Female Gaze: Girlhood
»Barbie (2023). © Warner Bros. Pictures
»Barbie« hat gezeigt, dass man mit Filmen für weibliches Publikum richtig Kasse machen kann. Und Gerwigs Blockbuster markiert nur die Spitze eines Trends: Das Kino entdeckt Mädchen und junge Frauen als Zielgruppe wieder
»It is literally impossible to be a woman. [. . .] We have to always be extraordinary, but somehow we're always doing it wrong.« Mit dieser Aussage beginnt America Ferreras Monolog in »Barbie«. Sie zählt darin auf, wie schwierig und im Grunde unmöglich es ist, all die paradoxen Herausforderungen zu erfüllen, die an Frauen gestellt werden. Aber niemand – bis auf Barbie selbst – wird als Frau geboren. Die Gesellschaft mit ihren Normen und Rollenerwartungen beeinflusst das Selbst- und Fremdbild von Mädchen und Teenagern. Dass sie in ihrer Kindheit, Jugend und Pubertät zwangsläufig andere Erfahrungen machen als Jungen, interessierte das Kino allerdings jahrzehntelang nicht. Das ändert sich allmählich. Molly Manning Walkers »How to Have Sex« oder Catherine Corsinis neuer Film »Rückkehr nach Korsika«, der in Cannes lief und demnächst bei uns ins Kino kommt, sind dafür aktuelle Beispiele: Beide erzählen authentisch und mit komplexen Frauenfiguren im Mittelpunkt davon, wie es ist, als Mädchen oder junge Frau in dieser Welt zurechtzukommen.
Wie revolutionär das ist, zeigt ein Rückblick in die Genese des Genres, das diesen Lebensabschnitt in den Blick nimmt wie kein anderes: der Coming-of-Age-Film. Das aufgrund seiner schieren Reichweite Stereotype prägende und Diskurse bestimmende US-amerikanische Kino spielte dabei eine wichtige Rolle. Coming-of-Age als Genre lässt sich nicht genau definieren, weist Überschneidungen mit Komödie, Drama oder dem Horrorfilm auf. Es entstand in den frühen 1950er Jahren, als Hollywood eine bis dato unbekannte Zielgruppe für sich entdeckte: Teenager. Damit waren allerdings vor allem junge, weiße Männer an der Schwelle zum Erwachsenwerden gemeint. In frühen Meilensteinen wie »Der Wilde« mit Marlon Brando (1953), . . . »Denn sie wissen nicht, was sie tun« (der James Dean 1955 zum Ruhm katapultierte) oder »Sie küssten und sie schlugen ihn«, mit dem François Truffaut 1959 die Nouvelle Vague mitbegründete, sind adoleszente Männer Motor und Fluchtpunkt der Handlung.
Männliche Figuren und ihre Konflikte veränderten sich in den folgenden Jahrzehnten, wurden komplexer, sexuell aktiv und tummelten sich in verschiedenen soziokulturellen Milieus. Die Rolle der jungen Frau – so sie denn überhaupt vorkam – tangierte das nicht. In »Die Reifeprüfung« von 1967 ist Elaine nur das passive Love Interest von Benjamin Braddock, in »American Graffity« sorgen die Girlfriends der Männerclique für Stress. 1983 inszenierte Francis Ford Coppola mit »The Outsiders« oder »Rumble Fish« gleich zwei Filme rund um Bruderzwist und Gangrivalität, Frauen sind hier nur in Nebenrollen zu sehen.
Auch wenn die Cliquen in den 1980er und 1990er Jahren (»The Breakfeast Club«, »Dazed and Confused«, »Reality Bites«) geschlechtlich diverser wurden, standen Mädchen, junge Frauen und besonders das Erwachsenwerden aus ihrer Perspektive nie im Mittelpunkt.
Ihnen servierte das Kino die RomCom, die in den 1990ern boomte. »Pretty Woman«, »Schlaflos in Seattle«,»Die Hochzeit meines besten Freundes«, »Während du schliefst« oder »Notting Hill« sind die Filme der Dekade, die den weiblichen Publikumsgeschmack ansprechen oder das, was dafür gehalten wird. Auch die Sorgen und Nöte weiblicher Teenager im Coming-of-Age-Film – sei es in »La Boum« (1980) oder »My Girl« (1991) – drehten sich immer um die erste große Liebe. Die Figuren definierten sich über ihre Beziehung zu Jungen und Männern, die stets romantisch, aber nie sexuell war. Eine Ausnahme bildet Gillian Armstrongs Verfilmung von Louisa May Alcotts Roman »Little Women« von 1994. Die chargiert wie auch Greta Gerwigs Adaption 25 Jahre später zwischen Period Piece, Kostümfilm und Coming-of-Age und kann mit dem Setting im 19. Jahrhundert zwar eine Emanzipationsgeschichte, aber kein zeitgenössisches Porträt weiblichen Erwachsenwerdens sein.
In den 2000ern wurde es mit der »American Pie«-Reihe wieder jungs-lastiger. Frauen galten in den Coming-of-Age-Filmen um die Jahrtausendwende meist als schmückendes Beiwerk oder zu eroberndes Territorium. Im besten Fall durften sie wie in »Mean Girls«, der auf einem Drehbuch von »Saturday Night Live«-Star Tina Fey basiert und dessen Musical-Version 2024 in die Kinos kommt, den Horror des Highschool-Kastensystems regieren. Meist waren weibliche Geschichten vom Erwachsenwerden aber wie zuvor nur getarnte Liebesfilme. Die Persönlichkeitsentwicklung der Protagonistinnen in Filmen wie »Eine wie keine« endete meist mit dem Abnehmen der Brille, dem Öffnen des Pferdeschwanzes und der dadurch hergestellten Attraktivität im heteronormativen Sinn. Auch der Typus des vordergründig coolen Manic Pixie Dream Girl war eine Projektionsfläche für den sensiblen, nerdigen Helden, aber kein Charakter mit eigenen Wünschen, Zielen, Ecken und Kanten.
Das änderte sich erst mit Jason Reitmans »Juno« (2007). Die junge Titelheldin (gespielt von Elliot Page vor seiner Transition) ist darin die treibende Kraft für den ersten Sex, und sie ist es auch, die sich selbstbestimmt um die Konsequenzen kümmert. Im Verlauf ihrer ungewollten Schwangerschaft wächst sie über sich selbst und die von ihr ausgewählten Adoptiveltern hinaus. Eine Erfahrung, aus der sie gestärkt ins Leben eines sorglosen Teenagers zurückkehrt. Aber nicht nur Coming-of-Age-Geschichten aus weiblicher Perspektive waren zu dieser Zeit Mangelware, solche mit und von People of Color waren noch rarer. »Pariah«, das Debüt der afroamerikanischen Regisseurin Dee Rees, war 2011 einer der ersten Filme, in dem eine junge Schwarze Protagonistin im Mittelpunkt stand.
Mitte der Nullerjahre erschien Greta Gerwig auf der Bildfläche. Sie prägte als Schauspielerin und Co-Autorin den Mumblecore mit, der als Subgenre des US-amerikanischen Independent-Films junge Erwachsene und deren Lebenswirklichkeit in den Blick nahm – im Grunde also Coming-of-Age-Storys erzählt. Mit »Hannah Takes the Stairs«, »Mistress America« oder »Frances Ha« wurde Gerwig zur Ikone einer Generation, deren Pubertät nahtlos in die Phase der Twentysomethings überging und für die der Ernst des Lebens erst jenseits der 30 begann. Mit ihrem Regiedebüt »Lady Bird« schlug Gerwig dann ein neues Kapitel in der Geschichte des Coming-of-Age-Films auf. Zwar waren Filme wie »The Diary of a Teenage Girl« (Marielle Heller, 2015) oder »The Edge of Seventeen – Das Jahr der Entscheidung« (Kelly Fremon Craig, 2016) pointierte und empathische Geschichten rund um ambivalente Heldinnen, die mit jugendlicher Wut, Verve und starker Libido ihr Ding durchziehen, schon früher gestartet. Sie sorgten aber nicht für denselben Furor wie »Lady Bird«.
