Kritik zu Die Aussprache
Sarah Polley verfilmt Miriam Toews' auf realen Ereignissen basierenden Roman über die Frauen einer mennonitischen Kolonie, die jahrelang im Schlaf vergewaltigt wurden
»Die Aussprache« ist Sarah Polleys erster Kinofilm, seit sie sich im Jahr 2013 aus dem Filmgeschäft zurückgezogen hatte. Um die leise Wucht dieses Comebacks einzuordnen, muss man kurz zurückblicken. Ihr Regiedebüt gab die damals 24-jährige Kanadierin mit »Away From Here« (2006), einer außergewöhnlich reifen Studie über Ehe, Demenz, Krankheit und Verbundenheit; in »Take This Waltz« (2011) erzählte Polley hochsensibel von aufkeimender und verlöschender Liebe; in dem Dokumentarfilm »Stories We Tell« (2013) reflektierte sie in filmisch ungewöhnlicher Weise die eigene Herkunft und die bewegte Geschichte ihrer Mutter.
Mit »Die Aussprache«, einem Drama über weibliche Selbstbehauptung und Unabhängigkeit, knüpft Polley nun nahtlos an die subtile Meisterschaft dieser Regiearbeiten an. Der Film ist unaufgeregt und doch emotional, von künstlerischer Entschiedenheit, aber einnehmend unprätentiös, herausragend gespielt, aber kein eitles »Schauspielerkino«, thematisch äußerst gegenwärtig und doch zeitlos.
Das von Polley verfasste Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Miriam Toews, welcher wiederum von realen Ereignissen inspiriert war, die sich im Jahr 2010 zutrugen. Im Mittelpunkt des Films stehen die Frauen und Mädchen einer mennonitischen Kolonie im ländlichen Kanada. Über Jahre hinweg wurden sie von Männern der Gemeinschaft vergewaltigt – nachts, im Schlaf, betäubt mit Beruhigungsmitteln für Kühe. Wenn die Frauen mit blauen Flecken und blutigen Nachthemden erwachten, erklärten die Männer (nicht nur die Täter) dies zum Werk von Geistern und Dämonen oder sie bezichtigten die Opfer der Einbildung und »weiblicher Wichtigtuerei«. Misogynes, religiös verbrämtes Gaslighting. Erst als einer von ihnen erwischt wird, kommt die ganze Wahrheit ans Licht. Um die Täter vor dem Zorn der Frauen zu schützen, bringen die anderen Männer sie in die Stadt, wo die Polizei sie in Haft nimmt.
All dies bildet nur die Vorgeschichte und wird innerhalb weniger Minuten zusammengefasst, in prägnanten Bildern und durch eine weibliche Erzählerstimme. Die erste Einstellung zeigt eine der Frauen im Bett, wie sie morgens mit Blut an den Beinen erwacht. Kurz darauf folgt die Kamera spielenden Kindern über die malerischen Wiesen der Kolonie. Ein Terrence-Malick-Idyll, doch die Bilder sind blass und stumpf, als hätte die schleichende Gewalt der paradiesischen Umgebung alles Leben, allen Glanz ausgetrieben.
Der Großteil des Films spielt sich allerdings in einer Scheune ab, wo die Frauen beraten, was sie tun sollen: vergeben und vergessen, wie es die Männer der Kolonie verlangen? Fortgehen? Oder bleiben und kämpfen? Viel Zeit für eine Entscheidung haben sie nicht, denn am nächsten Tag werden die Männer mitsamt der Täter aus der Stadt zurückkehren.
Aus dieser Situation entwickelt sich eine Diskussion um existenzielle Fragen, wie man sie in dieser Vielschichtigkeit im Kino nur selten erlebt. Es geht um Ethik und Spiritualität, um Genderfragen, toxische Männlichkeit und die Fähigkeit, seinen Peiniger zu lieben. Das zerstörerische Wesen von Macht wird ebenso diskutiert wie die bedeutsamen Unterschiede zwischen »Verlassen« und »Flüchten«, zwischen religiös erzwungener und wahrhaftig empfundener Vergebung. Selbst der herausfordernde Gedanke, dass Vergewaltiger selbst Opfer sind (einer gesellschaftlichen Prägung), oder die Haltung, dass auch pubertierende Jungs potenzielle Vergewaltiger darstellen, wirken hier nicht provozierend, sondern reflektierend. Es geht nicht um Rache oder Hass, sondern um eine Suche nach Antworten, um ein existenzielles Ringen mit den Möglichkeiten.
