12/2023

»Wim-Wim-Situation« – Neulich erst begeisterte Wim Wenders mit seinem Porträt über Anselm Kiefer. Nun startet »Perfect Days«, eine Meditation über das gute Leben. Patrick Heidman war bei der Premiere in Tokio +++ 

»Körperpolitik« – Feministinnen wussten immer: Die Verfügung über die Reproduktion ist der Schlüssel zur Freiheit. Jutta Brückner über Mütter, Aliens und die Perspektiven des Frauenfilms heute +++ 

»What a year, huh?« – »Barbenheimer«, Streik in Hollywood, Ärger im deutschen Film und Aufstieg der Games-Verfilmungen: Das Filmjahr 2023 brachte einige Überraschungen mit sich. epd-Film-Autoren und -Autorinnen blicken zurück auf die prägenden Momente +++ 

Filme des Monats: Napoleon | How to Have Sex | Maestro | Wie wilde Tiere | Eileen | Girl You Know It’s True | Falling Into Place +++

In diesem Heft

Tipp

Wim Wenders meditative Hommage an das japanische Kino begleitet einen Mann, der Tokios Toiletten reinigt, in den alltäglichen Ritualen seines Lebens und findet die Schönheit in unscheinbaren Dingen.
Universelle Luxus-Klischees: In »Eine Billion Dollar« erbt ein junger Berliner ein Vermögen, muss damit aber Gutes tun.
Alle nichts gewusst? »Deutsches Haus« erzählt von den ersten Prozessen gegen SS-Offiziere in Frankfurt.
Wo das Blut gefriert: Im arte-Sechsteiler »Polar Park« muss sich die Hauptfigur ganz warm anziehen.
Ein Gespräch über Gott, Liebe, Wahrheit und Selbsthass: Errol Morris’ Dokumentation »The Pigeon Tunnel« ist eine kunstvolle Annäherung an den Künstler John le Carré.
Die neue, mit Spannung erwartete Serie von Brit Marling und Zal Batmanglij, »A Murder at the End of the World«, setzt den Trend zur Wiederbelebung des Whodunit nach Agatha-Christie-Art fort. Mit originellen und sehr zeitgemäßen Einfällen natürlich.
Ein neues Forschungsfeld ist eröffnet. Und gerade zur rechten Zeit. Fünf Neuerscheinungen beschäftigen sich mit dem jüdischen Film und jüdischer Erfahrung in Deutschland Ost und West.
Auch die dritte Staffel der britischen Serie »Slow Horses« überzeugt durch die Mischung aus schwarzem Humor und Slapstick-Action.
Sam Esmail erzählt in »Leave the World Behind« vom Weltuntergang, wie ihn eine Gruppe privilegierter New Yorker in ihrem Strandhaus erleben.
Die finale sechste Staffel von »The Crown« beantwortet ausführlich all die Fragen, die rund um Dianas Unfalltod fast schon zu oft beantwortet wurden.
In seiner informativen Hochglanzdokumentation »23 – Der mysteriöse Tod eines Hackers« rollt Carsten Gutschmidt die tragisch-mysteriöse Geschichte des Hackerpioniers Karl Koch auf.
Der Briefwechsel von Max Reinhardt und Helene Thimig 1937–1940 gibt Einblick in die Exil-Szene der amerikanischen Ostküste.
Gut getarnt: Über Masken, Puppen und Monster.
Imagepflege: Eine muntere Revision weiblicher Promi-Biografien.
Bis heute Kult: die Abenteuerserie »Kommando Stingray«.
Gute gibt es keine: »1923« – das zweite Prequel zur »Yellowstone«-Saga als Miniserie.
»Mein Name ist ­Lohse …«: »Ödipussi« und »Pappa ante Portas« in einer DVD-Box.
80er-Jahre Sci-Fi: »Sador – Herrscher im Weltraum«
»Ich und Kaminski«, »Die Vermessung der Welt« – die Romane von Daniel Kehlmann werden gern verfilmt. Jetzt hat er einen vorgelegt, der gleich vom Film handelt: einer Phase im Leben des Regisseurs G. W. Pabst
Märchenhaft bis gruselig: Ein praktischer ­Filmführer für die Familie zu Hause.
Schikane, Schützen, Spionage; Zeitkritik in unterhaltsamem Gewand: die realitätsnahe ZDF-Vorabendserie »Beim Bund«.
Juan Luis Buñuel inszeniert Liv Ullmann als ­schaurig-schöne Eleonore
Sechs Freunde hilflos auf hoher See: »Die Yacht« auf DVD.
Am 10.12. spricht Regisseur Timm Kröger im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit Ulrich Sonnenschein über seinen Film »Die Theorie von Allem«.

