Nahaufnahme von John Magaro
»September 5« (2024). © Constantin Film
John Magaro ist Spezialist für die feinen Töne, ein Schauspieler, der oft ganz hinter seinen Rollen verschwindet und mit kleinen und persönlichen Filmen genau seine Nische gefunden hat
Seine musikalischen Hausheiligen sind zwar Mick Jagger und Buddy Holly, doch Douglas, Held der Coming-of-Age-Dramedy »Not Fade Away« (2012) sieht stattdessen dem jungen Bob Dylan zum Verwechseln ähnlich. John Magaro, mit langem Wuschelhaar und hochhackigen Stiefeln im Stil der Sixties kostümiert, feierte in der Hauptrolle eines musikbegeisterten Schülers seinen Durchbruch. Der fast Dreißigjährige geht dabei locker als Teenager durch. Und auch jetzt noch, da er in seinem neuen Film »Köln 75« erneut einen ‒ diesmal legendären ‒ Musiker spielt, hat er dieses Milchgesicht. Als Pianisten-Ikone Keith Jarrett an ein launisches Wunderkind erinnernd, gelingt es ihm, sich hinter Stoppelbart und struppiger Mähne quasi unsichtbar zu machen, wenn er, in sich versunken, am Klavier improvisiert. Wären da nicht diese melancholischen und zugleich forschenden Augen, die den Betrachter auf Distanz halten, aber nicht loslassen.
Die atmosphärische, die rebellischen Sechziger beschwörende Musikkomödie »Not Fade Away« von »Sopranos«-Regisseur David Chase, mit der John Magaro erstmals ins grellere Lampenlicht rückte, war der letzte Film, in dem er, als ambitionierter Schlagzeuger und Sänger einer Garagenband, selbstbewusst flippig sein durfte. Ab da begann der allmähliche Ausbau seiner Reputation als Nebendarsteller, der, meist im Kreise von Promis, durch eine anregend leisetreterische statt exuberante Ausstrahlung die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Am kontrastreichsten ausgemalt wurde dieses Stille-Wasser-Charisma zunächst in Serien. Im Netflix-Dauerbrenner »Orange is the New Black« ist er der sensible Brieffreund einer Strafgefangenen, der, trotz italoamerikanischen Temperaments, jede Überspanntheit seiner zukünftigen Angetrauten toleriert. In »Umbrella Academy« spielt er erneut einen, nun hoch manipulativen, Kümmerer. Als Leonard Peabody infiltriert er die Gruppe der Umbrella-Superhelden, indem er sich an die unglückliche Vanya (später Viktor) Hargreeves heranmacht. In der Maske des allzeit verständnisvollen Freundes will er sich an der Gruppe und an der ganzen Welt rächen. Ein Fall von enttäuschter Liebe ‒ denn einst wollte er unbedingt zu den coolen Superhelden gehören, wurde aber mangels Fähigkeiten abgelehnt. Physiognomie als Schicksal: Auch jenseits der neurotischen Superheldentruppe in der fantasievoll durch Zeit und Raum mäandernden »Umbrella Academy«-Handlung hätte John Magaro, klein und schmächtig wie er ist, eher wenig Chancen auf die Rolle eines maskulinen Sonnyboys. Als herrlich hinterlistiger Lurch indes ist er groß ‒ und entpuppt sich als Deus ex machina der ersten Staffel.
Diese markanten Serienauftritte mögen dazu beigetragen haben, dass er schnell in die engere Wahl avantgardistischer Filmemacher geriet. Spätestens seit 2023 ist er fester Teil jener Szene intellektueller Cineasten, die auf Filmfestivals gefeiert werden und dem Arthouse-Kino neue Impulse verleihen. In »September 5« schließlich ist seine Unscheinbarkeit der größte Trumpf des Films, in dem, aus der Sicht eines US-Nachrichtenteams hinter den Kulissen, der Verlauf des Münchner Olympia-Attentates erzählt wird. Magaro, der bereits 2005 als Statist in Steven Spielbergs »München«-Thriller mitwirkte, vermeidet als Nachrichtenproduzent jede Heldenpose und bringt stattdessen den inneren Zwiespalt eines Mannes zur Geltung, der die Berichterstattung über das entsetzliche Olympia-Massaker auch als Karrieresprungbrett nutzt.
