06/2023

»Die Welt unter einem Dach« – Was wird aus den Innenstädten, wenn es diese Orte der Verdichtung und des zwanglosen Konsums nicht mehr gibt? Ein Streifzug durch die Kaufhäuser der Filmgeschichte, von Chaplin bis Carax +++ 

»Würde Jesus Pipelines sprengen?« – Immerhin hat er die Geschäftemacher mit der Peitsche aus dem Tempel getrieben. Viele neue Filme handeln von praktischen und ethischen Problemen des zivilen Widerstands. Jetzt startet die Spielfilmversion des Bestsellers »How to Blow Up a Pipeline« +++ 

»It's hip to be strange« – Er stammt aus einem Hollywoodclan (Coppola) und hat als Teenager eine neue Familie gefunden. Bei Wes Anderson ist Jason Schwartzman praktisch gesetzt. Auch in »Asteroid City« +++ 

Filme des Monats: Nostalgia | How to Blow Up a Pipeline | Bis ans Ende der Nacht | Arielle | Trenque Lauquen | Die Nachbarn von oben | Medusa Deluxe

In diesem Heft

Tipp

Mit »Der Greif« wird erstmals ein Roman von Wolfgang Hohlbein, seit Jahrzehnten einer der produktivsten deutschen Fantasyautoren, als Serie verfilmt.
Die vierteilige Dokumentation »Juan Carlos – Liebe, Geld, Verrat« betreibt alles andere als Hofberichterstattung, sondern zeichnet den Niedergang eines einstigen Polit-Idols nach.
Männer, die auf Ziegen starren: Mit der originellen Produktion »Echte Norweger« zeigt Arte einen kühnen, aber rundum gelungenen Genremix.
Wien ist auch keine Lösung: Die ZDF-Serie »Der Schatten« besteht aus bekannten, unzureichend verfugten Versatzstücken.
In »Still: A Michael J. Fox Movie« wird mit virtuoser Film-im-Film-Montage das Schicksal des quirligen Helden aus dem Komödienklassiker »Zurück in die Zukunft« beleuchtet, der seit 1990 an Parkinson leidet.
Verlorene Jungs und taffe Girls: David Lowery setzt mit »Peter Pan & Wendy« neue Akzente, indem er Stoff und Figuren einer Frischekur unterzieht.
In »Platonic« sind sich Sylvia (Rose Byrne) und Will (Seth Rogen) der eigenen Ähnlichkeiten zu »Harry & Sally« wohl bewusst, setzen sich aber ab.
In »Tulsa King« findet Sylvester Stallone als New Yorker Mafioso, der sich die Provinz erobert, eine charmante Altersrolle.
Der Liberace von Sandusky: Ein ehemaliger Star-Friseur tritt in »Swan Song« seine letzte Reise an.
In der Apple-TV-Serie »Silo« ist die Erde verseucht, die zehntausend Überlebenden haben sich tief in die Erde eingegraben, eine funktionierende Gemeinschaft gegründet und jedes Wissen über das Vorher vergessen.
Das zensierte Biest: Die Klassiker »King Kong und die weiße Frau« und »King Kong – Das achte Weltwunder« erstmals auf Blu-ray und in der deutschen Fassung von 1933.
München, 23.6.–1.7. – Das Filmfest München wird 40 und bietet aus diesem Grund ein besonders umfangreiches Rahmenprogramm. Ansonsten sind erneut rund 150 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme sowie Fernsehfilme in internationaler, europäischer oder deutscher Erstaufführung zu sehen. Auch Reihen wie das Kinderfilmfest feiern ihr Jubiläum gebührend.
Frankfurt am Main, 6.–11.6. – Zum dreiundzwanzigsten Mal bringt die Nippon Connection Kino und Kultur aus Japan nach Frankfurt. Im Mittelpunkt stehen 100 japanische Spielfilme, Animes, Dokus und Kurzfilme. Zudem gibt es Workshops, Konzerte sowie viele Marktstände und ein großes kulinarisches Angebot. Stargast ist dieses Jahr die Schauspielerin und Sängerin Toko Miura, die unter anderem aus dem oscarprämierten Film »Drive My Car« bekannt ist.
Hamburg, 6.–11.6. – Den Status quo des weltweiten Filmschaffens vermitteln und Lust machen auf kurze Filme. Das möchte das Kurzfilmfestival Hamburg mit seinem Programm erreichen. Das auf aktuelle Debatten ausgerichtete Motto der diesjährigen Ausgabe lautet »Now!« und ist orientiert am gleichnamigen Kurzfilm von Santiago Alvarez aus dem Jahr 1965. Highlight ist zudem eine Installation des Duos »Luftwerk« aus Chicago im Ausstellungsraum des Festivals.
Gera/Erfurt, 4.–10.6. – Das Kinder Medien Festival »Goldener Spatz« bietet erneut ein buntes Programm für Kinder und Jugendliche. Zu sehen ist beispielsweise der Animationsfilm »Maurice, der Kater«, der Klassiker »Der Räuber Hotzenplotz« oder der Jugendfilm »Sonne und Beton«. Die Filme »Lassie – Ein neues Abenteuer«, »Kannawoniwasein!« und »Jonja« laufen als Welt- beziehungsweise Deutschlandpremiere.
Wiesbaden, 19.5.–18.6. – Zusammen mit dem Deutschen Filminstitut und Filmmuseum veranstaltet die Stadt Wiesbaden im Wiesbadener Bellevue-Saal eine Ausstellung, die mit unterschiedlichsten Exponaten das Wirken des legendären Filmemachers Volker Schlöndorff beleuchtet. Mit eigens von ihm erstellten Erklärungen in Bild, Ton und Text. Die Caligari Film-Bühne zeigt zudem parallel eine Filmreihe mit Schlöndorffs Filmen sowie Werken, die ihn geprägt und inspiriert haben.
Emden/Norderney, 7.–14.6. – Das Internationale Filmfest bringt insbesondere nordwesteuropäische Produktionen nach Ostfriesland. Eine Werkschau für den Schauspieler Moritz Bleibtreu präsentiert Filme wie »Lola rennt« und »Soul Kitchen«. Im Extraprogramm für junges Publikum sind unter anderem »Lucy ist jetzt Gangster« und »Wo ist Anne Frank?« zu sehen.
Am 8.6. spricht David Wnendt im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit Ulrich Sonnenschein über seinen Film »Sonne und Beton«.
Die Wege dreier Freunde: Der Anime: »Goodbye, Don Glees!«.
Die Evangelische Filmjury empfiehlt den Coming-of-Age-Film »20.000 Arten von Bienen« der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren, weil er sich auf nuancierte und feinfühlige Weise mit einem der großen Themen unserer Gegenwart befasst: der Suche nach geschlechtlicher Identität.
Wind und Wüste in Cinemascope: Der polnische Monumentalfilm »Pharao« von 1966 auf DVD.
Rundum gut: Die Biografie der österreichischen Volksschauspielerin Annie Rosar.
Als die Bilder Schauer auslösten: Walter Benjamins wegweisender Essay »Kleine ­Geschichte der Photographie« in neuer Ausgabe.

