Interview: Sarah Polley über »Die Aussprache«
Sarah Polley am Set von »Die Aussprache« (2022). © Orion Releasing LLC
»Dies ist ein Akt wilder weiblicher Imagination«, heißt es am Anfang des Romans: Wie sind Sie daran gegangen, diese Idee in filmische Bilder zu überführen?
Vor allem war klar, dass sich der Film episch anfühlen sollte, großes Kino auf Breitwandformat, eine zeitlos archetypische Geschichte auf fast altmodische aber trotzdem mitreißende Weise erzählt. Die Gefühle der Frauen sollten sinnlich erfahrbar sein, ihr tiefer Glaube, aber auch die seismischen Erschütterungen, die ihre Gespräche auslösen. Diese Frauen zerlegen eine Welt in ihre Teile, um daraus eine neue zu bauen. Wirklich aufregend fand ich die Idee einer radikalen Demokratie: Diese Frauen sitzen zusammen und müssen einen Weg nach vorne finden. Selbst wenn sie nicht einer Meinung sind, müssen sie doch einen Konsensus finden und ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen akzeptieren: Welcher Schaden ist entstanden, was war ungerecht und wie wollen wir, dass die Welt aussieht, die wir jetzt zusammenbauen wollen. Mir kam das wie ein Paradigmenwechsel vor, mit dem unglaublich viel Hoffnung verbunden ist.
Ein Kammerspiel über Frauen, die im Heuschober miteinander reden: Diese Einschränkungen haben Sie gar nicht beunruhigt?
Überhaupt nicht, wir wussten, wirklich klaustrophobisch wird das nie, weil wir immer wieder auch raus in die Landschaft gehen. Und überhaupt: Ein paar meiner liebsten Filme bestehen hauptsächlich aus Gesprächen, »Die zwölf Geschworenen«, »Glengarry Glen Ross«, die Filmgeschichte ist voller großer Filme, die an nur einem Ort spielen, das hat mich überhaupt nicht geschreckt.
Menschen, die vor allem miteinander sprechen: Wenn das funkeln soll, ist die Besetzung besonders wichtig: Wie sind Sie da herangegangen?
Das war ein sehr langer Prozess, über mehrere Monate. Die Idee war, diese Gemeinschaft, dieses Kollektiv zusammenzustellen. Wir haben also nicht eine Person für eine Rolle besetzt, sondern jeden in seiner Beziehung zu den anderen. Da gab es sehr viele Meetings, in denen wir uns kennengelernt haben.
Was bedeuten Ihnen denn die Worte im visuellen Medium des Films?
Hier geht es darum, wie Menschen eine kollektive Sprache finden und wie transformierend und befreiend das sein kann. In gewisser Weise ist das der Weg zur Heilung, und das Aufregende im Kino ist, dass man dabei zuschauen kann, wie Gedanken entstehen.
Sie sind nach einer langen Pause von mehr als zehn Jahren wieder ins Filmgeschäft zurückgekehrt. Haben Sie Veränderungen infolge der #metoo-Bewegung wahrgenommen?
Nach zehn Jahren Abwesenheit war das natürlich besonders deutlich, aber es ist noch lange nicht genug und es geht auch nicht schnell genug. Ja, es gibt Bewegung, allein schon, dass es möglich ist, einen Film wie diesen finanziert zu bekommen. Als Frau im Filmgeschäft erlebe ich jetzt sehr viel weniger Misogynie, und es ist auch sehr viel leichter, überhaupt den Fuß in die Tür zu bekommen. Es ist unglaublich, was für eine Fülle großartiger Filme von Frauen inzwischen entstehen, doch wenn die Filme dann in den Verleih kommen, sieht es noch mal ganz anders aus! Nun geht es darum, dass die Filme auch gesehen werden müssen, in den Kinos und bei Preisverleihungen.
Dede Gardner, die auch »She said«, über die beiden Journalistinnen, die den Harvey Weinstein-Fall an die Öffentlichkeit gebracht haben, produziert hat, ist die einzige Produzentin, die zwei Oscars und fünf weitere Nominierungen in der Kategorie Bester Film hat. Wie fühlten Sie sich von ihr unterstützt?
Es ist ein Glück mit ihr zu arbeiten, sie ist klug, intuitiv, und stark. Sie hört genau zu und versteht es, dir einen künstlerischen Raum zu eröffnen und ihn zu schützen. Sie weiß, wann sie führen und wann sie sich zurückhalten muss, und sie versteht es, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem ich meinen Film finden kann. Wir bräuchten mehr solche Frauen!
Sie haben gerade ein neues Buch veröffentlicht, mit dem Titel »Run towards the danger«, gilt das nicht in gewisser Weise für jedes Filmprojekt?