Der Aufstieg des Schauspielers aus der Zone der Geheimtipps in die Zone der Coolness ‒ wenn auch nicht der Kinohits ‒ veranschaulicht zugleich die Veränderungen im US-Filmgeschäft. Der 1983 in Ohio geborene Schauspieler mit italienisch-jüdischen Wurzeln war vom Beginn seiner Karriere an vorrangig in Ensemblefilmen zu sehen, in denen er, in der Clique kreuzfideler Jungspunde, den nerdig-mysteriösen Außenseiter gab. So trat er unter ferner liefen in Wes Cravens Teenie-Horrorfilm »My Soul to Take« auf und in der College-Komödie »Liberal Arts« als hochintelligenter, depressiver Student. Nachdem mit »Not Fade Away« seine schauspielerische Durststrecke endete, fand er, als Teil hochkarätiger Ensembles, in Big-Budget-Filmen Arbeit. Im semibiografischen Börsenkrach-Drama »The Big Short« (2015) etwa ist er, geformt nach einem realen Vorbild, als sympathisch unbeholfener Nachwuchs-Spekulant der Gegenpol zu zynischen alten Hasen, gespielt u. a. von Steve Carrell, Ryan Gosling und Brad Pitt, die gegen den Kurs wetten. Erneut wirft er seine jugendliche Erscheinung in die Waagschale, wenn er als Hedgefonds-Manager aus der Provinz kaum fassen kann, wie korrupt das System ist. »The Big Short« ist mehr politisch aufklärerischer Lehrfilm als Finanzthriller. Und John Magaro fand seine Nische als Underdog in Independent-Filmen jenseits der Marvel-Superhelden, welche inzwischen trotz Fantastilliarden-Budgets vergleichsweise wenig Zuschauer ins Kino locken.
Neben dem Streaming-Boom ist diese tektonische Verschiebung auch bei den Oscars sichtbar. Denn die wandern seit einigen Jahren von anspruchsvollen und zugleich kassenträchtigen Filmen zu Autorenfilmen, die nur kurz auf dem Spielplan stehen. Magaros Karriere spiegelt auch das verstärkte Aufkommen weiblicher und diverser, außerhalb der USA geborener Regisseure. In Celine Songs Beziehungsdrama »Past Lives« (2023) übernahm er die undankbare Rolle eines Ehemannes, der seine koreanischstämmige Frau an deren wiederaufgetauchte Jugendliebe zu verlieren droht. Es ist geradezu herzzerreißend, wie er mit seiner typischen, im Original leisen, belegten Stimme versucht, seiner Frau Verständnis entgegenzubringen und Raum zu geben ‒ und in diesem gequälten sich Zurücknehmen das typisch Magaro'sche »Fade Away« zur Geltung bringt. Dass der Schauspieler selbst mit einer koreanischstämmigen Frau verheiratet ist, mag zu dieser Performance beigetragen haben: »Als ob ich für eine Therapiesitzung bezahlt worden wäre«, sagte er in einem Interview. Doch es gelingt seinem Filmcharakter virtuos, dem Klischee des Frauenverstehers unerwartete Komplexität zu verleihen.
Das Gefühl, ihn tröstend in den Arm nehmen zu müssen, durchzieht auch Kelly Reichardts Alternativ-Western »First Cow« (2020). Magaro in der Hauptrolle spielt einen Koch, der an den wilden Rändern des Westens, entlang des Oregon-Trails, sein Glück zu machen versucht. Zusammen mit einem chinesischen Kumpel klaut er Milch von der einzigen Kuh der Gegend und reüssiert zunächst als Streetfood-Kreppelbäcker. In diesem hypnotischen, in der Grauzone zwischen Zivilisation und Wildnis, tiefen Wäldern und schlammigen Hüttensiedlungen angesiedelten Drama brilliert Magaro als Waldschrat und stille Verkörperung jenes menschlichen Treibguts, das bei der Eroberung des Westens unter die Räder geriet. Das Drama ist eine Hymne an eine Männerfreundschaft und zugleich an die vielen Namenlosen, die vergeblich dem amerikanischen Traum folgten. Eine passgenaue Rolle übernahm er auch in der folgenden Zusammenarbeit mit Reichardt in der abgeklärten Komödie »Showing Up« (2023). Eine Töpferin (Michelle Williams) hadert darin mit ihrer Kunst und ihrer Familie. Sorge bereitet besonders ihr genialischer Bruder Sean, der sich von der Welt ausknipst und von einem fuselbärtigen Magaro als verstörter Hippie dargestellt wird.
Magaros derzeitige Erfolgssträhne setzt sich fort mit dem gefeierten Roadmovie »Omaha« (2025), ein Sundance-Festivalerfolg, in dem er als trauernder Witwer mit seinen Kindern eine Reise durchs Land macht. »Andere Schauspieler wollen ständig Actionszenen machen ‒ mir gefällt es, dazusitzen, Verbindung herzustellen und zu reden«, sagt er. Kleine, persönliche Filme als Antidot für aufgeblasene Heldenerzählungen: kein schlechtes Versteck, das John Magaro gefunden hat.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns