01/2016

»Doppelbelastung« – Wenn Schauspieler Kontrolle über ihre Filme erlangen wollen, produzieren sie selbst. Und nicht nur Superstars wie Leonardo DiCaprio, auch Quertreiber wie Zachary Quinto nutzen ihren Einfluss, um sich für politische Anliegen zu engagieren oder Geschichten auf die Leinwand zu bringen, die im profit- orientierten Alltagsgeschäft keine Chance hätten +++ 

»Keine Heimat, nirgends« – Überall auf der Welt sind Menschen auf der Flucht. Das Kino der letzten Jahre hat darauf reagiert – mit einfühlsamen, umsichtigen Filmen, die der Not der Migranten näher kommen als die aktuellen Medien. Ein Essay von Georg Seeßlen +++ 

»Seltsame Typen« – Mit Figuren aus dem 3D-Drucker hat Charlie Kaufman »Anomalisa« gedreht. Gerhard Midding über die schräge Geschichte der Animationsfilme für Erwachsene +++ 

Filme des Monats: VALLEY OF LOVE +++ LOUDER THAN BOMBS +++ ANOMALISA +++ CREED +++ THE BIG SHORT +++ THE DANISH GIRL (plus Interview mit Tom Hooper) +++

In diesem Heft

Tipp

Der amerikanische Regisseur George Armitage macht gerne Gangsterfilme, sein – überschaubares – Werk kann man auf DVD und Bluray entdecken
Zwei Mal Steven Soderbergh: »The Underneath« und »Magic Mike XXL«
Deutsches Fernsehen – geht doch! »Das Programm« ist ein hochspannender, überlegt inszenierter Thriller mit einer großartigen Nina Kunzendorf in der Hauptrolle
Früher bekamen Frauen vor allem dann Oscars, wenn sie in glamourösen Filmen große Roben trugen. Heute sind die Anforderungen härter. Die Geschichte der »best actresses« – jetzt in Berlin
Hoppla, jetzt komm ich! – Die Hans-Albers-Hommage »In meinem Herzen, Schatz...« von Hans-Christoph Blumenberg
am Mi., den 6.1. in Frankfurt am Main – epd Film-Redakteur Rudolf Worschech spricht mit Regisseurin Julia von Heinz über »Ich bin dann mal weg«
Ein kleiner Junge in einem maroden Havanna: Der kubanische Regisseur Ernesto Da­ranas hat aus dessen Geschichte ein kleines neorealistisches Meisterwerk gemacht
7. Januar – 28. Februar, München – Truffaut begann seine Karriere als Filmkritiker bei den »Cahiers du Cinéma« und wurde eine Schlüsselfigur der Nouvelle Vague. Das Filmmuseum zeigt über mehrere Wochen eine umfassende Werkschau. Komplettiert wird das Programm durch Filme von Regisseuren, die er geschätzt hat: Alfred Hitchcock, Ernst Lubitsch, Jean Renoir
25.–31. Januar, Bamberg – Bayerns ältestes Filmfestival wartet mit 35 Veranstaltungen und über 100 Filmen auf, mit Fokus auf dem deutschsprachigen Film. Partner ist neben deutschsprachigen Filmhochschulen erstmals die Prager Filmakademie FAMU
28.–31. Januar 2016, Würzburg – Die Filminitiative Würzburg zeigt gleich zwei Retrospektiven. Anlässlich des zehnten Todestages des Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem wird eine Auswahl von Filmadaptionen seiner Bücher präsentiert. Zur zweiten Retrospektive, »100 Jahre Gänsehaut«, erscheint mit dem Autor, Filmjournalisten und Regisseur Mick Garris ein Multitalent aus Hollywood; Garris präsentiert Perlen des Thriller- und Horrorgenres
21.–28. Januar 2016, Solothurn – Das renommierte Schweizer Festival zeigt eine Auswahl nationaler Filme aller Genres und Längen. Mano Khalils erster Spielfilm »Die Schwalbe« eröffnet die Filmtage. Der Berner Regisseur mit kurdisch-syrischen Wurzeln begibt sich mit dem Familiendrama zurück in seine konfliktgeprägte Heimatregion
14.–17. Januar, Stuttgart – Das Festival steht unter dem Motto »Formwandler«. An verschiedenen Veranstaltungsorten erwartet die Besucher ein buntes Programm. Zudem dient das Festival als Forum für Mediendiskurs und bietet eine Plattform für Begegnungen zwischen Experten und Besuchern
18. – 24. Januar 2016, Saarbrücken – Seit 36 Jahren ist das Filmfestival um den Max Ophüls Preis eine der wichtigsten Plattformen für den jungen deutschsprachigen Film. Unter den diesjährigen 16 Wettbewerbsfilmen finden sich größtenteils deutsche Produktionen und jeweils eine aus der Schweiz, Österreich, Luxemburg und den USA. Zu erwarten sind starke Genre-Momente, Reflexionen über Identität, Entfremdung und Abgrenzung und eine bemerkenswerte Reihe vielseitiger Frauenfiguren. Ehrengast ist in diesem Jahr Marcel Ophüls
1.–16. Januar 2015, Berlin – Wie jedes Jahr versucht das Festival, eine Kartographie des US-Independent-Films zu erstellen. Ein Fokus ist Boston, mit einem Spezialprogramm Alfred Guzzetti und starken Dokumentarfilmen
DVD-und Blu-ray-Premiere: Yann Demanges packender in Nordirland spielender Bürgerkriegsthriller »'71«
Matthias Glasners Miniserie »Blochin« mit Jürgen Vogel