Das stimmt, aber ganz besonders bei diesem Projekt: Wir hatten den Lockdown, meine Kinder waren ein Jahr nicht in der Schule, und ich war sehr vorsichtig und ängstlich. Und dann gab es eine Phase, in der die Covid-Zahlen in Kanada wieder enorm anstiegen, ich war kurz davor, dem Film den Stecker zu ziehen. Ich hatte eine richtige Panikattacke, nicht unbedingt rational begründet, da wir ja ständig getestet, alle immer Masken getragen haben. Es hatte eher damit zu tun, dass ich mich als Kind an Filmsets oft sehr unsicher gefühlt habe, was ich in diesem Buch zum ersten Mal öffentlich gemacht habe. Glücklicherweise hatte ich es Dede Gardner zum Lesen gegeben: Wenn man ein Buch mit dem Titel »Run towards danger« schreibt, kann man sich nie mehr aus der Affäre ziehen! Im Grunde habe ich eine Gebrauchsanleitung geschrieben, für alle, die mit mir arbeiten: Dede sagte, ich weiß, woher du kommst, ich verstehe deine Kindheit und was da gerade mit dir passiert und ich unterstütze dich, wenn du diesen Film nicht machen willst. Aber ich denke, wir sollten dranbleiben. Sie hat mich gehört und sie hat die richtigen Worte gefunden, so dass ich mich sicher fühlen konnte.
Vor und hinter der Kamera wird der Film von einer Riege von Frauen getragen, die sich, wie Sie es in einem Interview formuliert haben, »gegenseitig auf Schultern tragen, um höher zu kommen«: Aber gibt es nicht gerade im Filmgeschäft auch heftige Konkurrenzkämpfe?
Auf unserem Set gab es das überhaupt nicht. Wir haben sehr vorsichtig ausgewählt, wer in den Heuschober aufgenommen wird, um sicher zu gehen, dass es Leute waren, die Platz machen können für andere, die großzügig sind und sich nicht nur um sich selbst drehen. Zwischen diesen Schauspielerinnen herrschte ein ungewöhnliches Maß an Solidarität und Hilfsbereitschaft. Aber es kann auch ganz anders laufen. Oft gibt es so wenige Plätze für Frauen, dass wir gezwungen sind, gegeneinander anzutreten. Umso schöner ist es, wenn man sich gegenseitig unterstützt.
Haben Sie in Ihren Jahren als Schauspielerin einen Unterschied wahrgenommen, zwischen männlichen oder weiblichen Regisseuren?
Nicht unbedingt, ich hatte wirklich tolle Erfahrungen mit Regisseurinnen, aber auch großartige mit männlichen Regisseuren und ich hatte viele schreckliche Erfahrungen. Männer haben kein Monopol auf die Idiotenrolle, sie ist geschlechtslos, dennoch existiert der männliche Archetyp des verrückten, außer Kontrolle geratenen Genies. Wenn eine Frau sich so verhalten würde, dann hätte sie keine Karriere.
Haben Sie »Tár« von Todd Field gesehen, in dem Cate Blanchett eine Dirigentin in einem Machtmissbrauchs-Szenario spielt?
Ja, aber das ist keine reale Person! Ich persönlich habe nie erlebt, dass eine Frau ein verrücktes, launisches Genie ist, ihre Macht missbraucht und trotzdem erfolgreich ist. Ich habe sehr viele Männer in dieser Position gesehen, aber keine einzige Frau. Zweifellos ist jeder, der zu viel Macht hat, fähig, sich schlecht zu benehmen. Aber würde eine Frau auf dem Filmset auch nur ansatzweise unberechenbares Verhalten zeigen, würde das sofort von der gesamten Crew offen angeprangert. Wenn dagegen ein Mann dieselben schlechten Eigenschaften hat, ist das automatisch ein Qualitätssiegel! Ich würde sagen, schlechtes Verhalten hat kein Geschlecht, aber Frauen werden sehr viel schneller dafür kritisiert. Kathryn Bigelow hat mir mal den Rat gegeben, bloß nicht das Budget zu überziehen, weil man dann nie wieder Arbeit bekommt. Da ist diese Frau, die riesige Blockbuster-Actionfilme dreht, bei denen es Standard ist, dass die Budgets überzogen werden. Aber wehe, sie würde das als Frau wagen! Schon interessant, oder?
»Away from her«, »Take the Last Waltz«, »Stories we Tell« und nun »Women Talking«, wie der sehr viel schönere Originaltitel lautet: Bei aller Unterschiedlichkeit setzen Sie sich doch in allen vier Filmen mit der Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung auseinander…
Mich interessieren die verschiedenen Versionen derselben Geschichte, wie sich Narrative entwickeln und wie sehr wir an unseren eigenen Narrativen hängen und wie übertrieben wir ihnen vertrauen. Je mehr Filme ich mache, desto mehr interessiere ich mich dafür, die Geschichten nicht aus einer einzigen Perspektive zu erzählen, sondern einen Chor von Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Es erscheint mir sehr viel interessanter und fühlt sich auch menschlicher an. In dieser Hinsicht war »Stories we Tell« eine echte Offenbarung für mich, da habe ich gesehen, was es bedeutet, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern viele.
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