Das ganze Set-up könnte didaktisch wirken wie eine theatralische Versuchsanordnung, bei der jede Figur mehr Funktionsträger als Charakter ist. Doch die Kunst von Polleys Autorenschaft besteht gerade in der unakademischen Intellektualität und ihrem mehrdeutigen Sinn für Humor. Das Ensemble verleiht dem Geschriebenen eine vibrierende Lebendigkeit. Sei es die nachdenkliche Ona (Rooney Mara), die hasserfüllte Salome (Claire Foy) oder die zögerliche Mariche (Jessie Buckley), die Persönlichkeiten der einzelnen Frauen entwickeln sich aus ihren teils widersprüchlichen Positionen. Auch deshalb trifft der Originaltitel »Women Talking« den Geist der Geschichte wesentlich besser, denn es geht nicht um eine »Aussprache«, sondern um Frauen, die sich nicht mehr von einer patriarchalischen Ordnung zum Schweigen bringen lassen, die ihrem Leid, ihren Empfindungen und Zielen endlich eine Stimme geben – die reden. Sich aber auch zuhören.
Letzteres gilt insbesondere auch für den einzigen sichtbaren Mann des Films, einen Außenseiter namens August (Ben Whishaw), dessen Familie einst verstoßen wurde. Er ist als Lehrer in die Gemeinschaft zurückgekehrt und soll nun den Frauen, die weder Lesen noch Schreiben erlernen durften, als Protokollant ihrer Beratungen dienen. Zu Beginn versucht er reflexartig, die Debatte zu leiten. Dann hört er zu. Der sanfte August steht für eine andere Form von Männlichkeit. Eine Schlüsselfigur ist er auch, weil letztlich die Misogynie der anderen Männer eine Zukunft mit seiner heimlichen Liebe Ona verhindert. Eine behutsam eingeflochtene, herzzerbrechende Nebenlinie der Erzählung.
Am Ende kommen die Frauen zu der traurigen Erkenntnis, dass sie die gegenwärtige Ordnung nicht ändern können. Vielleicht aber die Zukunft. Sie treffen eine Entscheidung, die eigentlich von Beginn an alternativlos war. Dies kommt auch durch die anwesenden Kinder zum Ausdruck, die der Debatte schnell überdrüssig werden und zu spielen beginnen. Manchmal genügt es, seinem Instinkt zu vertrauen, trotzdem ist es entscheidend, seine Stimme finden. Sarah Polleys Stimme ist selbstverständlich feministisch, vor allem aber humanistisch. Es würde ihr nichts ausmachen, nie wieder einen Film zu drehen, sagte sie kürzlich in einem Interview. Man glaubt es sofort, will es aber nicht hoffen, denn mit »Women Talking« etabliert sie sich endgültig als eine der kraftvollsten Regisseurinnen ihrer Generation.
Kommentare
Die Aussprache
Ich habe den Film gesehen und fand ihn etwas langatmig und den Schluss irgendwie überstürzt. Das war der Eindruck gleich nach dem Programm. Das Thema haftet aber nach und bewegt mich immer noch. Die Dialoge waren so vielschichtig. Immer wenn man sich selbst gerade eine Meinung gebildet hatte, kam ein Argument, das man überdenken musste. Alle Meinungen waren gleichberechtigt und auch Fehlaussagen wurden revidiert oder man entschuldigte sich. Solche Gespräche würde ich mir auch in anderen Bereichen wünschen, denn nur dann kann man zu einer Lösung finden, die für alle Betroffenen akzeptabel ist.
Leider war der Grund für das Gespräch einer, der immer noch totgeschwiegen wird.
Vielleicht rüttelt der Film zumindest ein wenig auf! Trotz aller, teilweise völlig überzogener, Genderkampagnen sind Frauen immer noch nicht gleichberechtigt und werden unterdrückt. Und das nicht nur innerhalb von Religionsgemeinschaften, sondern überall.
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