Netflix: »American Symphony«
Dokumentationen über noch lebende prominente Künstler*innen, ob nun als Filme oder als Mehrteiler, erfreuen sich seit geraumer Zeit größter Beliebtheit, doch die meisten von ihnen kranken am gleichen Problem. Ganz gleich, ob es um Arnold Schwarzenegger oder um Selena Gomez geht, um Robbie Williams oder Sylvester Stallone – wenn die Protagonist*innen selbst letztlich die Fäden ziehen, hat das in der Regel zur Folge, dass nicht allzu kritisch nachgefragt wird und das Ergebnis oft ein brav-bewunderndes Abhaken altbekannter biografischer Details ist. Dass »American Symphony«, zu sehen bei Netflix, nun zum Glück ein wenig anders gelagert ist, lässt sich allerdings schon dadurch erahnen, dass der Name Jon Batiste im Titel nicht erwähnt wird.
Batitste ist – das muss man einem deutschen Publikum erklären – ein Jazz- und Soulmusiker mit Wurzeln in einer alteingesessenen Musikerfamilie aus New Orleans, dessen Karriere als Sänger und Komponist in den vergangenen Jahren steil nach oben ging. Als Bandleader bei »The Late Show with Stephen Colbert« wurde er einem Millionenpublikum bekannt, für die Musik zum Animationsfilm »Soul« erhielt er einen Oscar, und mit dem Song »Freedom« gelang ihm in den USA ein Top-Ten-Hit. Im Frühjahr 2022 gewann er für »We Are« sogar mehrere Grammys, unter anderem in der Kategorie »Album of the Year«.
2022 ist auch das Jahr, durch das Matthew Heineman (»Cartel Land«, »Retrograde«) Batiste für »American Symphony« begleitet hat. Der überraschende Durchmarsch des heute 37-Jährigen bei den Grammys ist entsprechend Bestandteil des Films, doch die verschiedenen Errungenschaften und Lebensdaten seines Protagonisten interessieren den Regisseur bestenfalls in zweiter Linie. Im Fokus steht eher – und viel mehr als in vergleichbaren Produktionen üblich – der künstlerische Schaffensprozess. Sowohl was die Entstehung der titelgebenden Symphonie betrifft, die am 22.9.22 zur einmaligen Aufführung in der Carnegie Hall kam, als auch was die allgemeine, stets genre- und konventionensprengende und mit gesellschaftspolitischer Bedeutung unterfütterte musikalische Arbeit angeht, kommt Heinemann in den Höhen wie in den Tiefen bemerkenswert nahe an Batiste heran.
Das allein wäre schon sehenswert, doch »American Symphony« gewinnt noch eine zusätzliche, ungleich emotionalere Ebene, als bei Batistes langjähriger Lebensgefährtin, der Autorin Suleika Jaouad, die überwunden geglaubte akute myeloische Leukämie zurückkehrt. Dass das Paar die Kamera selbst in den intimsten Momenten des Kampfes gegen die Krankheit zulässt, sei es im Krankenhaus oder bei der kurzfristigen Eheschließung, verleiht dem Film eine schmerzhafte Wahrhaftigkeit, die erstaunlicherweise nie voyeuristisch wirkt. Am Ende ist Heinemans Arbeit deswegen gleichzeitig ein Film über kreatives Schöpfen wie auch über das Durchhalten, über das gemeinsame Überleben und das Nebeneinander von Triumph und Leiden. Aber eben auch eine große, mitreißende Liebesgeschichte.
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