Kritik zu Animalia
Das Tier im Mensch, der Mensch im Tier: Thomas Cailley (»Liebe auf den ersten Schlag«) erzählt von einer Welt, in der neue Grenzen gezogen und neue Abgrenzungen überwunden werden müssen
In unserer Zeit der Klimakatastrophe und der Pandemien gewinnt die Frage nach der Naturbeherrschung und damit auch nach dem Verhältnis zum Tier an Bedeutung. Mensch-Tier-Gestalten sind so alt wie die Kultur. Im antiken Mesopotamien oder Ägypten markierten diese Grenzwesen noch die Schwelle zur Göttlichkeit. Bei Thomas Mann ist der Arm der schönsten Frau bereits »nichts anderes als der Krallenflügel des Urvogels« – verbunden mit einem verblüfften Schauer über die eigene, überwundene Kreatürlichkeit. Und heute?
Heute scheinen wir – blicken wir auf Thomas Cailleys »Animalia« – die Angst vor einer realen Regression, vor dem Zivilisationszusammenbruch, in diese Wesen zu legen. Und: Das lässt sich nicht mehr als reine Verfallsgeschichte erzählen, sondern beinhaltet eine Note der Flucht in die Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen.
In der Welt von »Animalia« geht Seltsames vor sich: Scheinbar zufällig verwandeln sich manche Menschen in ungestalte Tiere. Das geht langsam und schmerzhaft vor sich, zieht sich hin wie eine Krankheit. Die Betroffenen entfremden sich von ihrem Umfeld. Und wie bei einer Demenz – oder beim Blick in die Augen eines Tieres – tun die Angehörigen sich schwer mit der Frage danach, wo noch das »Du« im Anderen ist. Das ist weniger der Ausnahmezustand als die »neue Realität« von »Animalia«.
Den einen wachsen Tintenfischarme, die nächsten bekommen Schlangenhaut oder Flügel, ohne auf Anhieb zu wissen, wie damit zu fliegen wäre. Im Fall von Lana ist es eine Bärin, der sie immer mehr gleicht. Ihr Ehemann François (Romain Duris) und ihr gemeinsamer Sohn Émile (Paul Kircher) ziehen mit ihr nach Südfrankreich, wo es eine besondere Klinik für die »Kreaturen« gibt. Um den richtigen Ausdruck streitet man sich noch.
Der noch junge Alt-68er-Vater behält seinen Mut bei und tut sich doch schwer damit, seinen animalischen Antiautoritarismus und den Wunsch nach sozialem Frieden in seiner Kleinfamilie zusammenzubringen. Unterstützung erfährt er durch die Polizistin Julia (Adèle Exarchopoulos), die ein Eingreifen der Armee wegen ausgebrochener Mischwesen zu verhindern versucht.
Im schlaksig-tumb pubertierenden Sohn erwachen derweil auf einer Party nicht nur erste Frühlingsgefühle für seine Mitschülerin, sondern auch Wolfskräfte mitsamt Gestank, Krallen und Fell, die er verleugnet, bis es nicht mehr geht.
Der Film und seine Hybriden sehen gut aus, mehr noch: glaubwürdig. Die Effekte sind durchdacht, das Make-up ist lebendig bis zum Körperhorror. Und auch wenn »Animalia« französisches Arthouse-Kino ist, scheut es das Populäre kein bisschen: Enorme Schauwerte, Action, energisches Schauspiel, flottes Erzähltempo gehen Hand in Hand mit emotionalen Spitzen, Vater-Sohn-Drama und hochinteressanten Gedanken und Bildern über unser Unbehagen in Natur und Kultur. Nur wenn der Film allzu sehr ins Pubertätsdrama oder in »Wir sollten netter zueinander sein«-Erbauung kippt, versteht man noch, weshalb es Leute gibt, die sich lieber die »X-Men« ansehen.
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