Thema

Was hat der feministische Film der achtziger Jahre mit Ridley Scotts »Alien« zu tun? Warum gehen Frauen noch ins Männerkino? Und brauchen Filmemacherinnen Freunde? 
Geht für Japan ins Oscar-Rennen: »Perfect Days«, eine zauberhafte Alltagsmeditation von Wim Wenders. Patrick Heidmann hat ihn bei der ­Präsentation des Films auf dem Tokyo International Film Festival begleitet.
Aber das macht auch nichts: Thomasin McKenzie besticht durch ihre Rollen als scheue Frau, die sich in harten Umgebungen behaupten muss – auch wenn der Neuseeländerin, die aus einer Schauspieler-Dynastie stammt, durch die Wahl ihrer Filme der große Durchbruch bisher verwehrt blieb

Meldung

Molly Manning Walker 30, Kamerafrau und Regisseurin, lebt in ­London. Ihr Kurzfilm »Good Thanks, You?« lief in der Semaine de la critique in Cannes. Dort gewann in diesem Jahr auch ihr Spielfilm »How to Have Sex« den Preis der Sektion Un certain regard. Der Film startet am 7.12. 
Beim Filmfestival in Locarno zeigte eine Retrospektive die Vielfalt des mexikanischen Films zwischen 1940 und 1969, nun kommen die Filme auch nach Deutschland.
Die 65. Ausgabe der Nordischen Filmtage zeigte den skandinavischen Film in seiner ganzen Vielfalt – einfühlsam, rau, turbulent, gesellschaftskritisch und visuell opulent.

