Stranger Than Fiction
Lady Gaga als Patrizia Reggiani in »House of Gucci« (2021). © Metro-Goldwyn-Mayer Pictures
Von »Nomadland« bis »House of Gucci«, von »Stillwater« bis »Spencer«: Filme, die nah an der Wirklichkeit gebaut sind oder sich auf konkrete reale Ereignisse beziehen, scheinen gerade schwer im Trend zu liegen. Fällt denen nichts mehr ein? Oder liefert das Leben die besseren Geschichten? Birgit Roschy über den Reiz und die Tücken der Filme »based on a true story«
1979 bauten zwei Familien in der DDR heimlich einen Heißluftballon, mit dem ihnen im dritten Anlauf die Flucht in den Westen gelang. Das kann man sich nicht ausdenken! Und auch nicht, im selben Jahr geschehen, die »Canadian Caper« genannte Aktion, bei der ein Filmteam auf der Suche nach Drehorten in den Iran flog. Die tatsächliche Mission der Fake-Filmemacher bestand jedoch in der Rettung von sechs Diplomaten, denen es gelungen war, sich während der Geiselnahme in der US-Botschaft vor den Häschern der sogenannten »Islamischen Revolution« zu verstecken. Die wahren Geschichten hinter »Ballon« und »Argo« sind dermaßen irre, dass kein Drehbuchautor, der ernst genommen werden will, sie sich hätte ausdenken dürfen. Dabei hat die Realität noch viel Verrückteres zu bieten. »Wahnsinn!«, ächzten unisono das TV-Publikum und Beteiligte, als in einer Novembernacht des Jahres 1989 die Mauer fiel, begleitet vom Sound weinender Menschen, knatternder Trabis und knallender Sektkorken statt von Gewehrschüssen. Dass diese Sternstunde der Menschheit filmisch unzählige Male nachgespielt wurde, verwundert nicht. Und auch nicht, dass ein ebenso folgenschwerer historischer Tiefpunkt wie 9/11 aus allen Winkeln beleuchtet wurde – zumal der Anschlag selbst wie nach dem Drehbuch eines, sagen wir, Roland-Emmerich-Katastrophenfilms ablief.
1. Mann beißt Hund
Der Verdacht, dass die Geschichten, die das Leben schreibt, nicht nur oft einem schrillen Groschenroman ähneln, sondern sogar stranger than fiction sind, bekommt in dieser Kinosaison neue Nahrung. »Based on a true story« erzählt Ridley Scotts »House of Gucci« von einer »Schwarzen Witwe«, Patrizia Reggiani, die ihren Ex-Mann, den Erben der Modedynastie Gucci, durch einen gedungenen Killer ermorden ließ. Das Motiv der High-Society-Diva scheint schlicht Wut gewesen zu sein. Bei der Schilderung dieses sensationellen Kriminalfalls ist der Voyeurismus des Publikums, die tröstliche Bestätigung, dass es bei den Reichen und Schönen noch schlimmer als bei Hempels unterm Sofa zugeht, die halbe Miete. Stars bis in kleinste Nebenrollen sind die andere Hälfte. Bedingt durch Corona-Produktionsverschiebungen ist erst vor kurzem ein weiterer Film von Ridley Scott angelaufen, dem ebenfalls Oscar-Chancen eingeräumt werden. Auch »The Last Duel« basiert auf wahren Begebenheiten und ist sogar akribisch in mittelalterlichen Prozessakten dokumentiert. Das Unerhörte an diesem Fall besteht darin, dass eine Frau ihre Vergewaltigung vor Gericht anklagte und durch diesen Mut ihr Leben riskierte. Denn ihr Mann, Ritter Jean, musste die Schuld des Angeklagten durch einen Zweikampf mit diesem beweisen. Die archaische Moral des Gottesurteils lautete: Wird Jean in diesem Turnier getötet, dann wird seine Frau auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ohnehin ist Scott, wie Clint Eastwood und Steven Spielberg, ein Spezialist für grausame »wahre Geschichten«, deren Komplexitäten er, etwa in dem Kriegsfilm »Black Hawk Down«, dem Epos »American Gangster« und in »Alles Geld der Welt« über die Getty-Entführung minutiös und mit Sinn für sprechende Details aufdröselt.
2. Die schöne Leich'
In »The Last Duel« überlebt neben ihrem Mann, der seinen Freund in einem quälend authentisch ausgemalten blutigen Gemetzel tötet, folglich auch Marguerite de Carrouges: ein Happy End, das verhindern wird, dass diese historische Frauenfigur trotz ihrer Tapferkeit zur Ikone aufsteigt. Auch einen filmischen Heiligenschein verdienen sich Heldinnen erst durch ihren tragischen Tod – allen voran Lady Diana, deren Schicksal mehrfach verfilmt wurde und die im Januar erneut ihre virtuelle Wiederauferstehung feiern wird.
