Netflix: »Die Schneegesellschaft«
Eine der einprägsamsten Details der Absturz- und Rettungsgeschichte von »Flug 571« ist der mit Papier und Stift umwickelte Stein, den der chilenische Maultierhirte Sergio Catalán über den Fluss warf, an dessen anderem Ufer Fernando Parrado und Roberto Canessa verzweifelt um Aufmerksamkeit winkten. Zehn Tage lang waren sie von der Unfallstelle hoch in den Bergen, wo sie und ihre Kameraden bereits 62 Tage ausgeharrt hatten, auf der Suche nach Rettung gewandert; sie waren am Ende ihrer Kräfte und Vorräte, das Wasser war zu laut, um sich zu verständigen, so dass Einfallskraft gefragt war. Den kleinen Brief, den Parrado dank Papier und Stift zurückwerfen konnte – und in dem er erklärte, wer sie sind und wie prekär die Lage sei –, beantwortete Catalán mit Brotstücken. Dann ritt er 80 Kilometer bis zur nächsten Polizeistation, die endlich die Helikopterrettung der 14 Überlebenden in den Bergen einleitete.
Cataláns Ritt spielt in J.A. Bayonas »Die Schneegesellschaft« keine Rolle, aber die Szene mit Stein, Stift und Papier, die gibt es. Der spanische Regisseur hat ein Gespür für die Dramatik, die in solchen Details liegt, und zugleich das Feingefühl, sie in gebotener Beiläufigkeit zu zeigen. Wie er überhaupt oft da, wo das Pathos wie zwangsläufig einsetzt, mit Lakonischem gegensteuert. Als Fernando (Agustín Pardella) und Roberto (Matías Recalt) sich entscheiden, weiter zu laufen, obwohl sie rund um sich nur verschneite Gipfel sehen, zeigt er den dritten Freund, der ihnen seine Vorräte übergeben hatte, damit sie länger durchhalten können, wie er auf einem improvisierten Schlitten in die Senke mit dem Flugzeugwrack zurücksaust. Fast denkt man, er genieße die Abfahrt.
Dabei ist die Geschichte von »Flug 571« eine der schauerlichsten ihrer Art: Die kleine Maschine, die am 12. Oktober 1972 in Montevideo startete, um eine uruguayische Rugbymannschaft mit Freunden nach Santiago de Chile zu bringen, stürzte inmitten der Anden ab. Von insgesamt 45 Insassen überlebten 28 den Unfall und die erste Nacht bei minus 30 Grad. Weitere acht starben zwei Wochen später in einer Lawine, die über das Wrack niederging. Die 72 Tage bis zur Rettung konnten die Übrigen nur überleben, weil sie vom Fleisch der Toten aßen.
Wie erzählt man das, ohne einen Horrorfilm daraus zu machen? Bayona bleibt bedacht auf Augenhöhe seiner Protagonisten und die Individualität ihrer Reaktionen. Einer von ihnen liefert die Erzählstimme, die in einem inneren Monolog einzelne Dinge festhält. Zum Beispiel, wie diskret die drei Jungs, die das Fleisch besorgen, damit umgehen; eine Diskretion, die der Film übernimmt. Ohne Sentimentalität oder Heldenverehrung zeigt er junge Männer, die auch im Angesicht des Schlimmsten manchmal noch Witze reißen, aber im nächsten Moment zu inbrünstigem Ernst wechseln können. Sie behandeln sich gegenseitig mit Respekt und Zuneigung. Ihre Rettung nach 72 Tagen, am 22. Dezember 1972, inszeniert Bayona als das Wunder, als das es ihnen erschienen sein muss, samt der zwiespältigen Gefühle, die eine Tortur wie die ihre hinterlassen muss.
»Die Schneegesellschaft« startet am 4. Januar bei Netflix und läuft am 21. Dezember in ausgewählten Kinos.
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