Thema

Warum fliehen Menschen aus ihren Heimatländern? Was wird ihnen angetan, was finden sie vor, wenn sie bei uns ankommen? Das Kino der letzten Jahre hat darauf reagiert – mit einfühlsamen, umsichtigen Filmen, die der Not der Migranten näher kommen als die aktuellen Medien
Animationsfilme gibt es seit den Anfängen des Kinos. Und sie sind keineswegs immer Familienunterhaltung gewesen. Wie kreativ und abenteuerlich Animationen für Erwachsene sein können, zeigt gerade wieder der Autorenfilmer Charlie Kaufman, der in »Anomalisa« Figuren aus dem 3D-Drucker zum Leben erweckt
Noah Hawley ist mit den zwei Staffeln seiner Fargo-Serie das Unwahrscheinliche gelungen: Er hat sowohl die Fans des Coen-Films als auch deren Gegner in den Bann einer komplexen Erzählung geschlagen
Wenn Schauspieler Kontrolle über ihre Filme erlangen wollen, produzieren sie selbst. Und nicht nur Superstars wie Leonardo DiCaprio, auch Quertreiber wie Zachary Quinto nutzen ihren Einfluss, um sich für politische Anliegen zu engagieren oder Geschichten auf die Leinwand zu bringen, die im profitorientierten Alltagsgeschäft keine Chance hätten
Schon die Filmpioniere Brüder Skladanowsky haben mit Tieren gearbeitet, mit einem boxenden Känguru. Aber seitdem hat sich im Tiergenre viel getan – auch hinter der Kamera
Unsere "Steile These" des Monats Januar
Was haben eigentlich Luke Skywalker und Prinzessin Leia all die Jahre gemacht? Aus gegebenem Anlass: ein Doppelporträt der »Star Wars«-Hauptdarsteller Mark Hamill und Carrie Fisher

Meldung

Guillaume Nicloux über seinen Film »Valley of Love« und seine Arbeit mit Isabelle Huppert und Gérard Depardieu
Auf der 11. Russischen Filmwoche in Berlin präsentiert sich das Kino Russlands in schwer nostalgischer Stimmung
Ein Gespräch mit dem britischen Regisseur über das Thema Transgender und seinen neuen Film »The Danish Girl«

