11/2023

»Zu klug, zu taff . . .« – ist die Heldin im Cannes-Gewinner »Anatomie eines Falls«. Sandra Hüller spielt die Schriftstellerin, die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wird. Die Schauspielerin, demnächst auch in »The Zone of Interest«, hat gerade wieder einen guten Lauf. Ein Porträt +++ 

»Immer ein großer Auftritt« – Erbe der Revolution oder verrückter Imperialist? Jedenfalls ein schillernder Charakter. Vor dem Start von Ridley Scotts Biopic: eine Revue der Napoleon-Projekte, von Abel Gance bis Stanley Kubrick +++ 

»Durchstarten« – Als »Ugly Betty« hat sie die Sache der Latinas in der Industrie vorangebracht. In »Barbie« hatte sie DEN großen feministischen Monolog. Jetzt ist America Ferrera in der GameStop-Story »Dumb Money« zu sehen +++ 

Filme des Monats: The Quiet Girl | Lars von Triers Geister-Sequel | Dumb Money | Ein ganzes Leben | Die Bologna-Entführung | Tótem | Joyland +++

In diesem Heft

Tipp

Vom Kalten Krieg bis zur Reagan-Ära: »Fellow Travelers« erzählt von den verschiedenen Strategien des Lebens und Überlebens queerer Menschen.
Wes Andersons Kurzfilmadaptionen von vier Roald-Dahl-Geschichten für Netflix spielen mit der Vieldeutigkeit des Lesens, Erzählens und Schauens – und setzen eigene Akzente gegen den Vorlagenautor.
In der Dokumentarserie »Country Music« widmen sich Ken Burns und Dayton Duncan den Americana und erzählen zugleich eine Sozialgeschichte der USA.
Fluch der Karibik: In »Nyad« porträtiert Annette Bening die Marathon-Schwimmerin, die es mit über 60 noch einmal wissen wollte.
In der britischen Graphic-Novel-Adaption »Bodies« involviert ein Leichenfund Polizisten aus verschiedenen Jahrzehnten und gar Jahrhunderten.
In Therapie: Die australische Serie »Wakefield« spielt in einer psychiatrischen Klinik, doch dort fliegt niemand über das Kuckucksnest.
Fröhliche Dystopie: Die dritte Staffel der Sci-Fi-Comedy »Upload« bürstet die virtuelle Realität gegen den Strich.
In »Eine Frage der Chemie«, Adaption des Bestsellers von Bonnie Garmus aus dem letzten Jahr, schlägt sich eine talentierte Chemikerin als TV-Köchin durch.
»The Boys«-Ableger »Gen V« findet neben drastischen Bildern und raffiniertem Slang mehr oder weniger hintergründige Metaphern für die schwierige Zeit des Heranwachsens.
Justine Triet verwebt auf faszinierende Weise ein Beziehungsdrama mit einem philosophisch fundierten Prozess-Thriller. Sandra Hüller triumphiert schauspielerisch als Frau, die im Verdacht steht, ihren Mann ermordet zu haben.
Die Neuauflage von »Frasier« wechselt den Schauplatz und versucht, vertraute Konstellationen mit neuen Figuren nachzubilden und wiederzubeleben.
Suffkopf, Schläger, Detektiv: Ein Genremix über den Kosakenkrieger »Maksym Osa«.
Hollywoods einstiger Glamour: Liam Neeson in »Marlowe«.
Im dritten Teil seiner losen Trilogie erzählt Paul Schrader in »Master Gardener« erneut von einem Mann auf der Suche nach Erlösung von seiner gewalttätigen Vergangenheit.
Zwischen Ost und West: Epochenwechsel aus weiblicher Perspektive: »Marleneken«.
Zwischen Größenwahn und Feinsinn: Das Dokuporträt »Lars ­Eidinger – Sein oder nicht sein«.
»Grow up, Baxter, be a mensch!« – Billy Wilders »Das Appartement« mit tollem Bonusmaterial.
Mike Flanagan (»Spuk in Hill House«) adaptiert Edgar Allan Poe und versetzt die Handlung von »Der Untergang des Hauses Usher« in die Gegenwart der amerikanischen Opioidkrise.
Am 5.11. spricht Regisseurin Aslı Özge im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit Eva Hielscher über ihren Film »Black Box«.

Thema

Erbe der Revolution oder verrückter Imperialist? Jedenfalls ein schillernder Charakter. Vor dem Start von Ridley Scotts Biopic: eine Revue der Napoleon-Projekte, von Abel Gance bis Stanley Kubrick.
Sandra Hüller spielt die Schriftstellerin, die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wird. Die Schauspielerin, demnächst auch in »The Zone of Interest«, hat gerade wieder einen guten Lauf. Ein Porträt.
Sie wurde bekannt mit dem Remake einer kolumbianischen Telenovela: »Ugly Betty« – ein Pionierjob. Aber danach war America Ferrera auf das Image der modernen Frau von nebenan festgelegt. Was man daraus machen kann, hat sie in »Barbie« gezeigt. Es müsste jetzt aufwärtsgehen.

Meldung

Was ist da los? Kulturkampf um einen Film, der sich gegen den weltweiten Sexhandel mit Kindern in Stellung bringt? So einfach ist es nicht. Der Background zum Überraschungserfolg »Sound of Freedom«.
Milena Aboyan, 31, ist Regisseurin und Drehbuchautorin. Sie wurde in Jerewan, Armenien, geboren. Ihr Langfilmdebüt »Elaha« lief in der Perspektive Deutsches Kino auf der 73. Berlinale und wurde mehrfach ausgezeichnet.
Das Filmfest Oldenburg hat sich in den letzten Jahren zu einem hoch angesehenen Treffpunkt für die internationale Independentfilm-Szene entwickelt. Das belegen auch die vielen Gäste, die dieses Jahr zum wiederholten Mal anwesend waren.
James Burrows, 1940 in Los Angeles geboren, hat bei Serien wie »Taxi« (1978), »Cheers« (1982) oder »Will & Grace« (1998) und der Ursprungsserie »Frasier« als Regisseur und Produzent gearbeitet.

