwart: Die ARD greift mit »Oderbruch« auf den Vampir-Mythos zurück.
Die flott inszenierte Apple-Produktion »Criminal Record« wirft differenzierte Blicke in den migrantischen Sub-Kosmos von London.
Hauptsache Bühne: Die uramerikanische Erfahrung eines Sommerlagers für Theater-Freaks: campy »Theater Camp«.
Im Industriedenkmal Völklinger Hütte unternimmt eine Ausstellung den Versuch einer Gesamtschau des deutschen Films.
Und los geht der Trip: »Fear and Loathing in Las Vegas« in 4K als Mediabook.
Am 7.1. spricht Maxi Braun im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit Regisseurin Anna Roller über ihren Film »Dead Girls Dancing«.
Der Mensch als Raubtier. Ein B-Picture mit Eskalationspotenzial: »Wolfkin« aus Luxemburg.
Catherine Corsini (Regie und Buch) und Naïla Guiguet (Buch) gelingt es, sehr viele Geschichten in einen einzigen Sommerurlaub zu packen, ohne sich selbst oder das Publikum damit zu überfordern.
Mit »Der lange Abschied« und »Kurze Begegnungen« erscheinen zwei lange unentdeckte Filme der ukra­inischen Regisseurin Kira Muratowa gemeinsam auf DVD und Blu-ray.
J.A. Bayona verfilmt die Schauergeschichte der in den Anden abgestürzten uruguayischen Rugbymannschaft mit großer, packender Sensibilität.
Emerald Fennel (»Promising Young Woman«) nimmt sich in »Saltburn« auf bitterbös-satirische Weise die britische Upper Class vor.
Jagdsaison in London: Der Bestsellerautor Michael Robotham liefert die Vorlage für die britische Neuverfilmung seines Romans »The Suspect«.

Thema

In den nuller Jahren war Yorgos Lanthimos Teil ­einer neuen Welle im griechischen Kino. Seit »The Favourite« ist er Anwärter auf die ganz ­großen Preise. Gebändigt hat ihn der Erfolg nicht, wie seine grelle Romanadaption »Poor Things« zeigt.
Nachdem Hollywood junge Frauen im Coming of Age jahrzehntelang mit RomComs abgespeist hat, sieht man in aktuellen Filmen wie »How to Have Sex« eine selten dagewesene Komplexität von Figuren und Geschichten aus weiblicher Perspektive.
Der romantische Liebhaber gehört nicht zu seinem Repertoire. Dafür strahlt Barry Keoghan von den Rändern ins Zentrum der Aufmerksamkeit und stiehlt großen Stars die Show. Seine ­Stärken liegen in komplexen Charakterporträts und seiner selten und unvermutet hervorblitzenden Schönheit.

Meldung

Sofia Coppola, 1971 als Tochter von Eleanor und Francis Ford Coppola geboren, stand Sofia schon als Kind und Jugendliche vor der Kamera, unter anderem als Mary Corleone in »Godfather III«.
Auf dem 18. Bundeskongress der Kommunalen Kinos wurden Zukunftsstrategien diskutiert.
Chris Kraus, 60, Regisseur und Autor, wurde bekannt mit »Scherbentanz«, der Adaption seines eigenen Romans. Es folgten der überwältigend erfolgreiche »Vier Minuten«, »Poll« und »Die Blumen von gestern«. Sein aktueller Film »15 Jahre« knüpft an »Vier Minuten« an.

