Kritik zu Drifter
Hannes Hirsch schildert in seinem mit dem »First Steps«-Nachwuchspreis ausgezeichneten Regiedebüt authentisch und zeitgemäß einen schwulen »Bildungsroman« in der kosmopolitischen Queer-Community Berlins
Im Sommer flirrt in Berlin die Luft. Das Leben spielt sich draußen ab, in Parks, auf den Straßen und an den Sandstränden der Badeseen. Es wird gefeiert, geflirtet und gechillt. Alles scheint möglich, vor allem wenn man jung und neu in der Stadt ist. Wie Moritz, der im Alter von 22 Jahren gerade hierhergezogen ist, zu seinem Freund Jonas, mit dem er jetzt zusammenlebt. Sie haben viel Sex, Moritz lernt neue Leute kennen, lässt sich treiben, das mit dem Studieren kann auch noch bis nächstes Semester warten, oder übernächstes. Geld von Mama reicht erst mal. Davon kauft er Jonas ein teures Rennrad, will ihn mit dem Geschenk überraschen. Abends vorm Club fragt Jonas dann aus dem Nichts: Kannst du heute woanders schlafen? Moritz versteht erst nicht. Er brauche mal Abstand, sei nicht so der WG-Typ. Jetzt ist klar: Moritz wird gerade verlassen. Schluss, aus und vorbei.
Zunächst wie benommen hält er sich kurz an einer Affäre mit dem etwas älteren Noah fest, fühlt sich dort aber bald eingeengt und taucht immer selbstsicherer ein in die Partyszene der Stadt, probiert sich aus, lebt bislang verdrängte Vorlieben und Fetische aus. Gespräche mit ständig wechselnden, meist queeren Personen in seinem Alter sind zugewandt und oft merkwürdig schnell intensiv, verpuffen dann aber folgenlos. Gefühle werden ebenso unvermittelt ausgetauscht wie sexuelle Handlungen, es regiert eine Art konsensueller Hedonismus, bei dem jede Person die eigenen Präferenzen und Grenzen durchdekliniert und damit schnell geeignete Sexpartner*innen aussiebt. Immer wieder sind dabei Drogen am Start, zwischenzeitlich droht Moritz die Kontrolle zu entgleiten.
Hannes Hirsch erzählt in seinem Regiedebüt, das gerade mit dem »First Steps«-Nachwuchspreis als bester Spielfilm ausgezeichnet wurde, sehr authentisch und zeitgemäß von schwulen Körpernormen, nichtheterosexuellen Wahlfamilien und nicht zuletzt der jungen, kosmopolitischen Berliner Queer-Community. Dazu braucht er kein großes Drama oder lange Dialoge, die Figuren sprechen ohnehin kaum mehr als abgehackte Floskeln des internationalen Party-Emo-Slangs. Mit feiner, fast dokumentarischer Beobachtungsgabe widmet der Film sich solchen kleinen Details und Gesten, er driftet wie sein Protagonist in seinem ganz eigenen Rhythmus – und findet in diesem Mikrokosmos dann doch einen recht konventionellen Erzählbogen.
Aus dem anfangs unbedarften, schüchternen Jungen aus der Provinz, den Lorenz Hochhuth überzeugend verkörpert, wird so im Laufe dieser Entwicklungsreise am Ende ein auch optisch gewandelter junger Mann, der sich in Frisur und Outfit dem androgynen Queerstream Berlins angeglichen hat und sich seiner Ausstrahlung und Wirkung auf andere sehr bewusst ist. Er wird seinen Weg weitergehen, auch wenn er nicht weiß, wohin. »Where do I go?«, fragt dazu der pochende Electrotrack »Elevator« von Minitel Rose, während die Kamera mit Moritz den Blick nach oben zieht, in den leicht wolkenverhangenen Himmel über Berlin. Alles bleibt möglich.
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