Filmkritik

Eine Frau (Isabelle Huppert) und ein Mann (Gérard Depardieu), die schon lange kein Paar mehr sind, verbringen auf Wunsch ihres Sohnes, der sich umgebracht hat, eine Woche im Death Valley. Aus ihrer Trauerarbeit erwächst ein Geflecht von Fragen und Gefühlen, in dem man sich wunderbar verstricken kann: »Valley of Love«
Was die globale Entwertung mit uns und der Umwelt macht und wie sie sich in Textilfabriken auf der anderen Seite des Globus auswirkt, schaut sich der amerikanische Dokumentarfilm »The True Cost« mit unerschütterlichem Glauben an die besseren Alternativen an
Verfilmung des postum erschienen Bestsellers von Irène Némirovsky, der die unmögliche Liebesgeschichte zwischen einer jungen Französin und einem deutschen Besatzer im Jahr 1941 erzählt. »Suite Française« ist solides, allerdings oft klischeehaft wirkendes Historienkino
»The Revenant« ist ein Trapperfilm, ein Schneewestern, ein gewaltig-gewalttätiges Epos über die allmähliche Eroberung Nordamerikas. Ein Kunstfilm über Schuld, Sühne und Erlösung. Von Starregisseur Iñárritu allzu kraftvoll auf ­Authentizität getrimmt, von Superstar DiCaprio allzu expressiv gespielt, kippt der Film zu oft ins Prätentiöse
Ein FBI-Rekrut und ehemaliger Extremsportler wird in eine Gang eingeschleust, die ihre sportlichen Fähigkeiten für tollkühne Raubüberfälle nutzt. Spektakuläre Aufnahmen halten den Zuschauer in dem ­Remake von »Point Break« bei der Stange
Der Dokumentarfilm »Match Me!« zeichnet ein vielfältiges Bild moderner Beziehungs-Waisen, das den leichtfertigen Erfolgsversprechen von Datingportalen und Flirt-Apps die Langwierigkeit und Mühseligkeit des Analogen charmant und warmherzig entgegensetzt
Eines der brennendsten Probleme der französischen Gesellschaft erzählt Regisseurin Baya Kasmi in »Mademoiselle Hanna und die Kunst Nein zu sagen« als Geschwisterkonflikt. Humorvoll blickt der Film auf das freizügige Liebesleben der Schwester und stellt es in Kontrast zum islamgetreuen Dasein des Bruders, ohne dabei eine der beiden Figuren an Simplifizierungen zu verraten
Der Norweger Joachim Trier erzählt in seinem ersten englischsprachigen Film »Louder Than Bombs« – kunstvoll und ungekünstelt zugleich – die Geschichte eines Lehrers und seiner beiden Söhne, die vom Selbstmord der Mutter traumatisiert sind
Auf dem Höhepunkt ihres Ruhms posierten sie sogar für den Starfotografen David Bailey: »Legend«, Brian Helgelands Biografie der gefürchteten Kray-Zwillinge, ehrt rabiat die Konventionen des Gangsterfilms
Daniel und Emmanuel Lecontes Dokumentarfilm über die Anschläge auf die Redaktionsräume von »Charlie Hebdo« ist für einen kritischen Kommentar zur Pressefreiheit etwas zu nah an den verstorbenen Protagonisten dran. Aber ihr Film erinnert in vielen Archivaufnahmen an die Opfer der Anschläge
Janis Joplins Blitzkarriere als Shooting Star der weißen Bluesmusik und ihr jäher Absturz in den Drogentod: Amy Bergs Dokumentarfilm »Janis: Little Girl Blue« erzählt die Legende vom Aschenputtel, das einsam blieb, noch einmal neu
»Hello I am David!« ist ein Dokumentarfilm über den nervenkranken australischen Starpianisten David Helfgott, seine Persönlichkeit und seine Musik. Cosima Lange zeigt, wie wertvoll Menschen sein können, die in fast allem von der Erwartung anderer abweichen und doch selbstbewusst und voller Kraft durchs Leben gehen
Ein Überfliegerkapitalist kennt sich nach einem Pilztrip selbst nicht mehr. Mit drastischen Elementen und stimmigen Überzeichnungen ist die Suter-Verfilmung »Die dunkle Seite des Mondes« ein spannender, ambivalenter und visuell sehr reizvoller deutscher Genrefilm
Will Ferrell und Mark Wahlberg treten in »Daddy's Home« als Väter in Konkurrenz, was unter der Regie von Sean Anders meistens ziemlich überdreht albern, manchmal aber auch gefühlvoll und komisch ist
Adonis Creed, illegitimer Sohn von Rockys Freund und Nemesis Apollo Creed, sucht Rockys Hilfe, um Profiboxer und dem Vermächtnis seines Vaters gerecht zu werden. Unter der Regie von Ryan Coogler überrascht Sylvester Stal­lone mit der einfühlsamen und anrührenden Darstellung eines gealterten Superstars
Ein echter Weerasehtakul, auch wenn die Reinkarnierten diesmal nicht an ihren rot leuchtenden Augen erkennbar sind und sich die Fauna auf eine Schar vorbeilaufender Hühner beschränkt. Dafür geht es in »Cemetery of Splendour« tief in die thailändische Geschichte und in ein Setting, das mit viel Raum und Licht betört