Welchen Stellenwert die unglückliche Prinzessin gerade beim weiblichen Publikum besitzt, zeigte bereits die Heldin in »Die fabelhafte Welt der Amélie«, deren märchenhafte Entwicklung durch den Schock über die Nachricht vom Unfalltod von Lady Di ausgelöst wurde. Dauerbrenner Diana beweist, was für ein Etikettenschwindel mit dem Label based on a true story getrieben werden kann. »Spencer« wird zwar selbst von Regisseur Pablo Larraín – der sich bereits »Jackie« Kennedy genähert hat – als »Fabel, die auf einer wahren Tragödie basiert«, bezeichnet. Doch er bezieht sich auf einen realen Anlass, das letzte Weihnachtsfest der Prinzessin im Kreise der königlichen Familie 1991. Und dann fabuliert er ungebremst drauflos, zeigt die Prinzessin als durchdrehendes Hascherl im goldenen Käfig, angezickt von den Royals, liebevoll behütet von – hinzugedichteten – Bediensteten. Als ebenso blond-fragile Drama Queen war dieselbe Kristen Stewart 2020 in »Jean Seberg – Against All Enemies« von Benedict Andrews aufgetreten, einem Film, der von der Affäre Sebergs mit einem schwarzen Bürgerrechtler und ihrer Diskreditierung durch das FBI handelt. Dabei liegt der Fokus weniger auf Sebergs bewegtem Leben als auf dem fiktiven FBI-Abhörspezialisten, der sein Opfer schließlich ritterlich warnt, jedoch vergeblich. Mit ihren naiven und impulsiven Kindfrauen bedienen diese pseudobiografischen Seifenopern ein reaktionäres Stereotyp, statt sich die Mühe zu machen, genauer hinzuschauen. Und warum nur muss Mary Anning (Kate Winslet) in »Ammonite« eine lesbische Beziehung angedichtet werden, als ob die wahre Geschichte der Fossilien sammelnden Selfmade-Paläontologin nicht schon spannend genug wäre?
Es gibt sie zwar, die Filme über reale Heldinnen, in denen, ohne Herumgeopfere und ohne künstliche Geschmacksverstärker, spezifisch weibliche Erfahrungen ausgelotet werden, doch sie sind selten. In Theodore Melfis »Hidden Figures« etwa, einer Hommage an schwarze NASA-Mathematikerinnen, wird am praktischen Beispiel Rassismus ad absurdum geführt: Da die Mathematikerinnen sehr lange brauchen, um zur weit entfernten Toilette zu stöckeln, es aber bei der Entwicklung der Apollo-Rakete pressiert, bekommen sie zu guter Letzt Zugang zu den Waschräumen der Weißen. In »Joy – Alles außer gewöhnlich« von David O. Russell wird, von einer tragikomischen Herausforderung zur nächsten, der Werdegang einer geschiedenen dreifachen Mutter und Selfmade-Unternehmerin (Jennifer Lawrence) nachgezeichnet, die einen speziellen Wischmop erfand. In dieser Saison läuft immerhin »Dream Horse« (Euros Lyn), die wahre Erfolgsgeschichte einer Supermarktkassiererin, die ihren Traum, ein Rennpferd zu züchten, im Verein mit anderen Bewohnern ihres walisischen Dorfes verwirklicht und ihr kleines Glück findet. Das aufwendig ausstaffierte »Schöner leiden« von Lady Di aber dürfte mehr Eindruck schinden als dieser kleine »Wohlfühlfilm« mitten aus dem Leben. Eine Faustregel: Wahre Frauengeschichten gelten nur dann als relevant, wenn Nervenzusammenbrüche, Sex und Tod vorkommen. So verdienstvoll es ist, dass Paul Verhoeven mit dem kommenden Drama »Benedetta« an die Renaissance-Äbtissin und Mysterikerin Benedetta Carlini erinnert, die wegen Sapphismus lebenslang eingekerkert wurde: Hätte er auch einen Film gedreht über Hildegard von Bingen, wie sie ihren Klostergarten umgräbt?
