Kritik zu Im letzten Sommer
Catherine Breillat kehrt nach zehnjähriger Pause zum Kino zurück, um von der Affäre einer Anwältin mit ihrem Stiefsohn zu erzählen. Unverhofftes Begehren als Wechselspiel zwischen Zärtlichkeit und Härte
Die Freizügigkeit ist dem Wandel unterworfen; sie vollzieht sich in Wellen. Annes Mutter genoss noch die Verheißungen der sexuellen Revolution, sie selbst zählt sich zur Generation, die mit dem Schrecken von Aids konfrontiert wurde. Ein Fenster hat sich geöffnet, sagt sie, und dann wieder geschlossen. Für ihren Stiefsohn Théo hingegen lässt es sich erneut aufschließen. »Alles kann, nichts muss«, lautet sein Leitspruch in Liebesfragen. Gefühle seien nicht sein Ding, behauptet der 17-Jährige, was sich als verhängnisvoller Irrtum erweisen soll.
Théo (Samuel Kircher) ist in jenem Alter, in dem man Grenzen austestet. Als Mutter zweier Adoptivtöchter und Rechtsanwältin, die sich auf Familienrecht spezialisiert hat, weiß Anne (Léa Drucker), dass man sie ziehen sollte. Sie ist dreimal so alt wie er. Nicht trotzdem, sondern deshalb wird ein Liebespaar aus ihnen. Ihr Altersunterschied besitzt eine Anziehungskraft, der sie nicht widerstehen wollen. Er ist Warnung und Verlockung zugleich.
Ihre Affäre bahnt sich an auf der Augenhöhe der Verspieltheit. Plötzlich kann Anne zurückkehren in eine Lebensphase, die längst hinter ihr liegt. Ihrem Mann Pierre (Olivier Rabourdin) steht solche Entgrenzung nicht zu Gebot. Er ist so alt, wie er ist. Ob auch er damit hadert? Vielleicht genügt es ihm, das Heranwachsen seiner Töchter mitzuerleben, die sich gern wie Erwachsene kleiden und schminken. Als er auf Dienstreise geht, erklärt er einer von ihnen, dass sie zwei Tage älter sein wird, wenn er zurückkehrt. Für Théo war er damals nicht da. Nun hat er die Chance, Zeit mit ihm aufzuholen. Nachdem Anne die sommerlich flirrende Affäre brüsk beendet hat, gesteht der verzweifelte Théo seinem Vater, was geschehen ist.
Von Catherine Breillat ist nicht zu erwarten, dass sie nun die Moral ins Spiel bringt. Die Ironie, dass Anne sich beruflich für das Wohl missbrauchter Minderjähriger engagiert, kostet sie nicht aus. Die Regisseurin war bislang ein wackerer Herold der Freizügigkeit im französischen Kino, eine Entfesselungskünstlerin des Begehrens. In ihren frühen Filmen kamen sowohl Voyeure auf ihre Kosten wie ein anspruchsvolles Publikum, das erwartet, in Sexszenen etwas Wesentliches über die Beteiligten zu erfahren. Diese Schaulust befriedigt sie in ihrem neuen Film nur im zweiten Punkt. Sie bringt zum Vorschein, wie sich Sehnsucht für einen ekstatischen Augenblick erfüllt. In den Liebesszenen zwischen Anne und Théo bleibt Jeanne Lapoiries Kamera meist auf sein oder auf ihr Gesicht konzentriert. Ein nacktes Antlitz ist hier intim genug.
Während moralische Kategorien in diesem wortreichen Film außen vor bleiben können, nehmen die Gefühle eine jähe Wendung, als Anne alles abstreitet. Ihre Karriere und Familie sind bedroht. Sie taktiert wie eine Anwältin, die der Gegenseite zuvorkommen muss. Breillat inszeniert dieses Tauziehen als ein Duell der Nahaufnahmen. Verwandelt sich die Liebe, die einmal Bekenntnis war, nun in Verrat? Breillat weigert sich, das Fenster endgültig zu schließen. Die Neugier auf ihre Figuren ist zu stark.
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