Thema

Mit der ­Großstadtphantasie ­»Orphea in Love« ist dem ­Regisseur in Kooperation mit der Bayerischen Staatsoper eine hinreißende Fusion aus Kino und Musiktheater gelungen. Axel Ranisch im Gespräch über seinen Musikfilm.
Seine Spezialität sind Kultfilme mit Hipster-Appeal. Wie die von Wes Anderson, der Jason Schwartzman als Teenager in »Rushmore« groß herausbrachte. Auch in Andersons neuem Film »Asteroid City«, der in Cannes Premiere hatte, ist Schwartzman mit von der Partie.
Viele neue Filme handeln von praktischen und ethischen Problemen des zivilen Widerstands. Jetzt startet die Spielfilmversion des Bestsellers »How to Blow Up a Pipeline«.
Was wird aus den Innenstädten, wenn es diese Orte der Verdichtung und des zwanglosen Konsums nicht mehr gibt? Ein Streifzug durch die Kaufhäuser der Filmgeschichte, von Chaplin bis Carax.

Meldung

Christoph Hochhäusler 50, Regisseur, Autor, Filmpublizist. Bewegt sich mit »Milchwald«, »Falscher Bekenner« und »Unter dir die Stadt« zwischen Autoren- und Genrekino. »Bis ans Ende der Nacht« lief im Wettbewerb der Berlinale.

