Wim Wenders: Reise nach Tokio
Wim Wenders. Foto: Yusuke Kobayasfi. © Master Mind Ltd.
Geht für Japan ins Oscar-Rennen: »Perfect Days«, eine zauberhafte Alltagsmeditation von Wim Wenders. Patrick Heidmann hat ihn bei der Präsentation des Films auf dem Tokyo International Film Festival begleitet
»Ist Wim Wenders wirklich hier?« Bei der Eröffnungsparty des 36. Tokyo International Film Festivals Ende Oktober guckt sich der junge japanische Regisseur Yohei Kotsuji, der hauptberuflich als Lehrer arbeitet und mit seinem ersten, selbst finanzierten Spielfilm »A Foggy Paradise« im Wettbewerb vertreten ist, mit einem erwartungsfrohen Strahlen im Gesicht um. Zwar stellt sich bald heraus, dass die Gerüchte nicht stimmen. Man trifft den scheidenden Berlinale-Leiter Carlo Chatrian ebenso am Büffet wie Schauspiel-Shooting Star Max von der Groeben, der mit Barbara Alberts »Die Mittagsfrau« quasi zu Kotsujis Konkurrenz gehört, doch der berühmte deutsche Kollege hat sich Jetlag-bedingt direkt nach dem Gang über den roten Teppich und ein paar Worten bei der Auftaktzeremonie direkt ins Hotel zurückgezogen. Die Freude, die allein die Erwähnung des Namens Wenders an jenem Abend und den folgenden Festivaltagen auslöst, spricht aber Bände. Und das nicht nur über das neuerliche Karrierehoch, das das Urgestein des Neuen Deutschen Films dieser Tage erlebt. Sondern vor allem, was sein sehr besonderes Verhältnis zu Japan angeht.
Allein mit dem Tokyo International Film Festival, wie so viele meist als TIFF abgekürzt, verbindet Wenders eine lange Geschichte. Gleich bei der ersten Ausgabe 1985 hatte er »Paris, Texas« gezeigt, 1993 stand er der Jury des Nachwuchs-Wettbewerbs vor, 2011 hatte er »Pina« im Gepäck. In diesem Jahr nun war der 78-Jährige gleich doppelt im Einsatz. Einerseits diente er als Vorsitzender der Wettbewerbsjury (die am Ende ihren Hauptpreis an »Snow Leopard« des tibetanischen Regisseurs Pema Tseden vergab), andererseits kam ihm die Ehre zu, mit »Perfect Days«, seinem zweiten Film in diesem Jahr nach »Anselm – Das Rauschen der Zeit«, das Festival auch gleich zu eröffnen.
»Man muss mich nicht zweimal bitten, nach Japan zu kommen«, hatte Wenders schon anlässlich der Weltpremiere des Films in Cannes zu Protokoll gegeben und dabei natürlich nicht an TIFF gedacht, sondern an die Dreharbeiten zu Perfect Days. Schon mehrfach in seiner langen Karriere hatte er in Tokio gedreht, doch sein 24. Spielfilm, der vom nicht mehr ganz jungen Toilettenputzer Hirayama handelt, ist nun der erste, der komplett dort entstanden und vor allem eine rein japanische Produktion ist.
Seinen Ursprung nahm das Projekt also mit einer Einladung Richtung Fernost, ausgesprochen vom Produzenten und Drehbuchautor Takuma Takasaki, und einigen sehenswerten Sanitäranlagen. »Zunächst einmal hatte ich einfach Heimweh nach Tokio. Ich war fast zehn Jahre nicht mehr dort und habe durch die Pandemie zwei Reisen dorthin verpasst«, antwortet der Regisseur auf die Frage, was ihn zu seinem jüngsten Werk inspiriert habe. »Dann bekam ich die Einladung, mir die öffentlichen Toiletten anzuschauen, die berühmte Architekten wie Tadao Ando, den ich ja auch persönlich gut kenne, dort in den letzten Jahren gebaut haben. Die sind Teil eines städtischen Projekts, das eigentlich für die Olympiade 2020 konzipiert wurde, doch dann kam ja erst einmal niemand. Fremde durften nicht einreisen und die Einheimischen blieben zu Hause. Also standen diese von jedem nutzbaren Designobjekte dort herum – und niemand wusste das.«
Er fährt fort: »Das sind wirklich Träume von Toiletten, zum Teil in kleinen Parks gelegen. Wenn man darüber nachdenkt, wo man gerne mal auf ein stilles Örtchen gehen würde, um sein Geschäft zu verrichten, dann könnte man sich nichts Schöneres vorstellen als diese Häuslein. Aber ich hatte keine Lust, einen Dokumentarfilm über Klos zu machen oder sie bloß zu fotografieren, auch wenn sie von großen Architekten sind.« Mit einem fiktionalen Spielfilm allerdings verhielt es sich anders. »Ich mochte, wie in Japan – anders als bei uns – das Gemeinwohl und der Zusammenhalt größer geschrieben wurden denn je. Jeder dort war so froh, dass allen endlich wieder alles zugänglich war«, erklärt Wenders. »Deswegen wollte ich einen Film darüber machen, was für ein schönes Gut das Allgemeinwohl ist. Und dafür waren diese Toiletten ja gemacht. Also haben wir dazu eine Figur entwickelt, und es kam mit Kōji Yakusho ein Schauspieler ins Spiel, den ich verehre, seit ich ihn in »Shall We Dance?« das erste Mal gesehen habe. Als es hieß, der könnte diese Rolle vielleicht spielen, gab es kein Halten mehr, und wir schrieben ihm diese schöne Geschichte quasi auf den Leib.«