3. Der Geist von Charles Dickens
Der Gendergap in der filmischen Kenntnisnahme realer Alltagsprobleme zeigte sich erneut im vergangenen Jahr in der gefeierten Ausnahme von der Regel – in Chloé Zhaos »Nomadland, einem Roadmovie über die Parallelwelt moderner Nomaden, die auf der Suche nach Arbeit oder aus anderen Gründen durch die USA ziehen und in Wohnwagen und umgebauten Autos leben. Dabei dient Frances McDormand in der Rolle einer Witwe on the road auch als Reiseführerin. Die authentischen Tramps, die sie unterwegs kennenlernt, lassen Schicksale erahnen, die Creative-Writing-Jünger auf der Suche nach Stoffen elektrisieren müssten, eigentlich. Wie groß die Sehnsucht zumindest nach wahren Aufsteigergeschichten ist, zeigt der unerwartete Bestseller »Hillbilly Elegy«, in dem ein Yale-Absolvent auf den Rat seiner Professorin hin aufschrieb, wie er es schaffte, trotz seiner White-Trash-Herkunft zu reüssieren. Mit seiner Nahsicht auf eine durch Strukturwandel und Opioid-Krise verelendete ländliche Arbeiterschicht wurde das Sachbuch euphorisch gelobt und als Erklärung für Donald Trumps Wahlsieg gehandelt. Als die Verfilmung in Gang kam, war Autor J. D. Vance, der sich zwischenzeitlich als Republikaner geoutet hatte, allerdings verbrannt, hatten die Kritiker ihr Urteil bereits revidiert. Das Sozialdrama zeigt in seiner Insiderperspektive auf die widersprüchliche Lebensrealität, dass materielle Not auch das Ergebnis fataler Entscheidungen und über Generationen eingeschliffener Mentalitäten ist – dass mithin, neben äußeren Härten, persönliche Verantwortung im Spiel ist. Ein dezidiert politischer Überbau fehlt allerdings ebenso wie der breitere familiäre Kontext.
Doch mit der tiefenscharfen Beschreibung sowohl der Dynamiken, die Armut erzeugen, als auch der Anstrengungen, der Abwärtsspirale zu entkommen, erinnern sowohl »Nomadland« als auch »Hillbilly Elegy« an die Romane von Charles Dickens. Wie einst Dickens' reportagehafte Betrachtung der Unterschicht, die soziale Reformen nach sich zog, wurden auch diese dokumentarisch gefärbten Filme als Weckruf verstanden. Politisch gelesen wird vermutlich auch die kommende Filmbio »King Richard«, in der Will Smith unter der Regie von Reinaldo Marcus Green den Vater der späteren Tennischampions Serena und Venus Williams spielt. Der Trailer verrät, dass dieser Vater, der seine Töchter unablässig trainiert und aufmuntert, bis sie schließlich im blütenweißen Tennismilieu siegen, zur Galionsfigur sowohl für Emanzipation wie auch für afroamerikanisches Selbstbewusstsein stilisiert wird. Das wahre Motiv ist, auch das wird angedeutet, wohl handfester: Der Vater wollte seine Töchter im Schutzraum des Tennisplatzes von der Straße fernhalten, ist doch das kalifornische Compton eine der gefährlichsten Städte in den USA. Im Gegensatz zu dieser erbaulichen Aufsteigergeschichte wird im französischen Melodram »Das Land meines Vaters« ein entsetzliches Phänomen beleuchtet: Jeden Tag begeht ein Landwirt Selbstmord. Regisseur Edouard Bergeon erinnert in seinem Familienepos an seinen Vater, der jahrzehntelang darum kämpfte, den geerbten Hof gewinnbringend zu bewirtschaften, jedoch von Industrialisierung, EU-Auflagen und Schulden in den Ruin getrieben wurde. Das mit Herzblut verfilmte individuelle Schicksal eines verzweifelten Landwirts steht stellvertretend für den Niedergang eines Berufsstandes und ist nicht nur in Frankreich von enormer Aktualität.
4. Wie fake dürfen wahre Geschichten sein?
»Das Land meines Vaters« war in Frankreich ein Riesenerfolg. Wie in »Hillbilly Elegy« werden darin echte Menschen mit echten Problemen gewürdigt, mit denen man sich unmittelbar identifizieren kann und die medial sonst völlig unter dem Radar bleiben. Denn auch die filmische Entdeckung wahrer Geschichten unterliegt dem Zeitgeist. »The Last Duel« ist ein #MeToo-Film und wäre Jahre zuvor wahrscheinlich kaum finanzierbar gewesen (er hat sich leider als Verlustgeschäft entpuppt). Im Zuge öffentlicher Diskussionen hat sich das Themenspektrum rasant erweitert, sichtbar vor allem an Filmen über afroamerikanische Schicksale jenseits der gewohnten Biografien über Sängerinnen (wie aktuell »Respect« über Aretha Franklin) – darunter, neben dem Drama »Harriet« über das Fluchthilfe-Netzwerk Underground Railroad (auch als Serie), etwa »Judas and the Black Messiah« über einen FBI-Spitzel in der Black Panther Party.