Filmkritik

Eindringlich und lebensnah porträtiert Regisseurin Christina Ebelt eine schwangere Gewalttäterin, die um eine angemessene Umgebung für ihr Kind kämpft und in den offenen Strafvollzug wechseln will.
Exorzismus unter Frauen in einer estnischen Schwitzhütte, filmisch brillant realisiert, doch mit fadem essenzialistischen Beigeschmack.
Justine Triet verwebt auf faszinierende Weise ein Beziehungsdrama mit einem philosophisch fundierten Prozess-Thriller. Sandra Hüller triumphiert schauspielerisch als Frau, die im Verdacht steht, ihren Mann ermordet zu haben.
Eine Studentin fühlt sich nach einem schief gelaufenen Date gestalked – zu unrecht? Die Verfilmung einer kontrovers diskutierten Kurzgeschichte erweitert nicht nur die Vorlage um ein abstruses Ende, sondern verschiebt die ambivalent-feministische Charakterzeichnung und macht aus der Hauptfigur eine selbstbezogene, zunehmend hysterische Frau. Was als überspitztes Plädoyer für mehr Gelassenheit gedacht sein mag, wirkt am Ende beinahe reaktionär.
In einer ungreifbaren Stimmung zwischen Schwarz-Weiß-Melancholie und absurder Komödie erzählte Sinnsuche einer jungen Afghanin in den USA. Langsamkeit mit Rhythmus, Sinn und gutem Handwerk, dabei Klug und wohlgefällig.
Jim Caviezel als Special Agent, der alles gibt, um Kinder aus den Händen skrupelloser Menschenhändler zu befreien: Die angeblich wahre Geschichte kommt als glaubensbasierte Exploitation daher. Spannungsarm, voller Klischees und mehr an der Beweihräucherung seines Helden als an seinem ernsten Thema interessiert.
Titina war der Name der Terrierhündin, die gemeinsam mit dem italienischen Luftschiffbauer Nobile und dem norwegischen Entdecker Amundsen 1926 den Nordpol überflog. Næss erzählt dieses Abenteuer in ihrem Animations-Langfilm-Debüt unaufgeregt, in klaren Farben, warmherzig und mit viel Humor. Und immer hat sie dabei noch Zeit, ins Surreale auszufliegen.
Drei frisch gebackene Abiturientinnen fahren nach Italien, um die Freiheit zu genießen. Der »Ernst des Lebens« kommt nach einer Reifenpanne aber schon deutlich früher. Mit leichter Hand inszenierter Coming-of-Age-Film, der der Schwere des Themas gerecht wird.
Jeder weiß, dass das Schnitzel mal gelebt hat. Aber über die Zwischenschritte will man meist nicht nachdenken. Dieser Film tut es. Ein Dokumentarfilm für alle, die meinen, kein Fleisch ist auch keine Lösung.
Die Komödie über einen NS-Parolen plappernden Papagei, der die Familie einer Tierheimleiterin in eine Zerreißprobe zwischen Political Correctness und deutscher Lebenswirklichkeit stößt, vermag nur ansatzweise zu überzeugen.
Konventionell erzählte Dokumentation über die Entstehung einer einzigartigen Vermeer-Ausstellung in Amsterdam und die Faszination, die Kunst auslösen kann. Interessant aber nicht überragend.
Marco Bellocchio rekonstruiert den wahren Fall eines jüdischen Kindes, das mit sechs Jahren auf Geheiß des Vatikans der Obhut seiner Eltern entrissen wurde – mit einer Empörung, die zugleich aktuell und zeitlos ist.
Verfilmung des »GameStop«-Squeeze, bei dem Tausende Kleinanleger die Wall Street mit dem Ankurbeln einer wertlosen Aktie in Panik versetzten: Der Film macht daraus eine höchst vergnügliche und durchaus kritische Schelmengeschichte.
Das französische Liebesdrama über die Erinnerungen eines Schriftstellers an seine Jugendliebe lotet berührend das Verhältnis von Wahrheit und Lüge in der Fiktion aus und wie sublimierter Schmerz zum Trost für andere wird.
Mit beobachtender Kamera dokumentiert Pia Lenz ein altes Ehepaar und deren lebenslange Liebe, voller Würde, Intimität und Respekt. Eine außergewöhnliche Beziehung und ein ebenso außergewöhnlicher Film.
Als eine Gruppe von Geflüchteten aus Syrien in einer nordostenglischen Kleinstadt einquartiert wird, kommt es zu Konflikten mit den Einwohnern, die Sündenböcke für jahrelang aufgestaute Wut finden. Ken Loachs vermutlich letzter Spielfilm.
Die Familie der siebenjährigen Sol wuselt geschäftig durch ein großes Haus, um eine letzte Geburtstagsparty für ihren krebskranken Vater vorzubereiten. Meisterhaft verflechtet Lila Avilés viele Figuren, schamanische Rituale und einen sinnlichen Naturalismus zu einem zarten Drama über den Tod, das das Leben feiert.
Birgit Möller erzählt in ihrer skurrilen Tragikomödie von den Schwierigkeiten der Selbstfindung und inszeniert die Parallelwelt im Kopf von Hauptfigur Franky als schräge Hotel-Szenerie. Die unterschiedlichen Ideen und Handlungen sind nicht durchweg schlüssig, aber sehr erfrischend und haben in Lena Urzendowsky eine starke Hauptdarstellerin.