Die Geschichte, die er und sein Koautor Takasaki sich schließlich ausdachten, kommt nun ohne allzu viel Handlung aus. Morgen für Morgen erhebt sich Hirayama pünktlich zum Morgengrauen und ohne Wecker von seinem Futon, beginnt seine mit Geduld und Gründlichkeit ausgeübte Arbeit im Auftrag des Tokyo Toilet Projects und freut sich in der Mittagspause über das, was die Japaner Komorebi nennen: Lichtstrahlen, die durch die Blätter eines Baumes fallen. Nach Feierabend oder am Wochenende geht es ins Badehaus oder für eine schnelle Mahlzeit in den unterirdisch gelegenen Nudelimbiss. Ein stilles, bescheidenes Leben führt dieser Mann, für dessen Darstellung Kōji Yakusho an der Croisette als Bester Darsteller ausgezeichnet wurde. Als allein, aber nicht einsam, beschreibt ihn Wenders selbst, schließlich prägen durchaus auch zwischenmenschliche Begegnungen seinen Alltag, vom jungen, unmotivierten Kollegen über die plötzlich vor der Tür stehende Nichte bis hin zur Betreiberin der Lieblingsgaststätte oder einem Obdachlosen im Park.
Immer wieder stehen dabei fast philosophische Fragen im Raum. Werden Schatten dunkler, wenn sich zwei überlagern? Oder: warum kann nicht jeder Tag gleich sein? »Ich habe versucht, einen utopischen Film in der gegenwärtigen Realität zu machen, wo uns solche Fragen zu entgleiten scheinen«, erklärt Wenders dazu. »Mir selbst vorneweg! Ich bin ja arbeitswütig, habe immer einen zu vollen Kalender und greife ständig zum Handy. Ich muss mich deswegen regelmäßig daran erinnern, dass vieles gar nicht unbedingt nötig ist und man auch mal etwas auslassen kann. Dann merke ich mit großer Wehmut, was man alles verpasst in einer Gesellschaft, die einem einredet, dass man nichts verpassen darf. Allen voran die Aufmerksamkeit für das Heute, für das Hier und Jetzt, das, was man direkt vor sich hat. Das macht einem jetzt dieser Hirayama in meinem Film schön vor!«
Gerade einmal zwei Wochen dauerte die Arbeit am Drehbuch, fünf Monate später, im Oktober 2022 wurde bereits gedreht, mit kleinem Team und kaum mehr als drei Wochen Zeit. Erstmals nicht nur als Fotografin dabei: Ehefrau Donata Wenders, die die Second Unit übernahm, wie ihr Mann es bezeichnet. »Die Idee zu einer Zusammenarbeit kam schon auf, als das Drehbuch geschrieben wurde und klar war, dass die Geschichte von Hirayama durch die täglich wiederkehrenden Rituale und Abläufe strukturiert würde. So kam die Idee der Träume auf, die kleine Elemente von Hirayamas Erlebtem beinhalten sollten und vollkommen anders aussehen sollten als der Rest des Films«, sagt sie selbst auf Nachfrage von epd Film über die von ihr gedrehten Fragmente, die nun den Film durchziehen. »Wim und sein Koautor Takuma Takasaki kamen auf die Idee, mich zu fragen, diese Traumsequenzen in Schwarz-Weiß zu drehen. Dass die Träume sich mit dem Thema Komorebi befassen, ergab sich aus dem Interesse Hirayamas für Bäume und das Sonnenlicht, das durch das Blattwerk fällt und besondere Lichtspiele erschafft. Er selbst hat ja auch immer eine Fotokamera bei sich und fängt diese Momente ein. Ich habe also eine Art unterbewusste Bilder gefilmt und gemeinsam mit Clementine Decremps zu diesen Traumsequenzen montiert, die wie kleine Zäsuren im Film wirken und sich dennoch vollkommen in die Handlung einfügen.«
Der Protagonist in »Perfect Days« hält nicht nur Sonnenstrahlen und Laub mit seiner Analogkamera fest, er liest auch im Antiquariat erstandene Bücher und hört US-amerikanischen Rock vergangener Jahrzehnte, von Lou Reed über Patti Smith bis hin zu den Kinks natürlich auf Kassette. Es sind nicht unbedingt Nostalgie oder Konservatismus, die sich da Bahn brechen, aber doch eine unverkennbare Vorliebe für Traditionen und ein altmodisches Flair, für das Schlichte und Einfache. Was Wenders, als Filmemacher wie als Mensch, an Tokio interessiert, sind eben gerade nicht die Wolkenkratzer und Hightech-Roboter, nicht die Großstadt-Anonymität oder die rasante Fortschrittlichkeit. Was er hier sucht – und durchaus findet –, ist noch immer das Japan, in das er sich mit den Filmen von Yasujirō Ozu verliebt hatte.
