Kritik zu Vienna Calling
Philipp Jedicke porträtiert subjektiv und auf sehr atmosphärische Weise die Wiener Underground-Musikszene um Voodoo Jürgens, Der Nino aus Wien, EsRap, Lydia Haider, Gutlauninger oder Kerosin95
Den Drohnenabsturz zu Beginn darf man schon sinnbildlich verstehen. Das Fluggerät saust über die österreichische Hauptstadt, verleiht ihr mit breiten Panoramabildern etwas Erhabenes, bevor es zu Boden kracht.
Die Gosse ist es nicht, die Philipp Jedicke zeigt, aber klassisch pittoresk ist hier wenig. 1001 Zigaretten werden geraucht und Bier und Schnaps getrunken, und sie alle, Voodoo Jürgens, Der Nino aus Wien, EsRap, Lydia Haider, Gutlauninger oder Kerosin95, sind herrlich exzentrische Typen. Sie sind, ob als Wiener-Mundart-Liedermacher, Gaga-Pop-Erscheinung, Rapper oder was das kulturelle Wien noch zu bieten hat, Teil einer Musikszene abseits des Mainstreams. Sie sind »underground«, könnte man im 90er-Jahre-Sprech sagen, wobei jemand wie Voodoo Jürgens als international rezipierter Künstler da mittlerweile etwas herausfällt.
In besagten Untergrund geht es buchstäblich, wenn der Dokumentarfilm den Veranstalter Samu Casata bei den Vorbereitungen für seine Geburtstagsparty im Wiener Kanalsystem begleitet: ein geheimer Eingang in einer Litfaßsäule, dunkle Gänge – Carol Reed »Der dritte Mann« lässt grüßen. Aber auch ins Rotlichtmilieu, wo Voodoo Jürgens sich bei einem Auftritt unter Corona-Bedingungen in einer Peepshow mit Gitarre auf einem Plüschsofa fläzt.
»Vienna Calling« ist ein schön fotografierter Dokumentarfilm-Zwitter: einerseits das kauzige Porträt einer lebendigen Szene und damit auch eine nikotingeschwängerte Ode an die Subkultur, andererseits eine filmische Bühne, auf der sich die Charakternasen austoben dürfen. Schräg etwa Gutlauninger, der mit goldenem Anzug und Sonnenbrille in seinem Wohnzimmer den Song »Was Neues« performt, mit dem Motorrad durch die Gegend saust und später Fake-Klimmzüge in einem leeren Swimmingpool macht. Die sich als nichtbinäre Person definierende Kerosin95 kauft ein Brautkleid und spielt darin Drums auf einer großen Freifläche, bevor sie das Instrument klein haut.
Der Film taucht ein ins Szenelokal »Schmauswaberl«, ins Café Weidinger, in Wohnzimmer und Konzertsäle oder in das verspiegelte Haarparadies von Falcos Starfriseur Erich Joham, in dem sich Der Nino aus Wien die Haare schneiden lässt. »Es wachst sowieso nach, oder?« In einer anderen schönen Szene schaut Letzterer Voodoo Jürgens dabei zu, wie der ihn malt. »Ich hör jetzt komplett zum Rauchen auf und beginn' halt mit einfachen Sachen. Kniebeugen«, sagt Nino rauchend und trinkend.
»Vienna Calling« ist kein Film, der Vollständigkeit verspricht. Vielmehr liefert der deutsche Regisseur, der zuvor in »Shut Up and Play the Piano« den kanadischen Piano-Kauz Chilly Gonzales porträtiert hat, einen subjektiv anarchischen Blick auf verschiedene Musiker und lässt, anstatt Interviews zu führen, gern deren Musik sprechen.
Der Film sei, heißt es einmal doppeldeutig augenzwinkernd, ein inszenierter »Rock-'n'-Roll-Zirkus« und alles um die Szene Schwindel, weil die Deutschen das hören wollten. Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen.
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