Filmkritik

In Echtzeit ablaufender Thriller um eine hochschwangere Frau im Landhaus ihrer Schwiegereltern. Dort wird sie mit unheimlichen Geschehnissen konfrontiert, die sich als Teil eines Familienfluches erweisen. Die etwas schematische Konstruktion lässt den Bezug zur deutschen Kolonialgeschichte eher beliebig erscheinen.
Maite Alberdis Dokumentarfilm über den an Alzheimer erkrankten Augusto Góngora, der als TV-Journalist unermüdlich an die Verbrechen des Pinochet-Regimes erinnerte, fasziniert als Auseinandersetzung um individuellen und kollektiven Gedächtnisverlust.
Die hochemotionale und kunstvoll inszenierte Dokufiktion will die Traumata einer tunesischen Mutter und ihrer vier Töchter ergründen, die in den Generationen weitergegeben werden.
Die Geistergeschichte, die der italienische Animationsfilmspezialist Enzo D'Alò nach einer Vorlage von Roddy Doyle inszenierte, überzeugt dank vielschichtiger Frauenfiguren aus vier Generationen.
Das große Kino-Comeback der romantischen Komödie ist überfällig, und mit Sydney Sweeney und Glen Powell fährt Will Glucks Film zwei echte Shootingstars auf, die sich vor australischer Traumkulisse ordentlich kabbeln dürfen. Doch so unpassend der deutsche Titel für das Original »Anyone But You« erscheint, so unglaubwürdig sind die Figuren gezeichnet, und so dürftig gestrickt ist leider auch das Drehbuch.
Über zehn Jahre nach Mary Whartons gelungenem Film »Joan Baez. How Sweet the Sound« versucht eine neue Dokumentation Leben, Werk und Wirkung von Joan Baez zu umreißen und entwickelt sich, ohne dass es ausgesprochenes Ziel wäre, zu einem intimen Porträt einer zerrissenen Persönlichkeit.
In seinem mit kleinem Budget, aber überbordend wilder Fantasie kompilierten Debütfilm zettelt Andrew Legge ein irres, flirrendes Spiel mit Zeitreise-Science-Fiction und Geschichtsumdeutung an, mit Popkulturzitaten, Filmmaterialien und Found-Footage-Bildern.
Was sind die Folgen, wenn eine hochentwickelte Technik Zeugung, Schwangerschaft und Geburt outsourct? Der Film von Sophie Barthes beantwortet die Frage im Zeitlupenmodus. Die Dramatik bleibt trotz der engagierten Hauptdarsteller Chiwetel Ejiofor und Emilia Clarke blass.
Zwei kanadische Rucksacktouristinnen jobben als Barfrauen im australischen Outback. Dass das nicht gutgehen kann, lehrt nicht nur die Filmgeschichte. Nach ihrer Weinstein-Parabel »The Assistant« legt Kitty Green eine weitere spannungsvolle Betrachtung der Macht-Machinationen zwischen Männern und Frauen vor.
Die Beziehung eines Schauspielers und eines Schriftstellers kriselt. In Tableaus entwirft Fabian Stumm in seinem Debüt das Porträt des schwulen Künstlerpaars im Krisenmodus. Ein unterhaltsamer, sehr menschlicher Film in dem sich Leben und Kunst berühren und durchdringen.
Ein Bub, der seine Mutter verloren hat, bricht in eine fantastische Welt auf und erfährt einige Wahrheiten über das Dasein. Hayao Miyazaki, in Kürze 83, packt alles in diesen Film, was er noch sagen wollte. Zum Glück ergibt sich daraus keine wirre Rede, sondern ein assoziatives Narrativ über den Fortgang des Lebens im Angesicht des Todes. Sowie darüber, wie schön es wäre, würden wir die Zeit hienieden besser nutzen.
Yorgos Lanthimos' neuer Film ist sein bislang gefälligster: eine pittoresk-groteske Gothic-Novel-Parodie mit einer Kindfrau und viel Sex im Zentrum, die sich deshalb als Emanzipationsgeschichte ausgibt.
Die Liebesgeschichte zwischen einer Rechtsanwältin und ihrem Stiefsohn reißt die Fassade einer bürgerlichen Idylle ein. Mit zärtlicher Schaulust analysiert Catherine Breillat die Verwirrung der Gefühle zwischen den Generationen. Ihr mit Léa Drucker feinsinnig besetztes Remake des dänischen Films »Königin« mit Trine Dyrholm folgt dem Original verblüffend genau, weicht aber zwischen den Zeilen beherzt von ihm ab.
Die zeitgenössischen Umwelt- und Antikonsumproteste werden in dieser Sozialkomödie durch die Augen zweier hochverschuldeter Männer porträtiert, die sich den jungen Idealisten aus eigennützigen Motiven anschließen: eine fröhliche, unerwartet vielschichtige Sozialkomödie des Duos Nakache/Toledano über Gier, Konsum, Geld und Liebe.
Eine Frau schwimmt sich frei: Sahar Mosayebis Film erzählt die Geschichte der Iranerin Elham Asghari auf ästhetisch anspruchsvolle Weise. Handlung und Emotion übersetzt die Regisseurin in visuelle Poesie.