Allein bei den 90. Academy Awards 2018 bekam Gerwigs Debüt fünf Nominierungen in den wichtigsten Kategorien Bester Film, Beste Regie, Bestes Originaldrehbuch und für die Beste Haupt- und Nebenrolle. Gerwig war 2018 erst die fünfte Regisseurin, die überhaupt für den Regie-Oscar nominiert war. Das auf Independent-Filme spezialisierte Branchenmagazin »Indie Wire« kürte Lady Bird gleich zu einem der zehn wichtigsten Filme der gesamten Dekade. Saoirse Ronan brilliert in der semi-autobiografischen Geschichte als Gerwigs Alter Ego. Sie lotet alle Konflikte des Erwachsenwerdens aus: Erwachen und Erkunden der eigenen Sexualität, die Abnabelung von den Eltern (insbesondere der Mutter), die Veränderungen des sozialen Gefüges in der Schule und das Aufbrechen in ein selbstverantwortliches Leben danach.
Der Erfolg von »Lady Bird« und die damit verbundene Stärkung des female gaze haben mehrere Ursachen. Zum Beispiel war das Timing perfekt. Die Premiere fand am 1. September 2017 statt, wenige Wochen, bevor die Vorwürfe gegen Harvey Weinstein publik wurden und die #MeToo-Bewegung wie eine Welle erst die US-Filmindustrie überrollte und in andere Länder und Kultursparten überschwappte. Mit der #MeToo-Kampagne erhielten die Forderungen nach mehr Gleichberechtigung in allen Bereichen des Filmbusiness – von der nach der paritätischen Besetzung aller Gewerke bis zum Wunsch nach komplexeren Geschichten rund um Frauenfiguren vor der Kamera – Öffentlichkeit und Nachdruck.
Die Erweiterung des female gaze ist aber nicht nur eine Folge des Zeitgeistes oder politischer Korrektheit. Das Verlangen nach Vielfalt, besonders in Bezug auf andere Diskriminierungsdimensionen wie Race, nimmt beim Publikum nachweislich zu. Das zeigt der letzte Hollywood Diversity Report der University of California (UCLA) aus dem März 2023. Der Anteil von (B)PoC an der Gesamtbevölkerung der USA wächst, nimmt besonders in der Zielgruppe der 18–49-Jährigen zu. Sie bevorzugen an der Kinokasse und im Streaming diversere Filme, die mittlerweile erfolgreicher sind als solche ausschließlich von, mit und über junge und alte weiße Männer. Laut der Studie ist es um die Genderdiversität bisher noch schlechter bestellt. Frauen führen nach wie vor seltener Regie, bei insgesamt niedriger budgetierten Filmen. Aber Filme von Regisseurinnen sind jetzt schon diverser als die ihrer Kollegen und damit der Marktentwicklung vielleicht einen wichtigen Schritt voraus.
Gerwigs »Barbie« spielt in dem Bericht noch keine Rolle, ist aber der alles überstrahlende Rekordbrecher. Als erster Film einer Regisseurin spielte er mehr als eine Milliarde US-Dollar ein und ist, Stand Dezember, der weltweit erfolgreichste Film des Jahres 2023.
Abseits von Hollywood und dem US-amerikanischen Independent-Film gab und gibt es weitere Regisseurinnen, die anspruchsvolle Filme über das Erwachsenwerden aus weiblicher Sicht inszenieren. Neben der Britin Andrea Arnold (»Fish Tank«, »American Honey«) oder Jannicke Systad Jacobsen (»Turn Me On, Dammit!«, 2011) aus Norwegen ist es vor allem die französische Regisseurin Céline Sciamma, die einen dezidiert weiblichen Blick zum Fluchtpunkt ihrer Coming-of-Age-Filme »Water Lilies«, »Bande des filles« oder »Petite Maman« macht. Der female gaze ist auch in der Serienlandschaft immer häufiger anzutreffen. Nachdem Lena Dunhams »Girls« (2012–2017) und Phoebe Waller-Bridges »Fleabag« (2016–2019) Kult wurden, hat die düstere »Wednesday« den Addams-Clan übernommen und trägt eine Serie, die durchaus nicht nur Frauen* anspricht und begeistert. Eine widerspenstige Figur, die gängige Vorstellungen von Weiblichkeit ignoriert, authentisch die Probleme eines weiblichen Teenagers durchlebt und trotzdem oder gerade deshalb ein breites Publikum anzieht. Und auch im Blockbuster haben sich junge Frauen in früher männlich konnotierten Rollen eingerichtet: in den »Divergent«- und »Tribute von Panem«-Serien, Adaptionen von »Young Adult«-Romanen oder rund um Brie Larsons »Captain Marvel« im Comic-Segment.