Filmkritik

Krisen und Traumata im Feelgood-Modus, Lebenstherapie im Taxi von München nach Hamburg: In Tobi Baumanns Extrem- Kammerspiel-Komödien-Roadmovie müssen sich fünf in Alter, Herkunft, Lebensform sehr unterschiedliche Menschen und Schauspieler ein wenig vorhersehbar zusammenraufen.
Atmosphärisch dicht erzählter Psychothriller um eine Autorin, die sich zum Schreiben in die Einsamkeit zurückzieht und dort von Ängsten und mysteriösen Ereignissen heimgesucht wird – leider mit einem etwas bizarren Ende.
Wim Wenders meditative Hommage an das japanische Kino begleitet einen Mann, der Tokios Toiletten reinigt, in den alltäglichen Ritualen seines Lebens und findet die Schönheit in unscheinbaren Dingen.
Ein weiterer Reisefilm, der auf einem Schwur beruht: Wenn er den Unfall überleben sollte, der ihn lang ans Bett fesselte, will der Reiseschriftsteller Pierre (Jean Dujardin) Frankreich zu Fuß durchqueren. Denis Imbert setzt eine mühevolle Selbstsuche in Szene, die durch atemraubende Landschaften führt, deren Erhabenheit zuweilen von einem prätentiösen Off-Kommentar überlagert wird.
Trotz der formelhaften Rahmenhandlung und grober Unglaubwürdigkeiten ist diese Buddy-Komödie über zwei wiedergefundene Freundinnen, gut besetzt und flott inszeniert, recht unterhaltsam.
Aylin Tezel erzählt in ihrem Debüt als Regisseurin und Drehbuchautorin melancholisch aber authentisch von der Generation der heute Mitte/Ende Dreißigjährigen und der Suche nach Liebe sowie dem richtigen Platz im Leben.
Eileen ist eine verschüchterte junge Frau, die sich ihrem Schicksal in der grauen Kleinstadt ergeben zu haben scheint. Doch dann tritt die faszinierende Psychiaterin Rebecca in ihr Leben... Adaption des Romans von Ottessa Moshfegh. Man bleibt am Ende ein wenig ratlos zurück, da der Film weder als komplexe Charakterstudie seiner titelgebenden Anti-Heldin noch als feministischer oder queerer Thriller überzeugt.
Überall ist immer Wasser: Giovanni Pellegrini zeichnet in seinem essayistichen Dokumentarfilm ein außergewöhnliches Porträt von Venedig. Rare Aufnahmen aus der Luft und zu Wasser heben die besondere Lage und Formation der Stadt in der Lagune hervor und zeigen, wie ihre Bewohner unablässig gegen ihren Zerfall anarbeiten müssen.
Hier das kreativ verspielte Biotop der Tech Nerds, dort die harten Regeln des Big Business: Basierend auf dem Sachbuch »Losing the Signal« rekapituliert Matt Johnson als Regisseur und Hauptdarsteller die Start-up Geschichte des ersten Smartphones auf einem schmalen Grat zwischen Dokumentation und Fiktion.
Das Biopic über Leonard Bernstein umtanzt elegant Konventionen und zeigt den widersprüchlichen Mann hinter dem Geniekult. Seine Faszination für den Showman-Tausendsassa macht Bradley Coopers als Regisseur, Hauptdarsteller, Produzent und Co-Autor mehr als deutlich.
Der norwegische Film addiert mit stilistischem Ehrgeiz Bruchstücke einer Künstlerbiografie. Vier Schauspieler verkörpern Edvard Munch in unterschiedlichen Lebensphasen: als Mann in der Dauerexistenzkrise.
Manning Walker inszeniert nicht nur die Lebenslust und sexuelle Energie ihrer Protagonistinnen, sondern findet subtile Bilder für deren Angst. Mit der Entscheidung, aktuelle Diskurse um Deutungshoheit und die Definition von sexuellen Übergriffen ins Zentrum zu stellen, schafft der Film etwas, was bei Gesprächen zum Thema oft fehlt: Die Atmosphäre zu etablieren, die zu solchen Erlebnissen (meist) junger Frauen führt.
Im Land Rosas vertrauen die Einwohner ihre Wünsche ihrem König Magnifico an – doch mit deren Erfüllung sieht es schlecht aus. Dagegen rebelliert die junge Asha. Der 62. abendfüllende Animationsfilm aus dem Hause Disney markiert das hundertjährige Bestehen des Unternehmens und gefällt durch den Rückbezug auf Animationstechniken aus der Vor-Computerzeit.
Während die Animation vergleichsweise simpel ausfällt, überzeugt dieser Trickfilm durch seine märchenhafte und vielschichtige Perspektive auf den Beginn des iranisch-irakischen Krieges: als Coming-of-Age-Geschichte eines Jungen, der mit einer waghalsigen Mission Menschen aus einer belagerten Stadt rettet.