Vordergründig ist Alexander Paynes neues Werk ein anrührender Feiertagsfilm, der von einem großartigen Darstellertrio (Paul Giamatti, Da'Vine Joy Randolph und Newcomer Dominic Sessa) getragen wird. Aber unter seiner bittersüßen Sentimentalität schlummert eine extrem genau beobachtete Gesellschaftsanalyse, die genauso viel über die Vereinigten Staaten in den 1970ern erzählt wie über die heutigen politischen Verhältnisse.
Erzählerische Unbekümmertheit, visuelle Eleganz und drastische Gewaltausbrüche prägen diese wilde Geschichte vom Spuk auf einem Luxus-Ozeanriesen, der zur Touristenattraktion verkommen ist. Oder war die Queen Mary womöglich schon immer ein Geisterschiff? Ein Film für Leute, die es nicht so genau nehmen und ihre interpretatorischen Geistesblitze gern auch mal in die totale Finsternis hineinfeuern.
Grundsolide Sportkomödie um die kata­strophale Fußballnationalmannschaft von Amerikanisch-Samoa und ihren ruppigen Trainer (Michael Fassbender). Taika Waititi inszeniert »nach einer wahren Geschichte« Inselydill und Sportsgeist routiniert komisch, aber mit wenig Esprit und Substanz.
In seinem Sozialthriller fühlt sich der bulgarische Regisseur Stefan Komandarev (»Die Welt ist groß und Rettung lauert überall«) sorgsam in das Seelenleben einer verschlossenen Pensionärin ein, die nach dem Tod ihres Mannes zu allem bereit ist, um diesen würdevoll begraben zu können. Eli Skorcheva brilliert in der Rolle der strengen, stolzen Frau, die sich im Klima von Habgier und Gewalt selbst fremd wird.
Der Film über die kontroverse Biografie der während des Zweiten Weltkriegs als Denunziantin agierenden Jüdin Stella Goldschlag bietet kaum produktive Auseinandersetzung.
Einer Hochzeit von Amir und Narges steht nicht nur der hohe Brautpreis entgegen, sondern auch die Kluft zwischen den sozialen Schichten, denen sie entstammen. Amirs Versuch, Geld für die Auslösung seiner Geliebten zusammenzubekommen, lässt ihn schließlich ins kriminelle Milieu abdriften. Regisseur Behrooz Karamizades Film ist keine plakative Anklage der Zustände im heutigen Iran, vielmehr findet er unaufdringliche Bilder für die Perspektivlosigkeit der jungen Generation.
Äußerst gelungener Hybrid zwischen französischem Arthouse und Mutanten-Actionfilm. Menschen verwandeln sich in Tier-Mensch-Gestalten, auch anhand einer Vater-Sohn-Beziehung geht Thomas Cailley in Südfrankreich unserem nicht nur harmonischen Verhältnis zur Natur nach.
Sofia Coppolas Porträt der Frau im Schatten von Elvis Presley ist eine düster-schillernde Studie um Mädchenträume, Starkult und Ausbeutung. Priscillas Suche nach ihrem Platz in der Welt erzählt sie nicht als klassische Heldinnengeschichte, sondern mit Ambivalenzen und offenen Fragen.
Die Geschichte um die Machenschaften eines türkischen Agenten, der zunehmend paranoide Züge entwickelt, ist filmisch wie thematisch hochinteressant, wirkt durch die verschachtelte Erzählweise und das Spiel mit unterschiedlichen Blickwinkeln aber phasenweise etwas zu verkopft.
Ein sympathisch unaufgeregtes Frauen- und Familiendrama über eine alleinerziehende Mutter und ihre fünf Kinder, die allmählich flügge werden und dabei auch bei der Familienmanagerin den Wunsch nach einer beruflichen Neuorientierung anstoßen: ist der Nachwuchs etwas klischeehaft überzeichnet, so überzeugt Camille Cottin als hingebungsvolle Mutter und Ex-Schlagersängerin auf neuen Wegen.
Mit einem renommierten Ensemble erzählt Roman Polanski von einer Millenniums-Silvesterparty in einem Luxushotel in den Schweizer Alpen. Leider völlig uninspiriert und wenig originell.
Gut 18 Jahre nach »Vier Minuten« klinken sich Chris Kraus und Hannah Herzsprung noch einmal ins Leben der psychisch versehrten Klaviervirtuosin Jenny von Loeben ein. Nach all den Jahren Knast für einen Mord, den sie nicht begangen hat, ist sie noch immer eine tickende Zeitbombe, in einem vielschichtig starken Film, der zugleich Liebesgeschichte und Rachedrama, Musical und TV-Show-Satire und eine Geschichte über Migration und Integration sein will.
In seiner Verfilmung der realen Geschichte einer vom Schicksal Wrestling-Familie unterwandet Sean Durkin die Regeln des Sportdramas: Statt von hart erkämpften Triumphen erzählt er auf berührende Weise von Verlust, Trauer und Schmerz.
Das Prequel zu »Charlie und die Schokoladenfabrik« trifft nicht ganz den düsteren Ton Roald Dahls, überzeugt aber als zartbitterer Winterfilm mit liebenswerten Figuren und einer stilecht-nostalgischen Kulisse.

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