Netflix: »El Conde«
Die Gespenster der Geschichte sind schwer auszutreiben, wenn es nach Pablo Larraín geht. Sie kehren wieder, treiben wie Untote umher, beißen sich in den Köpfen der Menschen fest. Genau 50 Jahre nach dem Militärputsch in Chile, bei dem General Augusto Pinochet an die Macht kam und in seinem bis 1990 andauernden Schreckensregime Tausende Oppositionelle einsperren, foltern und ermorden ließ, zerrt ihn sein Landsmann Larraín wieder ans Tageslicht. In »El Conde« imaginiert er den 2006 verstorbenen Diktator als einen 250 Jahre alten Vampir, der weiter das Volk aussaugt. Er hat seinen Tod 2006 mit 91 Jahren nur vorgetäuscht, um der Verurteilung für seine Verbrechen zu entgehen.
So »lebt« Pinochet (Jaime Vadell) abgeschieden auf einer Ranch und hockt auf seinem zusammengerafften Reichtum, wenn er nicht gerade im klassischen Blutsaugerumhang über die nächtlich-glitzernde Skyline von Santiago de Chile fliegt und in Büros und Krankenhäusern auftaucht, wo er seinen Opfern das Herz herausreißt, um sie später im Mixer zum nahrhaften Smoothie zu zerschreddern. Ein Vampir geht schließlich mit der Zeit, ob im Frankreich des 18. Jahrhunderts, wo er als Claude Pinoche geboren wurde, oder heute. Doch dann treten seine Kinder auf den Plan, die dem Treiben ihres Vaters ein Ende bereiten und endlich ihr Erbe antreten wollen. Eine junge Nonne (Paula Luchsinger) übernimmt nicht nur die Pflege, sondern betreibt auch gleich Inventur in der ganzen Familie und deren Vermögensverhältnissen.
Larraíns Politparabel ist eine düstere Gruselsatire, die das Genre mit all seinen Geschmacksüberschreitungen genussvoll zu nutzen weiß und vor Blut und Splatter nicht zurückschreckt. Vergangenheitsbewältigung als Agitprop und Horrorspektakel. In der spanischsprachigen Originalfassung schildert und kommentiert eine weibliche Erzählstimme in feinstem Britisch den Werdegang durch die Jahrhunderte; am Ende klärt sich, nicht ganz überraschend, ihre Identität. Konsequent ausgelaugt wirken die Bilder, in Szene gesetzt von Kameramann Edward Lachman, der mit Licht- und Schattenspielen das Schwarz-Weiß in unzählige Grautöne ausbluten lässt.
Pablo Larraín setzt damit seine Auseinandersetzung mit der chilenischen Geschichte fort, die er schon in Filmen wie »Tony Manero«, »Post Mortem«, »No!« und »Neruda« realisierte. In »El Conde« geht er noch weiter, von der Fantasie zum Fantastischen. Bei der Weltpremiere in Venedig wurden Larraín und sein Co-Autor Guillermo Calderón mit dem Silbernen Löwen für das beste Drehbuch ausgezeichnet, in dem sie das Pinochet-Regime mit reaktionären Bewegungen in Frankreich und Russland sowie Thatchers Neoliberalismusjahren zusammenbringen. Die Politsysteme mögen sich wandeln, doch die an der Macht beuten die Mehrheit aus. Die Metapher der buchstäblichen Blutsauger, die nicht totzukriegen sind, scheint fast zu naheliegend. Als exorzistische Abrechnung hat Larraíns bildgewaltige Polithorrorfarce trotz schräger Details letztlich nicht genug Biss.
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