In den aktuellen Filmen »How to Have Sex« und »Rückkehr nach Korsika« zeigt sich eine selten da gewesene Komplexität in Figurenzeichnung und Handlung. Molly Manning Walkers Film beginnt wie ein typisches Buddie-Movie. Drei Freundinnen aus England wollen auf Kreta den Schulabschluss feiern und richtig die Sau rauslassen. Alkohol und zwanglose One-Night-Stands inklusive. Zunächst folgt der Film Tara (Mia McKenna-Bruce), Skye (Lara Peake) und Em (Enva Lewis) durch einen feucht-fröhlichen Abend. Em freut sich auf das Studium, während Tara vermutlich durchfallen wird und ahnt, dass sich ihre Wege bald trennen werden. Diesen Urlaub will sie in vollen Zügen auskosten – und sie will unbedingt ihre Jungfräulichkeit loswerden. Im verschärften Partyrausch zeigt sich dann, wie sehr die Erwartungen, die Männer und Frauen an Sexualität haben, auseinanderdriften können. Manning Walker überlässt dem Publikum das Urteil, ob Taras Sex am Strand einvernehmlich war oder nicht. Die Unsicherheit der Siebzehnjährigen, ihre Unfähigkeit, diese Frage für sich zu beantworten, wird zum Thema des restlichen Films. Manning Walker gelingt es, den Druck, der auf den jungen Menschen lastet und dazu führt, dass alle fortwährend ihre Grenzen überschreiten, glaubwürdig und einfühlsam zu schildern.
»Rückkehr nach Korsika« erzählt die komplizierte Familiengeschichte einer alleinerziehenden Mutter (Aïssatou Diallo Sagna) und ihrer Teenagertöchter Jessica (Suzy Bemba) und Farah (Esther Gohourou). Auf einer Reise in die alte Heimat, die die Mutter übereilt verlassen hatte, als die Mädchen noch zu jung waren, um den Grund dafür zu verstehen, brechen alte Wunden auf. Alle drei verfolgen in diesem Sommer eigene Ziele, ihre Wege trennen sich. Homosexualität, Klassenunterschiede und Rassismus werden geschickt in die Handlung verwoben, ohne dass der Film »programmatisch« wirkt. Empathisch fühlt sich Corsini in ihre Protagonistinnen ein und nimmt ihre speziellen Erfahrungen als PoC ernst, ohne sie je darauf zu reduzieren.
»How to Have Sex« und »Rückkehr nach Korsika« spielen in sehr unterschiedlichen Settings, Konstellationen und Milieus. Aber beide Filme haben gemeinsam, dass es am Ende die Gemeinschaft mit anderen Frauen ist, die Halt, Trost und einen Safe Space bietet.
In Anlehnung an Jutta Brückners Essay »Der Frauenfilm kann sich neu erfinden« bleibt zu erwähnen, dass der female gaze ein filmästhetisches Konzept ist, das feministische Forderungen und Erfolge sicht-, sag- und abbildbar macht: die Fortsetzung des Feminismus mit filmischen Mitteln und mit dem Ziel, diversere Perspektiven einzunehmen, abzubilden und zu repräsentieren. Auch Männer können einen solchen female gaze, im Sinne einer weiblichen Perspektive, empathisch einnehmen. Solange das Arbeiten im Filmbusiness aber noch nicht gleichberechtigt ist – und davon sind Hollywood und der Rest der Welt noch meilenweit entfernt –, bleibt es wichtig, Frauen und diskriminierte Gruppen ihre Geschichten selbst erzählen zu lassen. Das Publikum scheint dafür längst bereit zu sein.
Kommentare
Filmtitel
Ich finde es irritierend, dass mal die Originaltitel benutzt werden (»THE BREAKFEAST CLUB«, »DAZED AND CONFUSED, »MEAN GIRLS«) und mal die deutschen Titel (»SCHLAFLOS IN SEATTLE«,»DIE HOCHZEIT MEINES BESTEN FREUNDES«, »WÄHREND DU SCHLIEFST«).
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