Filmkritik

Eigentlich müsste diese melancholische Komödie um einen aus der Zeit gefallenen Macho, der spät väterliche Gefühle entwickelt, ein Starvehikel für Frank Dubosc sein. Aber der Hauptdarsteller, Regisseur und Autor überlässt die trefflichsten Gags seinen Leinwandpartnern; namentlich Michel Houellebecq, der in der Rolle eines Kardiologen als vergnügter Schwarzmaler glänzt.
Drei Geschwister, die als Erwachsene der Nähe nachspüren, die sie einst verband, stehen im Zentrum des neuen Films von US-Independent Regisseur Dustin Guy Defa, dessen Arbeit in Deutschland bislang noch kaum Wellen schlug. Hier gelingt ihm ein feines, kleines Familiendrama mit einer guten Portion verspielten Witzes, das nicht zuletzt davon lebt, wie überzeugend Michael Cera, Hannah Gross und Sophia Lillis nicht nur die geschwisterlichen Bande spürbar machen, sondern auch die Leerstellen des Drehbuchs mit Leben füllen.
Aus den trostlosen Lebensumständen auf einer texanischen Farm 1918 flüchtet eine junge Frau in Kinoträume, in denen sie ein Star ist. Bei deren Verwirklichung wird sie sich von niemandem aufhalten lassen. Das Prequel zum letztjährigen Splatterfilm »X« ist trotz mehrerer drastischer Mordszenen eher das Drama einer Figur, intensiv verkörpert von Mia Goth, die hier auch als Co-Autorin fungiert.
Grandios erzähltes Familiendrama um eine traumatische Erfahrung, dicht erzählt und im Zusammenspiel mit Kamera, Musik und Schnitt perfekt inszeniert – mit dem großartigen Ensemble von Anna Maria Mühe und Michael Wittenborn.
Nach 40 Jahren kehrt Felice in sein altes Viertel in Neapel zurück, aus dem er als jugendlicher Ganove fliehen musste. Inzwischen ist er zum Islam konvertiert und hat es in Kairo zu einem erfolgreichen Bauunternehmer gebracht. Aber wie viel Heimat steckt noch in ihm? Mario Martones Film versenkt sich tief in die Atmosphäre seines Schauplatzes, der neben der magnetischen Besetzung (angeführt von Pierfrancesco Favino in demütiger Hochform) eine Hauptrolle spielt.
Mit ihrem feinsinnigen literarischen Roadmovie entfachen den beiden Argentinierinnen Laura Paredes und Laura Citarella lateinamerikanische Kinomagie.
Mit ihrem Debüt gelingt Lori Evans Taylor ein solider Spukfilm über eine Schwangere, die nach einer Fehlgeburt von panischen Ängsten heimgesucht wird.
Beim Wettbewerb für exaltierte Friseuren wird ein Teilnehmer skalpiert aufgefunden. Thomas Hardimans rasante, scheinbar schnittfreie Krimikomödie interessiert sich dabei weniger für die Aufklärung des Falls, als eine Subkultur und ihre spektakulären Styles zu feiern. Ein irrer Spaß.
Der streckenweise verblüffende finnische Horrorfilm schlägt eine andere Tonart an als jene einander zunehmend gleichenden nordischen Thriller, die seit gut zwanzig Jahren vorwiegend nach Deutschland exportiert werden. In ihrem sehenswerten Debüt gelingt den beiden Finnen Max Seeck und Jonas Pajunen ein atmosphärischer Horrorthriller mit einer durchaus originellen Pointe.
Porträt der Holländerin Tanja Nijmeijer, die sich als 24Jährige in Kolumbien den Guerillas der FARC anschloss, die seit 1964 den längsten Bürgerkrieg Lateinamerikas führte. Die Veröffentlichung von (selbst-)kritischen Aufzeichnungen, die die Armee 2007 erbeutet, macht sie zu einer Medienperson, über die viele Spekulationen kursieren. In diesem Film kann sie aus ihrer Sicht erzählen, bleibt bei einigen grundsätzlichen Fragen (wie der Zusammenarbeit der FARC mit Drogenkartellen) vage.
Berührend und doch ohne Kitsch erzählt Marie-Castille Mention-Schaar von dem Mut und der Leidenschaft zweier junger Frauen, die trotz aller Widrigkeiten ihren Traum verwirklichen, ein Orchester für alle zu gründen – mit zwei herausragenden Hauptdarstellerinnen, nach einer wahren Geschichte.
Axel Ranischs neuer Film ist im Vergleich zu seinen frühen »German Mumblecore«-Werken mit großer Finesse gestaltet und erzählt den Orpheus-und-Eurydike-Mythos in brillanten Bildern neu: als Opern-Pasticcio, das aber – hier bleibt sich Ranisch treu – alle Grenzen von E- und U-Musik wie auch die Regeln des Musikfilms charmant über den Haufen wirft und mit Schwung, Liebe und Humor überzeugt.
