Kritik zu Der Junge und der Reiher
Ein Junge hat seine Mutter verloren und zieht mit dem neu verheirateten Vater aufs Land. Dort bricht er in eine fantastische Welt auf und Hayao Miyazaki, in Kürze 83, packt alles in diesen Film, was er noch sagen wollte
Im Feuersturm von Tokyo verliert Mahito seine Mutter. Sein Vater heiratet nach einiger Zeit deren jüngere Schwester, zieht mit dem 12-Jährigen zu dieser ins herrschaftliche Familienanwesen auf dem Land und tritt eine Stelle in einer nahe gelegenen Flugzeugfabrik an. Mahito, der den Verlust der Mutter noch nicht überwunden hat, reagiert empfindlich auf die Veränderung. Außerdem ist da noch dieser lästige Graureiher, der ihn schon bei der Ankunft fast umgeflogen hätte. Dann verschwindet Mahitos mittlerweile hochschwangere Stiefmutter in einer verwitterten Turmruine mit geheimnisvoller Vorgeschichte. Und so beginnt ein Abenteuer, das mit »überbordend« nur äußerst unzureichend beschrieben ist.
Zehn Jahre sind vergangen, seit Studio-Ghibli-Mitgründer Miyazaki Hayao sich mit »Wie der Wind sich hebt« offiziell in den Ruhestand verabschiedete – wo es ihn dann doch nicht hielt, denn es gab da noch was zu sagen. Der Meister begann kurzerhand zu zeichnen und das Studio meldete 2017 endlich die Entstehung eines weiteren (diesmal aber wirklich letzten!) Werkes: »Der Junge und der Reiher«. Der japanische Originaltitel des Films, übersetzt: »How Do You Live?«, bezieht sich auf den gleichnamigen, 1937 erschienenen Jugendbuchklassiker von Genzaburō Yoshino, von dessen möglicher Adaption Miyazaki seit vielen, vielen Jahren schon sprach.
In den vorliegenden Film findet das Buch Eingang als hinterlassenes Geschenk der Mutter, in dessen Lektüre der Junge vertieft ist, als die Turbulenzen ihren Anfang nehmen; es ist also nurmehr ein Element von vielen, die Miyazaki seinem geneigten Publikum unterbreiten will. Anders ausgedrückt ist »Der Junge und der Reiher« ein Füllhorn, dessen reichhaltiger Gabenstrom nicht wenige Zuschauerinnen mit sich reißen wird, auf dass ihnen Hören und Sehen vergehe, oder vielmehr: Augen und Ohren übergehen. Also staunen wir und zerbrechen uns den Kopf: Über einen seltsamen Vogel, der sich als Gestaltwandler mit unklarer Agenda erweist. Über kleine und große Großmütter, die mächtige Schutzzauber verkörpern. Über niedliche Sittiche, die das Zeug zu mannshohen Menschenfressern haben. Über den alten Bärtigen mit der Zackenmähne, dessen Fantasie dieses ganze unwahrscheinliche Reich (noch) zusammenhält und der nach einem Nachfolger sucht. Über Welten und wie leicht sie zu verändern wären. Über Inkarnationen und Interpretationen und die Poesie der offenen Bedeutung. Über einzelne Klaviertöne, die zum Heulen schön sind. Und freilich über Miyazaki selbst, der alle Schleusen öffnet.
Möglicherweise ist dies tatsächlich sein letzter Film, möglicherweise verabschiedet sich das Genie des Animationsfilms mit »Der Junge und der Reiher« wirklich und in Wahrheit und unwiderruflich in den Ruhestand. Möglicherweise. Sollte es so sein, dann ist dies ein fulminantes letztes Werk und würdiger Abschluss eines langen, verdienstvollen Arbeitslebens, in dessen Verlauf vielfache Wunder und ungekanntes Glück den Weg in die Welt fanden. Dafür von ganzem Herzen Dank!
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