Netflix: Wes Andersons Roald-Dahl-Adaptionen
Einen Betrag im dreistelligen Millionen-Dollar-Bereich soll Netflix für die Filmrechte am Werk des wegen rassistischer Stereotypen und offen antisemitischer Äußerungen umstrittenen Autors Roald Dahl hingelegt haben. In Venedig wurde mit »The Wonderful Story of Henry Sugar« die erste und mit fast 40 Minuten längste von vier Adaptionen des amerikanischen Regisseurs Wes Anderson vorgestellt. Die weiteren bei Netflix abrufbaren Filme »The Rat Catcher«, »The Swan« und »Poison« sind knapp halb so lang.
Andersons Ästhetik, in bester Erinnerung aus »Grand Budapest Hotel« (2014) und zuletzt »Asteroid City« (2023), treibt hier seinen vom epischen Theater entliehenen Ansatz auf die Spitze. Die Handlung der vier Storys wird auf vielfache Weise immer wieder gebrochen. Meist in Zentralperspektive gefilmt, wird die »vierte Wand« hin zum Publikum, wie von Brecht gefordert, eingerissen. Die Schauspieler agieren nahezu durchgehend mit dem Blick ins Auditorium. Ständig fallen sie buchstäblich aus der Rolle, sprechen den Erzähltext und von sich selbst in der dritten Person. Bühnenarbeiter wuseln durch die Szene, schieben Gegenstände oder überreichen Requisiten. Während die Schauspieler – Frauen kommen in den Filmen nicht vor – ihre Textmassen vortragen, herrscht mit dem permanenten Wechsel der computeranimierten Kulissen im Hintergrund ein buntes, manchmal hektisches Treiben. In »Henry Sugar« fühlt man sich zwischenzeitlich in die Urwaldbilder des naiven Malers Henri Rousseau versetzt.
Inhaltlich und inszenatorisch sind die Filme unterschiedlich komplex. »The Wonderful Story of Henry Sugar« ist eher eine auf mehreren Erzählebenen angelegte reine Illustration von Dahls Story über einen gierigen Mann (Benedict Cumberbatch), der von einem indischen Guru (Ben Kingsley) lernt, mit einer Art Röntgenblick Spielkarten von hinten zu erkennen. Damit erschwindelt er in den Casinos rund um den Globus ein märchenhaftes Vermögen – um sich am Ende zu einem Philanthropen zu wandeln.
Stärker mit der Botschaft des Films verknüpft sind die epischen Elemente in »The Rat Catcher«, in dem ein Mann (Rupert Friend) einen schmierigen Rattenfänger (Ralph Fiennes) engagiert, um die Plage vor seinem Geschäft loszuwerden. Anderson treibt hier ein Vexierspiel mit den Rollen, nimmt teilweise die Perspektive der Tiere ein und lässt eine ausgemergelte Ratte mit menschlichem Gehabe auftreten, während der Geschäftsmann pantomimisch in die Rolle der leidenden Kreatur schlüpft. Ein Effekt, der Mitleid statt Abscheu produziert.
Der bedrückendste der vier Filme ist Andersons Adaption der Kurzgeschichte »The Swan«. Dahl erzählt darin von dem jungen Peter Watson (Asa Jennings), dessen Hobby es ist, Vögel zu beobachten. Von zwei brutalen Jugendlichen schikaniert, muss er zusehen, wie diese einen brütenden Schwan erschießen. Anderson lässt diese Geschichte von dem inzwischen erwachsenen Peter (Rupert Friend) an der Seite des kleinen Peter erzählen – die beiden Missetäter treten nicht auf – und thematisiert damit das Trauma, das dieser seinerzeit erlitt. Verdichtet wird das durch die extreme Artifizialität der Inszenierung. Die beiden Akteure bewegen sich in einer Allee zwischen Kornfeldern, in denen sich Türen öffnen und Requisiten herausgereicht werden. Der Höhepunkt, der Tod des Schwans, wird in einer Art animiertem Laterna-Magica-Bild verfremdet. Peter sei aus der Geschichte gestärkt hervorgegangen, sagt Ralph Fiennes als Erzähler Roald Dahl am Ende. Andersons verstörendes Schlussbild konterkariert diese Aussage: Der abgestürzte erwachsene Peter, mit Schwanenflügeln an seinen Schultern, liegt tot auf dem Rasen vor dem Haus seiner Mutter.
»Poison« schließlich erzählt von dem britischen Kolonialoffizier Harry (Cumberbatch), der in Schockstarre auf seinem Bett liegt, weil er sein Leben von einer Schlange auf seinem Bauch bedroht sieht. Ob es die wirklich gibt, lässt Anderson in seinem Film offen, ebenso welche obskuren Heilmethoden der Arzt Dr. Ganderbai (Kingsley) anwendet, bis der scheinbar Gerettete von seinem Bett aufspringt und den Arzt als »kleine bengalische Kanalratte« beschimpft. Anderson unterläuft hier den offenen Rassismus von Dahls Vorlage, indem er Harry aus Untersicht als ein bedrohliches Monster inszeniert. Der Einzige, der hier Gift spuckt, ist Harry, der Herrenmensch.
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