Die Emanzipationsgeschichte um eine junge Deutschkurdin, die vor der Hochzeit ihr Hymen rekonstruieren lassen will und Rollenerwartungen ihrer Familie hinterfragt, vermeidet Stereotype und wird von einer überzeugenden Protagonistin getragen.
Am Beispiel eines senegalesischen Vater-Sohn-Duos will das Drama an das Schicksal französischer Kolonialsoldaten gemahnen. Aufgrund der ungeschickten Inszenierung aber ist der Film trotz Sympathieträger Omar Sy weniger eindrücklich, als es dem Thema angemessen wäre.
Ein Schönheitswettbewerb für Frauen, die den Holocaust überlebt haben: was als abwegige Idee erscheint, gibt es in Israel wirklich, erdacht von einer Trauma-Therapeutin, die damit den Frauen helfen will, ihre Leidenserfahrungen für sich und andere zu bewahren. So eindrucksvoll die Schilderungen der drei Protagonistinnen sind, so vage bleibt doch die Darstellung der Veranstaltung.
Ein etwas zu löchriger Film über das von Rätseln durchzogene Leben einer großen Künstlerin, die Geschichte des Flamencos und die ambivalente Macht von Familie und Patriarchat.
Philipp Jedicke taucht ein in die Wiener Underground-Musikszene. Eine subjektiv anarchische Ode an die Subkultur und zugleich eine filmische Bühne, auf der sich die Charakternasen austoben dürfen.
Hans Steinbichlers Verfilmung von Robert Seethalers Roman »Ein ganzes Leben« erzählt die Geschichte des schweigsamen Andreas Egger, dessen einfaches, aber reiches Leben sich vor atemberaubender Bergkulisse entfaltet. Die werktreue, ruhige Inszenierung des Buchs wird Fans gefallen, lediglich der Bergdialekt wirkt arg gekünstelt.
Die Geschichte um ein vernachlässigtes Mädchen, das während eines Sommeraufenthalts bei Verwandten ungeahnte Fürsorge erfährt, kommt einfach und unspektakulär daher und ist gerade deswegen berührend.
Hannes Hirsch erzählt in seinem Regiedebüt authentisch und zeitgemäß von queeren Körpernormen und Wahlfamilien und findet für seine Entwicklungsreise eines jungen Mannes einen ganz eigenen fließenden Rhythmus.
In ruhigen Bildern zeichnet Martin Schilt den Weg der Krähe in unsere heutige Zivilisation nach. Dabei verbindet er in seinem Dokumentarfilm geschickt wissenschaftliche Erkenntnisse über die Tiere mit einer unterschwelligen Kritik am Konsumverhalten der Menschen.
Tragikomische Mutter-Sohn-Geschichte, die ironisch den Finger in die Wunde europäischer Migrationspolitik legt und nie die Geflüchteten selbst, aber Politik, Bürokratie und Medien bloßstellt, wenn auch weniger scharf als sanft-süffisant.
Dokumentarfilm über eines der wirkungsvollsten Kunstfilmtheater, den Filmladen in Kassel, der gerade erneut mit dem Hessischen Kinopreis ausgezeichnet wurde.
Ein verheirateter Mann verliebt sich in eine Transfrau – aus dieser Prämisse macht der pakistanische Regisseur Saim Sadiq nicht nur einen berührenden Beziehungsfilm, sondern auch ein komplexes Familiendrama und ein facettenreiches Porträt der muslimisch geprägten Gesellschaft seiner Heimatstadt Lahore. Ein exzellent gespieltes und eindrucksvoll umgesetztes Regiedebüt, das von Identität, Begierde und Selbstfindung erzählt und nebenbei jede Menge bestehende Strukturen hinterfragt.
Marta, die in Madrid mit Leo lebt, kommt ihrem Ex beim Sommerurlaub in der Heimat wieder näher. Der spanische Regisseur Diego Llorente erzählt sozialrealistisch und zugleich poetisch von einer Frau, die zwischen zwei Lebenswelten und Männern hin- und hergerissen ist.
25 Jahre nach der zweiten Staffel kommt mit »Geister – Exodus« die furios inszenierte Fortsetzung von Lars von Triers Kultserie in die Kinos.
In seinem Remake der französischen Erfolgskomödie des Duos Nakache/Toledano überträgt Fernsehregisseur Richard Huber den Stoff und die Konstellationen nahezu eins zu eins von Paris nach Köln, von Max auf Dieter und importiert auch die meistens Gags weitgehend unverändert. Das ist zwar nicht sonderlich originell, aber dank eines gut aufgelegten Schauspielerensembles durchaus amüsant.
Nachdem David Gordon Green die »Halloween«-Saga wieder belebt hat, nimmt er sich nun des Erbes von William Friedkins »Der Exorzist« an. Er tut dies ästhetisch zunächst sträflich kurzatmig, gibt der Dämonenaustreibung am Ende aber einen bestrickend ökumenischen Dreh. Ellen Burstyn fungiert als Mentorin eines Darstellerensembles, das neben Leslie Odom jr. mit einer einnehmenden Ann Dowd prunken kann.

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