Kritik zu Anselm – Das Rauschen der Zeit

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2023
Original-Titel: 
Anselm – Das Rauschen der Zeit
Filmstart in Deutschland: 
12.10.2023
V: 
L: 
93 Min
FSK: 
Ohne Angabe

In seinem vierten 3D-Langfilm nutzt Regisseur Wim Wenders das wieder aus der Mode gekommene Format für die sinnliche Erkundung des monumentalen Werks von Anselm Kiefer

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Auf einem Hügel zwischen knorrigen Bäumen stehen Frauenskulpturen in starren bodenlangen Kleidern, die Kamera schwebt durch dieses Ensemble und die Landschaft, und ganz sanft stellt sich der Eindruck ein, mittendrin zu sein in dieser Szenerie. Der Fokus verschiebt sich, hinein in Studiohallen mit monumentalen Gemälden, Installationen und Regalen voller Materialien, durch die ein Mann auf dem Fahrrad seine Runden dreht. Es ist Anselm Kiefer, und es sind seine Werke, es ist seine Welt, in die wir eintauchen. Der 1945 in Donaueschingen Geborene gilt als eine der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler, international ebenso gefeiert wie im Laufe der Jahrzehnte auch immer wieder umstritten. Wim Wenders hat er Zugang gewährt, der ihn nun in einem Dokumentarfilm würdigt. 

Wie wird man diesem Künstler gerecht? Einem, der sich selbst nie von Kon­ventionen einschränken ließ? Der die Leinwand als Limit nicht akzeptiert, sie mal­trätiert, verätzt, versengt, sie nicht nur flach bemalt, sondern mit Stroh, Holz und Stofffetzen in den Raum erweitert? Wenders entschloss sich, wie schon in »Pina«, seinem Film über die 2009 verstorbene Pina Bausch und ihr Tanztheater in Wuppertal, zum 3D-Format. Wie er dort die Choreographien von der Bühne in die Stadt und den öffentlichen Raum holte, inszeniert er hier eine Reise durch die Ideenwelten, Schaffensprozesse und riesigen Ateliers Kiefers im südfranzösischen Barjac. 

Wenders und sein Bildgestalter Franz Lustig wissen das Dreidimensionale zu nutzen, um Textur und Materialität der Werke ebenso erfahrbar zu machen wie auf dem Gelände das Labyrinthartige der Hallen, die Turmgebilde und Skulpturen griechischer Frauenfiguren aus der Antike, deutsche Kriegsflugzeuge und auch seine viele Tausend Bände umfassende Bibliothek. Die 3D-Technologie ist hier weniger Überwältigung oder Spektakel, sondern Immersion, die Kunstwerken zum Greifen und Begreifen nahekommt. Wenders beobachtet den 78-jährigen Maler bei der Arbeit, wenn er seine großformatigen Leinwände mit Farben und Feuer bearbeitet, verzichtet dabei auf konventionelle Interviews ebenso wie einen Offkommentar. Er erklärt nicht, lässt die Kunst sprechen. Und zeigt einen Künstler, der bei allem Hang zu Mythos und Monumentalem erstaunlich leise und ruhig agiert, selbst wenn er dem Assistenten mit dem Flammenwerfer Anweisungen gibt.

So ist »Anselm« keine chronologisch erzählte Biografie, auch wenn der Film immer wieder Schaffensorte und Lebenswege verbindet, sondern ein Hineinspüren in die Gedankenwelt eines Künstlers, der durch sein Sich-Abarbeiten an deutscher Geschichte und deutschen Mythen immer wieder aneckte. Diese Kontroversen lässt Wenders nicht aus, versteht sie aber zu kontextualisieren, durch historische Fernsehberichte etwa oder nachgestellte Szenen mit Anselm als zehnjährigem Jungen (dargestellt von Anton Wenders, dem Großneffen des Regisseurs) und als Mittvierziger (Daniel Kiefer, der Sohn des Künstlers) im Odenwald, die seine Entwicklung nachvollziehbar machen. Wenders' Blick ist nicht kritisierend, sondern im besten Sinne vermittelnd. 

»Anselm« ist Wenders' vierter 3D-Langfilm. Man sieht ihm die technische Entwicklung der letzten Jahre an, Wenders verwendet erstmals eine 6K-Auflösung, die in Kinos noch gar nicht projiziert werden kann. Selbst bei der Premiere in Cannes waren nur 2K möglich. Doch auch so haben die Bilder eine verblüffende Brillanz und Tiefenschärfe. So ist »Anselm« neben der Auseinandersetzung mit einem Künstler auch das Erforschen eines Formats, das sonst nach einem kurzen Hype im Blockbusterkino der ­Zehnerjahre allenfalls noch von James Cameron für »Avatar« überzeugend genutzt wird. Derzeit arbeitet Wenders an einem weiteren dokumentarischen 3D-Film über den Architekten Peter Zumthor.

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