Überhaupt scheint, vielleicht als Reaktion auf die Dauerwurst der Marvel- und DC-Comicverfilmungen mit ihren vorprogrammierten Konflikten und Erlösungen, die Beliebtheit von wahren Geschichten zuzunehmen. Zwar sind die Superheldenvorkommen noch längst nicht abgegrast. Doch die Hoffnung, dass diese Entertainment-Planwirtschaft dem Publikum schneller langweilig wird als Filme über die unberechenbar krummen Wege des Lebens und die schier unerschöpfliche Kreativität, mit der sich Menschen in Bredouillen bringen und sich daraus befreien, scheint begründet. Es fällt zudem auf, dass filmisch bearbeitete große Schweinereien – zum Beispiel »Spotlight« über einen kirchlichen Missbrauchsskandal in Boston, »Bombshell« über die Belästigungen von Journalistinnen im Sender Fox, »The Trial of the Chicago 7« über einen Gerichtsprozess gegen Antikriegsdemonstranten im Jahr 1969 und »Red Secrets – Im Fadenkreuz Stalins« über die Aufdeckung des Holodomors durch einen britischen Reporter – zumindest in der diesjährigen Oscar-Saison fehlen. Das Angebot verrät die Tendenz zu kleinen, intimen Geschichten, in denen versucht wird, dem Leben bei der Arbeit zuzusehen. Doch die ab 2024 geltenden Oscar-Kriterien für mehr diversity, die nicht nur in der Filmcrew, sondern auch im Darsteller-Ensemble eine Quote für Minderheiten vorschreiben, könnten sich in Bezug auf diese kleine Blüte von true stories als Schildbürgerstreich entpuppen.
Was aber legitimiert überhaupt eine Geschichte als wahre Geschichte? Schließlich werben auch die »Conjuring«-Horrorfilme – der dritte lief im Sommer an – mit diesem Label, denn sie sind inspiriert von den Erlebnissen zweier authentischer Spukforscher. Auch Wes Anderson bezieht die Protagonisten in seiner neuen Spielerei »The French Dispatch« über ein fiktives Kulturmagazin ausdrücklich auf Autoren des Magazins »The New Yorker«. Tom McCarthys Krimidrama »Stillwater« über einen Bauarbeiter, der nach Marseille reist, um seiner wegen Mordes verurteilten Tochter zu helfen, muss erst gar nicht mit einem Bezug zu Amanda Knox, der einst in Italien wegen Mordes verurteilten US-Studentin, werben. Zuschauer und Rezensenten stellten den Zusammenhang von selbst her – ebenso die mutmaßliche Urheberin, die öffentlich beklagte, dass die Filmemacher von ihrer fälschlichen Verurteilung profitierten und sie, wenn auch in fiktiver Verzerrung, erneut als Schuldige und Lügnerin darstellten. Wie bei Lady Di kann man davon ausgehen, dass die ermordete Studentin im Fall Knox, vor »Stillwater« bereits im britischen Film »The Face of an Angel« poetisch verfremdet, als allegorisch überhöhtes unschuldiges weibliches Opfers nicht das letzte Mal Filmthema sein wird.
»Spencer« mag ein besonders krasses Beispiel dafür sein, wie ein Regisseur auf einem tragischen Fall sein eigenes Süppchen kocht. Doch der fiktionalen Unschärfe, dem zwangsläufigen bigger than life, kann eine nachinszenierte wahre Begebenheit schlechterdings nicht entkommen. Das gilt sogar dann, wenn Regisseure sich mit dem beschäftigen, was sie am besten kennen: sich selbst. Wie Alfonso Cuarón mit »Roma« erinnern sich Paolo Sorrentino in »Die Hand Gottes« und Kenneth Branagh in »Belfast« an ihre Kindheit und Jugend. Branagh benennt seine Nabelschau mit dem Modewort »autofiktional«, was faktisch nur bedeutet, dass er Autobiografisches nach Lust und Laune verändert, aber dennoch auf die Wahrheit des Gezeigten pocht. Das Roadmovie »Nomadland«, eine Dokumentation in einer inszenierten Rahmenhandlung, geht dagegen als »semifiktional« durch. Eine weitere originelle Variante des althergebrachten »Inspiriert von« ist der dänische Animationsfilm »Flee« (Jonas Poher Rasmussen), auf dem ebenfalls Oscar-Hoffnungen ruhen. Geschildert wird die Odyssee eines afghanischen Flüchtlings, jedoch in gezeichneter Version und im Rahmen einer therapeutischen Erinnerung, ähnlich wie im autobiografischen Trickfilm »Waltz with Bashir«. In der dänischen Variante jedoch ist die Hauptfigur ein – anonymisierter – Jugendfreund des Regisseurs, die Wahrheit also, wie gehabt, Glaubenssache. Es bleibt spannend.
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