Kritik zu Neruda
Pablo Larraín setzt nach »Tony Manero«, »Post Mortem« und »No!« seine filmische Investigation zur chilenischen Geschichte fort. Diesmal mit einem halb fiktiven Biopic über den chilenischen Dichter und Nobelpreisträger Pablo Neruda
Im Jahr 1946 kam es zu einem Zerwürfnis zwischen dem demokratisch gewählten chilenischen Präsidenten Gabriel Gonzalez Videla und dem kommunistischen Abgeordneten Pablo Neruda. Der damals schon populäre Dichter Neruda beleidigte das Staatsoberhaupt und wurde seiner diplomatischen Immunität enthoben. Seiner Verhaftung entzog er sich, indem er untertauchte. Dieser Aspekt der Geschichte basiert auf Fakten. Doch wenn in Pablo Larraíns filmischer Version die Kamera zur Seite schwenkt und der Sitzungssaal des chilenischen Parlaments, in dem die Debatte stattfindet, sich übergangslos als Pissoir entpuppt, dann gehen Dichtung und Wahrheit ineinander über.
In einem Zwielicht zwischen Fakten und Legenden siedelt der chilenische Regisseur Larraín seinen »Neruda« an. Die Geschichte beginnt auf einer politischen Herrentoilette. Es geht nur darum, wer den Längsten hat. Neruda, vom chilenischen Darsteller Luis Gnecco als beleibter Genussmensch gespielt, ist zwar »der Gute«, macht aber als Salonkommunist nicht immer eine gute Figur. Diese Ambivalenz leuchtet Larraín mit barock anmutenden Bildern aus, die zuweilen von Fellini stammen könnten. Um seine Verfolger zu narren, begibt der untergetauchte Dichter sich auf die Flucht ins Ausland – wie es scheint. Der Meereshintergrund und das Schiff, auf dem er sich fotografieren lässt, erweisen sich als gemalte Kulisse, wie in einem Studio. Geradezu plakativ stellt Larraín hier die selbstreflexive Struktur seines Films aus. Dennoch hat er kein postmodernes Vexierspiel um Fiktion und Realität im Sinn. Der Regisseur und sein Drehbuchautor Guillermo Calderón übersetzen das Spannungsverhältnis zwischen dem poetischen Schaffensprozess und Nerudas politischem Sujet – die »Poesie der Unterdrückten« – in artifizielle, opernhafte Bilder. Auf seiner Flucht, die er sich mit der Lektüre von Kriminalromanen versüßt, findet der Poet Unterschlupf bei dankbaren Menschen aus dem Volk. Alle lieben Nerudas Gedichte, weil er die Gefühle der Unterdrückten in Worte fasst. Diese Begeisterung für Worte dürfte bei der Generation Snapchat wohl nur noch ein Stirnrunzeln hervorrufen.
Obwohl Neruda davon träumt, einer von ihnen zu sein, ein Gleicher unter Gleichen, entwirft die semifiktive Filmbiografie das opulente Bild eines dekadenten Lebemannes, dessen Hang zur Bequemlichkeit in spitzzüngigen Dialogen aufblitzt: »Dass wir nicht putzen, hat politische Gründe«, heißt es einmal. Seine Partnerin Delia (Mercedes Morán) lässt Neruda immer wieder alleine, um sich im Bordell zu vergnügen. Die großbürgerlich-dekadenten Anwandlungen des Poeten werden offenbart – ohne sein dichterisches Anliegen zu diskreditieren.
Die Kraft jener Poesie, mit der Neruda dem Volk eine Stimme gibt, hat allerdings eine narzisstische Wurzel. Diesen Kurzschluss verbildlicht der Film mit einem Kunstgriff. So wird der flüchtige Poet von einem ebenso eifrigen wie uneffektiven Polizisten gejagt, der als »Mischung aus Arschloch und Trottel« bezeichnet wird. Gael Garcia Bernal erweckt ihn auf seine unnachahmliche Weise zum Leben. Der Krimiplot dient allerdings nicht zum Aufbau einer konventionellen Spannungsdramaturgie. Der Film ist eher eine gefühlte Oper. Es werden »große« Bilder zelebriert. Frei nach Pirandello, in dessen Drama sechs Personen ihren Autor suchen, fahndet Bernals Óscar Peluchonneau nach jener Zielperson, die ihn literarisch entworfen hat. »Ich war aus Papier, nun bin ich aus Fleisch und Blut«, so lautet am Ende der schönste Satz des Polizisten.
Der Film, eine um die Ecke gedachte Hommage, ist eine tastende Annäherung an den chilenischen Nationalheiligen. Er erzählt von einer Reise quer durch Chile und zeigt dabei auch jene Lager mitten in der Wüste, in denen politische Gefangene interniert sind. Trotzdem, so die subtile Pointe, findet alles im Kopf des Dichters statt. Ist der Film deshalb auch eine Kopfgeburt? Im Vergleich zur charmanten italienischen Tragikomödie »Il Postino« von 1994, in der Philippe Noiret als Neruda einem einfachen Postboten beibringt, wie eine Metapher funktioniert, ist Larraíns überladene Burleske zuweilen schon etwas kunstbeflissen.
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