Kritik zu All eure Gesichter
Regisseurin Jeanne Herry erzählt mit prominenter Besetzung vom Prozedere der »Restorative Justice«, bei der in begleiteten Gesprächsgruppen verurteilte Täter und Opfer von Gewaltverbrechen ihre Perspektiven austauschen
Ein Film, der Augen öffnet – und Diskursräume. Sehr konkret wird das im Gespräch zwischen Nassim (Dali Benssalah) und Nawelle (Leïla Bekhti). Letztere erzählt davon, wie ein komplett Vermummter ihr während eines Überfalls seine Pistole auf die Stirn gedrückt habe – eine Situation, die sie seither mit der Angst verfolgt, der geflohene Täter könnte sie wiedererkennen. Nassim, der selbst eine ähnliche Situation als Täter erlebt hat, erklärt, man sei so voller Adrenalin, dass man nichts sähe. Die Täter kämen nicht der Opfer, sondern des Geldes wegen und hätten ihrerseits viel größere Angst, erkannt zu werden. Für die Frau hat dieser Perspektivwechsel etwas Erlösendes.
Möglich macht ein solches Gespräch die »Restorative Justice«. 2014 in Frankreich eingeführt, bietet sie Opfern und verurteilten Tätern die Möglichkeit, unter Aufsicht von Fachleuten und ehrenamtlichen Helfern miteinander zu sprechen, um Traumata abzubauen. Nach »In sicheren Händen«, in dem es um die Adoptionsgeschichte eines Neugeborenen ging, widmet sich die französische Regisseurin Jeanne Herry damit erneut einem gesellschaftsrelevanten Thema.
Es ist nur konsequent, dass sie in ihrem vielstimmigen, gleichsam nüchtern dokumentarisch inszenierten Ensembledrama das gesprochene Wort regelrecht feiert. Sie alle wollen und müssen reden: Sabine (Miou-Miou) verlässt seit einem Handtaschenraub ihre Wohnung nicht mehr. Grégoire (Gilles Lellouche) ist in eine tiefe Depression gefallen, nachdem er und seine Tochter zu Hause überfallen wurden, und Nawelle plagen seit dem Raubüberfall Angstattacken.
Ihnen gegenüber im Stuhlkreis sitzen bei den wöchentlichen Treffen Nassim und weitere, die wegen Homejacking und Gewaltdelikten verurteilt wurden. In der Mitte der begleiteten Runde befindet sich ein Rede-Stab, zwischendurch gibt es Pausen mit Kuchen und Zigaretten. Herry blickt ganz unmittelbar in diese Runde, auf die Gesten und Blicke und gibt ihnen allen mit dicht geschriebenen Dialogen ihre Geschichten. Das stark aufspielende Ensemble trägt ganz wesentlich dazu bei, dass die dialogische Tour de Force durch die Schicksale nur selten an Intensität verliert. Die »Restorative Justice« sei wie Kampfsport, heißt es einmal.
Neben diesem Gruppengespräch erzählt der Film davon, wie Chloé (Adèle Exarchopoulos) versucht, mit ihrem Bruder ins Gespräch kommen, der wegen sexueller Übergriffe gegen sie als Kind angeklagt wurde. Der Fall wird kleinteilig gezeigt: vorbereitende Gespräche, Absprachen für das Treffen, psychologische Unterstützung – ein Vergrößerungsglas für eine konkrete Eins-zu-eins-Situation.
Sicher: »All eure Gesichter« wirkt fast wie eine filmische Werbung für das Verfahren. Auch entwickeln sich die einzelnen Fälle der Gesprächsgruppenteilnehmer durchweg wohlwollend. Unkritisch ist der Film dennoch nicht, denn die emotionalen Strapazen der Beteiligten werden deutlich. Der Film lässt sich als universelle Botschaft an unsere von Kulturkämpfen und politischen Fronten durchzogenen Gesellschaften lesen: Sprecht mit-, nicht übereinander!
Kommentare
Fälle gewaltsamer Tötung
Der Film aus Frankreich befaßt sich mit überlebenden Gewaltopfern. Im Film aus den USA "Beyond Punishment" geht es um gewaltsame Tötung. Beide Filme haben etwas Gleiches: der Austausch mit Opfern und Tätern. Im Film aus Amerika wird deutlich, dass es zu einem Austausch mit dem eigentlichen Täter und Opferangehörigen kaum bis gar nicht möglich ist. Aus den Erfahrungen der Opferhilfsorganisation Bundesverband ANUAS e.V. wollen Angehörige von gewaltsamen Tötungsdelikten keinen Austausch mit fremden Tätern, oft nicht einmal mit dem eigentlichen Täter ihres Falles. ANUAS hat ein spezielles Projekt der Restorativen Justiz 2017 gegründet, welches bisher gut umsetzbar ist https://anuas.de/restorative-justice/ ... in den Austausch kommen nicht nur Opferangehörige und Täter, sondern vordergründig alle Beteiligten, die mit dem individuellen Fall zu tun hatten. Da der BGH sich gegen einen TOA bei Tötungsdelikten ausgesprochen hat, die Mit-Opfer (=Angehörige von Tötungsdelikten) aber auch Anliegen haben und eine Stimme erhalten möchten, ist der Ansatz des ANUAS eine tolle Möglichkeit, die bisher in Deutschland noch keine Berücksichtigung gefunden hat.
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