Ein Student mietet sich bei einer Familie ein, die in der Abgeschiedenheit eines Waldes in einem Bunker lebt. »Der Bunker« ist ein bizarres kleines Kammerspiel als Angriff auf das vorherrschende Realismusdiktat
Saoirse Ronan als schüchterne Irin, die sich zu Beginn der 50er Jahre zwischen alter und neuer Welt entscheiden muss. »Brooklyn« ist ein ebenso diskretes wie herzzerreißendes Coming-of-Age- und Auswandererdrama
Nach 26 Ehejahren beginnt ein Mann, sich seine verdrängte Homosexualität einzugestehen, als er sich in einen Stricher verliebt. »Boulevard« ist ein sensibel inszeniertes, vorzüglich gespieltes Drama. Vor allem aber auch eine großartige letzte Rolle für Robin Williams
Adam McKay liefert mit seinem Finanzkrisendrama »The Big Short« das Gegenstück zu J. C. Chandors »Der große Crash – Margin Call« ab: Sein Ensemblefilm erklärt den Zusammenbruch des amerikanischen Bankensystems am Beispiel von ein paar gewieften Geldmanagern, die aus dem Crash Profit schlagen konnten. Eine Mentalitätsstudie als Farce
Ein Motivationstrainer in der Midlife-Crisis, ein Date mit einer lange Verflossenen und eine unverhoffte Begegnung, die so etwas wie Liebe auf den ersten Blick sein könnte... Charlie Kaufman erzählt seine tragisch-komische Geschichte »Anomalisa« mit Puppen und Stop-Motion-Technik und erschafft ein Universum hautnah an der Wirklichkeit – ein Kunstgriff mit ganz erstaunlichem Effekt
»Gut zu Vögeln« ist ein neuer Aufguss der alten Geschichte vom ewigen Jugendlichen, der durch die Schwangerschaft seiner Freundin den Ernst des Lebens begreift
Die Geschichte eines Filmhochschulabsolventen, dessen große Ambitionen in den Mühen der Ebene versackt sind. Eine im Grunde schmerzhafte Angelegenheit, die in »Wintergast« mal melancholisch, mal lakonisch präsentiert wird und deswegen immer wieder ziemlich lustig ist
Statt sich auf seine komplizierte und gerade deswegen reizvolle Protagonistin (Sandra Bullock) zu konzentrieren, verstolpert sich David Gordon Green bei »Die Wahlkämpferin« in einem tonal unausgegorenen Potpourri, dass nur anfangs mit satirischem Biss überzeugt
»Familie Haben« ist ein fast erschreckend offener Dokumentarfilm über familiäre Zerwürfnisse, vergrabene Kränkungen und das Geld, das dabei fast immer eine Rolle spielt
In opulenten Bildern erzählt Tom Hooper in »The Danish Girl« die reale Lebensgeschichte des skandinavischen Malers und Transgender-Pioniers Einar Wegener, den Eddie Red­mayne auf neuerlichem Oscarkurs subtil oszillieren lässt
Ein kleiner Junge in einem maroden Havanna: Der kubanische Regisseur Ernesto Da­ranas hat aus dessen Geschichte mit »Conducta« ein kleines neorealistisches Meisterwerk gemacht
Jennifer Lawrence als Wischmop-Erfinderin Joy Mangano löst selbst hartnäckigen Schmutzbelag: Mit seinem virtuosen Biopic über eine Frau, die durch Putzen reich wurde, gelingt David O. Russell ein sehenswerter filmischer Ausflug in die Niederungen des Teleshoppings
Julia von Heinz hat »Ich bin dann mal weg«, die Erinnerungen von Hape Kerkeling an seine Jakobsweg-Wanderung, adaptiert. Mit einem perfekten Devid Striesow – und manchmal zu viel Gefühl
Wo ist Luke Skywalker? In seiner clever geschriebenen und glänzend besetzten Mischung aus Hommage, Reboot und Fortsetzung gelingt es J.J. Abrams, dem »Star Wars«-Franchise neues Leben einzuhauchen: »Star Wars: Episode VII – Das Erwachen der Macht«
Ron Howard verzettelt sich beim Erzählen von »Im Herzen der See«, der Vorgeschichte zu »Moby Dick«, zuerst in allzu konventionellen dramatischen Strängen, gibt dann aber zugunsten eines beeindruckend in Szene gesetzten Wals alles auf
Ein lesbisches Pärchen verstrickt sich in sadomasochistischen Ritualen, die das fragile Gleichgewicht von Liebe und Macht immer wieder neu austarieren. Peter Strickland verbeugt sich mit dieser rauschhaften Liebesgeschichte vor den Softcore- und Sexploitation-Filmen der 1970er Jahre und erweckt dabei den alten Traum der Surrealisten von einem Kino, das reine Poesie ist, zu neuem Leben: »The Duke of Burgundy«
»Der Junge und die Welt« ist ein poetischer Kinderfilm, den auch Erwachsene verstehen: Der brasilianische Animationskünstler Alê Abreu inszeniert die Suche eines kleinen Jungen nach seinem Vater als eine melancholische Allegorie auf die Globalisierung

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