Kritik zu Stories We Tell
In ihrem faszinierenden Dokumentarfilm forscht Sarah Polley der wechselhaften Geschichte ihrer eigenen Eltern nach
Dass die Kanadierin Sarah Polley nicht nur eine hervorragende Schauspielerin ist, sondern auch eine bemerkenswerte Filmemacherin, ist unter Cinephilen längst bekannt. In An ihrer Seite und Take This Waltz erzählte sie von Ehen, die auf traurige Weise aus dem Lot geraten, und von Frauen, die sich auf unterschiedliche Art von ihren Männern entfremden. Nun startet Sarah Polleys dritte Regiearbeit in den Kinos, und was sie darin erzählt, lässt die beiden vorherigen Filme noch einmal in anderem Licht erscheinen: In dem Dokumentarfilm Stories We Tell forscht Polley dem Leben, den Ehen und den heimlichen Liebesbeziehungen ihrer Mutter Diane nach, die 1990 starb; Tochter Sarah war zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt.
Diane und ihr (zweiter) Ehemann Michael hatten beide als Schauspieler gearbeitet. Privat jedoch war das Paar denkbar unterschiedlich: Während der häusliche Michael mit der Familiengründung seinen Schauspielberuf weitgehend aufgab, ging die lebenshungrige Diane auch nach der Geburt ihrer Kinder regelmäßig auf Tournee. Das Delikate an der Sache: Töchterchen Sarah kam genau neun Monate nach einem Engagement im fernen Montreal zur Welt. Seit ihrer Teenagerzeit wurde die junge Frau mit der Frage geneckt, wer wohl in Wahrheit ihr leiblicher Vater sein könnte. Erst 2006 erfuhr die damals 27-jährige die Wahrheit über ihre Herkunft.
In Stories We Tell versucht Sarah Polley, der Geschichte hinter dieser Offenbarung auf den Grund zu gehen. Das hat durchaus etwas Selbsttherapeutisches, aber dank einer Reihe kluger dramaturgischer und inszenatorischer Kniffe gerät der Film nicht zur Nabelschau. Sarah Polley nimmt sich selbst extrem zurück und taucht – von einer entscheidenden Gesprächssituation abgesehen – höchstens als fragende Stimme aus dem Off oder als nüchtern agierende Regisseurin auf. Stattdessen lässt sie ausgiebig ihren Vater Michael, ihre vier älteren Geschwister sowie Freunde und vermeintliche Liebhaber der Mutter ihre teils sehr emotionalen Erinnerungen an Diane erzählen. Diese individuellen Memoiren illustriert Polley mit Super-8-Filmaufnahmen einer jungen lebenslustigen Diane in verschiedensten Situationen. Wobei die Filmemacherin hier eine Überraschung bereithält, die vieles, was durch diese Bilder klar und schlüssig erschien, als reine Projektion enttarnt, als einen Versuch, die Vergangenheit in eine begreifbare Form zu bringen. Tatsächlich muss auch Polley realisieren, dass die Dinge oft nicht so sind, wie sie zunächst scheinen, und (Familien-)Geschichte sich immer aus den Perspektiven aller beteiligten Personen zusammensetzt – und dass es nie ein abschließendes Bild geben kann. Diese mit feinem Humor vermittelte Erkenntnis gibt dem Film eine Allgemeingültigkeit jenseits der konkreten Geschichte von Diane. Nur dass man sich als Zuschauer fragt, ob man selbst den Mut zu einer so schmerzhaften Auseinandersetzung mit der eigenen Familienhistorie hätte. Im Fall des Polley-Clans verdichten die gemeinsamen Erinnerungen sich zu einer Erzählung, die ohne weiteres Stoff für ein hochkarätiges Hollywood-Melodram böte. Es gehört zu Sarah Polleys Meisterschaft als Regisseurin, dem Pathos eine feinhumorige, melancholische Lakonie vorzuziehen.
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