Kostengünstig, schlicht und höchst effektiv in Szene gesetzter Tier-Horror der etwas anderen Art: ein Millionen-Erbe lebt mit einem als Hund verkleideten Mann zusammen; sein Internet-Date zeigt sich angesichts dessen »offen für Neues« – und schon landet man auf wohlbekanntem Psychopathenterrain. Es folgt finsterstes Treiben im schönsten Sonnenlicht.
Eine auf etwas zu viele Schauplätze verteilte engagierte Presenter-Reportage zur Propagierung eines veränderten Umgangs mit menschlichem Kot: »Put poop back into the loop!«
Jeanne Herry erzählt über eine begleitete Gesprächsgruppe aus verurteilten Tätern und Opfern und einen konkreten Fall von der Restorative Justice. 2014 in Frankreich eingeführt, bietet sie die Möglichkeit, in sicheren Einrichtungen ins Gespräch zu kommen. Eine dialogische Tour de Force mit universeller Botschaft: Den Sprechenden kann geholfen werden.
Ein Film wie geschaffen für die Weihnachtszeit, der weder Kolportage noch Sentimentalität verschmäht. Das großartige Ensemble um John Malkovich und Fanny Ardant veredelt das Ganze mit feiner Ironie und komödiantischer Energie.
Mit komischen fast flapsigen Elementen erzählt Éric Tessier von einem an Demenz erkrankten Historiker, der durch die Begegnung mit einer jungen, ziellosen Frau, sich an ein verdrängtes Kapitel in seinem Leben erinnert. Etwas zu harmlos und so nicht wirklich berührend.
Simon Verhoevens Biopic über die Fake-Sänger von Milli Vanilli überzeugt durch sympathische Hauptdarsteller, zeigt aber Defizite in der Darstellung des Pop-Produzenten Frank Farian.
Herausragendes Horror-Drama in der Pampa: Aussteiger-Ökobauern aus Frankreich treffen auf alteingesessene galizische Viehhalter; Weltbilder prallen aufeinander und statt nach der Gemeinsamkeit zu suchen, wird die Kontroverse zugespitzt. Gewalt steht gegen Moral und einmal mehr wird das wilde Tiere von der Zivilisation nur eben gerade noch in Schach gehalten.
Ein Familienvater, von seinen Kindern an Weihnachten im Stich gelassen, lädt stattdessen zwei alte Damen aus dem Altersheim zum Fest: Die kammerspielhafte Komödie glänzt mit boshaftem Wortwitz, bei dem nebenbei Lebensweisheiten vermittelt werden.
Stilistisch so unkonventionell wie sein Gegenstand, stellt der hybride Doku-Essayfilm Genderkonventionen im Leistungssport infrage und weitet die historische Aufarbeitung queer-utopischen Zukunftsvision, lustvoll, kämpferisch und mit Witz.
Patrick Muroni will ein sensibles Porträt über ein queeres Kollektiv drehen, das ethische Pornos dreht. Um den male gaze zu vermeiden, mäandert der teils dokumentarische, teils inszenierte Film wenig aussagekräftig dahin.
Ridley Scotts Biopic des Usurpators, der Europa in Schutt und Asche legte, ist kein Heldengemälde, sondern die nonchalante Neubesichtigung eines Mythos. Zahlreiche Ellipsen im Historienfresko lassen vermuten, dass der Kinostart eine Werbeveranstaltung für den Director's Cut ist, von welchem der Regisseur im Vorfeld schon ausgiebig schwärmte.
Trotz ein paar Makel ein gelungenes Prequel zur »Tribute von Panem«-Reihe, das brutaler und düsterer daherkommt als die Ursprungsserie und sich noch stärker mit den Mechanismen von Macht und Gewalt auseinandersetzt.
Oliver Parker, der in jedem Genre heimisch ist, das dem britischen Kino teuer ist (ohne dort freilich nennenswerte Spuren zu hinterlassen), erzählt die wahre Geschichte des 90jährigen Bernard Jordan, der 2014 auf eigene Faust zur Jubiläumsfeier des D-Day reist. Die britische Verehrung des Militärs bleibt nicht vollends ungebrochen; Glenda Jackson und Michael Caine demonstrieren, dass das Altern ebenso viel Mut erfordert.
Heitere, weiblich besetzte Superhelden-Routine von Nia DaCosta (»Candyman«). Drei Heldinnen müssen ihre Kräfte in Einklang bringen und allerlei kaputtmachen. Charmanten Einfällen steht eine besorgniserregende Kriegslüsternheit gegenüber.

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