Dank fein austarierter Dialoge und bezaubernd nuancierter Spiellust wird eine legere Einladung zum Apero unter Nachbarn zum vergnüglich bösen, dezent komischen, brillant getimten und immer wahrhaftigen Paartherapietheater, und das so melancholisch nachdenkliche wie befreiend lustige Schweizer Remake einer spanischen Erfolgskomödie zum erfrischenden Vergnügen.
Eigentlich soll der verdeckte Ermittler Robert mit der Transfrau Leni einen Online-Drogenhändler zur Strecke bringen. Christoph Hochhäuslers neuer Film spielt mit den Erwartungen an das Genrekino, behauptet aber am Ende mehr als er Entwicklungen zeigt.
Dystopischer Science-Fiction, angesiedelt in einer vom Wassermangel an den Rand des Zivilisierten getriebenen Gesellschaft. Eine junge Frau erfährt von möglichen rettenden Ressourcen und hadert mit Wissen und Misstrauen. Die Themen des Films sind aktueller als man zugeben möchte, die Umsetzung weitaus fader als angesichts dessen gestattet wäre.
Das dokumentarische Langfilmdebüt von Max Eriksson über den ehemaligen Skaterprofi Ali Boulala und den Unfall, der 2007 dessen Karriere und fast auch dessen Leben beendete, porträtiert mit Archivmaterial und Interviews die wilde Szene von Profiskatern in den 1990er und 2000er Jahren wie einen wilden Sog.
Basierend auf dem gleichnamigen Sachbuch des schwedischen Ökologen und Umweltaktivisten Andreas Malm fächert Daniel Goldhaber die verschiedenen Positionen zum Klima-Aktivismus auf viele Figuren auf, ohne dass es konstruiert wirkt. Die Wut der jungen, sich radikalisierenden Aktivisten pulsiert durch diesen so spannenden wie dringlichen Öko-Heist-Thriller.
Der angekündigte finale »Guardians«-Film mit der aktuellen Besetzung bringt noch einmal das Beste und das Schlechteste der Marvel-Projekte auf den Punkt: zu lang, zu wuselig, aber mit erstaunlich viel Herz und Witz.
Blick in die dunklen Ecken einer militarisierten Welt: Zwischen knallharter Rekruten-Ausbildung und frivoler Frauenfeindlichkeit entsteht es eine heimliche homosexuelle Liebe.
Mit einem wahrlich schillernden Bösewicht gelingt es Louis Leterrier, die bewährte Nummernrevue von spektakulären ­Actionszenen in einen erzählerischen Rahmen einzubinden. Eine durch Rom polternde, riesige Kugelbombe und der Showdown am portugiesischen Aldeadávila-Damm liefern große Kinomomente.
Dokumentation einer inner-familiären Kanutour, die um die eigentlich im Raum stehenden Fragen einen großen Bogen macht.
Warum genau die Gallier nach China müssen, erschließt sich zwar nie so recht – doch das fünfte Realfilmabenteuer der legendären Comichelden besticht mit aufwändiger Ausstattung und einem Bombardement von Blödeleien, in denen gelegentlich der Geist der Comics aufblitzt.
Zwei Paare mit Kindern machen Urlaub auf Bornholm. Ferientypisch aber will sich Entspannung gar nicht erst einstellen, stattdessen brodelt Unbehagen hoch und eskalieren verdrängte Konflikte. Beziehungstragikomödie für Erwachsene, die bewegend vom Feststecken im eigenen Leben erzählt und sich schauspielerischen Glanzleistungen in wunderschöner Landschaft verdankt.
Weder was Schwiegereltern-Komödien noch das unter Comedians übliche Ausschlachten der eigenen Biografie als Gag-Material weiß Sebastian Maniscalcos erster eigener Kinofilm wirklich zu überzeugen. Entweder hätte sein Spiel mit kulturellen Unterschieden und althergebrachten Vorurteilen mehr Wahrhaftigkeit gebraucht oder im Gegenteil den Mut zu noch mehr Absurdität. Immerhin: Robert De Niro als Italo-Papa mit peinlichem Klingelton und Vorliebe für penetrante Düfte sorgt für die besten Momente.
Sieht gut aus, hört sich gut an: Die aufwendige Neuverfilmung des Disney-Zeichentrickmusicals als Live-Action-Abenteuer beweist, dass das Studio immer noch die Kunst der Überwältigung beherrscht.

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