Apple TV+: »Der Taubentunnel«
David Cornwell, besser bekannt als John le Carré, hat nach seinem Tod im Dezember 2020 mehr Schlagzeilen mit seiner Libido gemacht als mit seinem literarischen Werk. Der 1931 geborene Autor von »Der Spion, der aus der Kälte kam« (1963) und »Eine kleine Stadt in Deutschland« (1968) war ein großer Erotomane. Suleika Dawson, eine seiner zahlreichen Geliebten, erinnerte sich lebhaft an den Sex mit le Carré: »He was absolutely legendary.« Für den Schriftsteller war Untreue wie eine Droge, die ihn literarisch beflügelte und ihm Stoff für seine Bücher lieferte. In Errol Morris' Dokumentation »The Pigeon Tunnel« spielt das Sexualleben nur eine Nebenrolle. Der 89-jährige le Carré mochte in seinem letzten Interview nicht mehr über das Thema reden. Stattdessen beschäftigte er sich im Gespräch mit dem unsichtbaren, aber akustisch präsenten Oscar-Gewinner Morris (»The Fog of War«, 2003) mit seiner Kindheit, Privatschulen, dem Studium in Oxford, der Arbeit für die Geheimdienste MI5 und MI6, dem Doppelagenten Kim Philby sowie philosophisch aufgeladenen Themen wie Gott, Liebe, Wahrheit, Identität und Selbsthass.
»Wer sind Sie?«, will Morris, begleitet von aufgeregten Streichern, zu Beginn wissen. Er wird in anderthalb Stunden viele Dinge erfahren, über die le Carré erstmals öffentlich spricht. Zum Kern des Mannes dringt auch er nicht vor. Es gebe ihn eigentlich nicht, stellt le Carré fest: »Wir kennen uns selbst kaum.« Ohne sein Schreiben besitze er praktisch keine Identität.
Morris' Film mit Musik von Philip Glass und Paul Leonard-Morgan basiert auf le Carrés fabelhaftem autobiografischen Buch »The Pigeon Tunnel« (deutsch: »Der Taubentunnel«) aus dem Jahr 2016. Morris nähert sich dem Künstler auf kunstvolle Weise, mit minimalistischer Intensität. Inszenierte Szenen verschmelzen mit Archivmaterial und Ausschnitten aus Filmklassikern. In Monte Carlo erlebte der junge David Cornwell mit, wie in einem Sportclub Tauben aus einem Tunnel ins Freie getrieben wurden; reiche Gäste warteten darauf, sie vom Himmel zu schießen. Der Vorgang inspirierte le Carré zu einer Schlüsselszene an der Berliner Mauer in »Der Spion, der aus der Kälte kam«.
Zeitlebens war der Autor an den Themen Betrug, Doppelleben, Show und Lüge interessiert. Perfektes Studienobjekt war sein Vater Ronnie, ein notorischer Betrüger, für den das Leben eine Bühne war. Wie Philby war er ein charismatischer Spieler, süchtig nach dem Kick, den ihm das Maskenspiel verschaffte. Ronnies Frau verließ ihn, als der Sohn fünf war. Die Wunden, die das schlug, erinnert le Carré genau – allerdings nicht anklagend oder im Trauerton, sondern anschaulich, lebendig, fast schon gutmütig.
Die Einsichten des alten Mannes, den Kameramann Igor Martinovic vornehmlich in einer dunklen Bibliothek aufnimmt, addieren sich zu einer faszinierenden Lehrstunde über die Entstehung von Literatur. Eine bessere Werbung für das Werk le Carrés ist kaum denkbar.
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