»Im Sommer 1977 kam ich das erste Mal hierher, auf Einladung des Goethe-Instituts, für eine Woche des deutschen Films«, sagt er auf einer Pressekonferenz während des Festivals in Tokio, wie fast immer in ein Outfit seines Lieblingsdesigners Yohji Yamamoto gekleidet. »Die meiste Zeit verbrachte ich damals allerdings im Japanischen Filminstitut, denn ich hatte den großen japanischen Regisseur Yasujirō Ozu für mich entdeckt. Ich wollte so viele seiner Filme wie möglich sehen. Es gab sie allerdings nicht auf Video, also musste ich die Filmrollen an einem Schneidetisch sichten, und Untertitel hatten sie natürlich auch nicht. Tagelang saß ich da ganz allein und guckte diese Meisterwerke, ohne ein Wort Japanisch zu sprechen. Doch danach hatte ich das Gefühl, dass ich die Sprache und diese Menschen verstehe. Seither fühle ich mich hier zu Hause.«
Visuell mag »Perfect Days« nun nicht allzu viel mit Ozu gemein haben; die dynamische Handkamera von Franz Lustig könnte kaum weiter entfernt sein von den stillen, sorgfältig durchkomponierten Bildern des Japaners. Und doch versteht Wenders seinen Film auch als eine Hommage an seinen »spirituellen Meister«, die manche thematische Parallele ausweist, von den gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen, die hier beobachtet werden, bis hin zu den modernen, fortschrittlichen Frauenfiguren, die zumindest am Rande auftauchen. In Toyko-Ga, dem Dokumentarfilm, den Wenders zu Ozus 20. Todestag 1983 in Tokio gedreht hatte, sagt er an einer Stelle: »Ozus Filme erzählen, mit äußerster Sparsamkeit der Mittel und auf das Allernotwendigste reduziert, immer wieder (. . .) einfache Geschichten. (. . .) So japanisch diese Filme auch sind, so allgemeingültig sind sie zur gleichen Zeit.« Über »Perfect Days« ließe sich Ähnliches formulieren.
Wie sehr Wenders mit seinem Film in Japan selbst einen Nerv getroffen zu haben scheint, zeigen nun nicht nur die begeisterten, ja mitunter fast ehrfürchtigen Reaktionen, die jeder seiner Auftritte beim Filmfestival in Tokio auslöst. Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass »Perfect Days« – als erste Arbeit eines nicht in Japan lebenden Regisseurs – nun als japanischer Beitrag ins Oscar-Rennen geschickt wird. Was ihn, trotz starker Konkurrenz durch neue Filme von Hirokazu Koreeda oder Ryusuke Hamaguchi zum idealen Kandidaten macht? »Perfect Days« ist von einer Freiheit im filmischen Schaffensprozess geprägt, die beweist, dass ein Film auch ohne aufdringliche Botschaft oder Aufsehen erregende Schockmomente auskommen kann«, betont Shogo Tomiyama, der Vorsitzende des japanischen Auswahlkomitees für die Academy Awards. »Außerdem zeichnet er ein Bild von Japan und Tokio, das auf seine ganz eigene Art ungemein zeitgemäß ist.«
Dass es nicht nur Wenders ist, der aus seiner engen Verbindung zu Japan Inspiration gewinnt, sondern dass der Deutsche mit seiner Arbeit auch etwas zurückzugeben hat, ist für Tomiyama unbestreitbar: »Die japanische Filmindustrie konnte immer schon ausschließlich durch den einheimischen Markt überleben, was aber auch zur Folge hatte, dass es mit einer internationaleren Ausrichtung japanischer Filme nicht weit her ist. Der schnellste Weg zu einer Internationalisierung des japanischen Kinos ist es, wenn prominente Regisseure aus dem Ausland Filme über Japan mit japanischen Schauspielern drehen. So wie Wim Wenders, der Tokio und seinen Protagonisten mit tiefer Liebe und Empathie porträtiert. Dank ihm richten sich die Augen des Kinopublikums auf der ganzen Welt nun einmal mehr auf Japan.«
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