Der Nebel der Normalisierung
»Evolution« (2021). © Match Factory Productions / Proton Cinema
Claude Lanzmanns strenger Dokumentarfilm »Shoah« ließ die Zeitzeugen, die Opfer von Faschismus und Antisemitismus sprechen. Das ist jetzt fast vierzig Jahre her. Seitdem haben sich die Maßstäbe gelockert. Es scheint, als habe der Film, und besonders der deutsche, Schwierigkeiten, noch eine Position im Umgang mit dem Verbrechen an den Juden und der jüdischen Kultur zu finden. In diesem Monat starten mit »Evolution« und »The Survivor« zwei, die es versuchen
Eine »Stunde Null«, einen Punkt für einen radikalen Neuanfang nach dem alliierten Sieg über Nazideutschland, hat es nie gegeben. Auch nicht im Kino. Als kurz nach dem Krieg in Italien erste Filme über Faschismus, Krieg und Besatzung entstanden, stellten – mit dem Wissen von Regisseuren und Schauspielern, die zuvor bei den Partisanen aktiv waren oder deutsche Lager durchlitten hatten – untergetauchte deutsche Nazioffiziere die deutschen Besatzer dar und wurden dafür mit der Wahrung ihrer Tarnexistenzen belohnt. In den deutschen Filmen der Nachkriegszeit arbeiteten »Mitläufer« des Regimes und aus dem Exil Zurückgekehrte zusammen. In Oskar Roehlers »Jud Süß – Film ohne Gewissen« aus dem Jahr 2010 bringt es Moritz Bleibtreu in der Rolle von Joseph Goebbels feixend auf den Punkt: In den Hollywoodproduktionen spielten emigrierte Juden die Rollen von deutschen Nazis, und im nationalsozialistischen Film waren die Judenrollen mit »rassereinen« Ariern besetzt. Noch heute beginnt die eine oder andere internationale Filmkarriere deutscher Schauspieler in SS- oder Wehrmachtsuniform.
Schon in den Besetzungscoups spiegelt sich das Dilemma des Spielfilms über Faschismus, Krieg und Holocaust. Wer spielt den Nazi, und mit welchem Bewusstsein, mit welchem Auftrag tut er es? Wie kann, wie darf man die Opfer darstellen? »Am Ende kommen Touristen«, fürchtete man 2007 in Robert Thalheims gleichnamigem Film über die Gedenkstätte Auschwitz. Am Ende, so kann eine andere Befürchtung lauten, entstehen aus der Verpflichtung der »Erinnerungskultur« deutsche Genrefilme: Klamotten, Feelgoodmovies, Familiendramen, Heimatfilme.
Die Schlechten und die Diskutablen
Die deutschen Filmindustrien in Ost und West haben vom Faschismus, vom Massenmord und vom Terror der Naziherrschaft nie vollständig geschwiegen. Sehr bald sogar hat man aus den Themen einigermaßen schamlos Kapital geschlagen. Und stets geht es dabei in Bezug auf eine Kinematographie wie die deutsche auch um eine Komplizenschaft zwischen Filmproduktion, Mainstreamgesellschaft und Politik. Natürlich verdienen jeder einzelne Film, jede einzelne Filmemacherin und jeder einzelne Filmemacher, auch für sich behandelt zu werden, so dass man etwa ganz und gar furchtbare Beispiele wie »Der Untergang«, die in filmtheoretischen ebenso wie in historischen Seminaren zerpflückt werden können, von diskutablen Beispielen wie etwa die »kalte« Rekonstruktion in »Die Wannseekonferenz« unterscheiden kann. Aber Pauschalurteile vermeiden – ein amerikanischer Kollege erklärte die Welle der jüngsten Nazi- und Holocaustfilme kurzerhand zur von der Regierung geförderten nationalen Normalisierungspropaganda – heißt nicht, von Strukturen, Trends und Politiken in der Filmproduktion zu schweigen.
Alte und neue Täter
Eine besondere Stellung in dieser Geschichte der filmischen Erinnerung nehmen die jüdischen Erfahrungen ein, oder allgemeiner: die Perspektive der Opfer und ihrer Nachkommen. Dazu gibt es eine einigermaßen konstante Produktion von dokumentarischen Filmen, von denen die besten nicht über, sondern mit KZ-Überlebenden gedreht wurden, und auch diese wandeln langsam, aber stetig ihren Ton, vom Entsetzen über das Mit-Leiden zur Trauer darüber, dass sogar diese Erinnerung verblasst, während aus dem Nebel der Normalisierung die alten Täter und neue antisemitische Gewalttäter auftauchen. Wie viele Filme über junge Neonazis hat es im wiedervereinigten Deutschland gegeben und wie wenig über ihre Opfer!
Das Faszinosum der Täter schlägt immer wieder durch, umso mehr, wenn man sich vom Dokumentarischen zum Spielfilm bewegt, denn die Täter haben sich, im Gegensatz zu den Opfern, immer schon inszeniert, haben Posen und Ornamentik eingeübt, die visuellen und akustischen Räume beherrscht. Noch in ihrer Verurteilung, Dämonisierung, Karikatur oder sogar in der Betonung der allfälligen »Banalität des Bösen« feiern sie einen semantischen Triumph. Die Täter haben eine cineastische Ikonographie bekommen, und sie spielen sich leicht. August Diehl brachte es bei einem Interview zu dem Film »Die Fälscher« (2007) auf den Punkt: »Das Gefühl von Macht und Machtausübung und sich selber groß fühlen und in einem System zu dienen, wo man was zu sagen hat, das kenne ich mehr, sag ich mal, als ein Opfer in einem KZ zu sein.« Wer den Nazi spielt, ist voll im Bild. Um die Opfer angemessen zu repräsentieren, muss man sie zuerst aus dem Blick der Täter befreien. Schon daran scheitert eine Vielzahl von Filmen.
Phasen der Bearbeitung
Die Gegenwart von Faschismus und Schoah im deutschen Spielfilm lässt sich, immer unter Berücksichtigung von möglichen Ausnahmen, vielleicht in fünf Phasen modellieren.
Phase 1, in den 50er und frühen 60er Jahren, bedeutete vor allem Verdrängung und Projektion im Westen: Dämonische Nazis herrschten über ein eingeschüchtertes Volk und führten brave Soldaten in einen »sinnlosen Krieg« in einem eigenen Genre zwischen Kriegsaction und Melodrama. Die jüdischen Opfer blieben weitgehend außerhalb des filmischen Blickraumes. Aber auch in amerikanischen oder russischen Filmen wurde das Pathos der Befreiung über die Sorge für die Opfer gestellt.
Phase 2, in den 60er und 70er Jahren, brachte eine Reihe von zornigen, kritischen Auseinandersetzungen. Das Wagnis, sich mit der Verführungskraft des Faschismus zu befassen, wie es südlich der Alpen geschah, überließ man ebenso wie die Perspektive der Opfer ausländischen Filmen. Die vorherrschende Perspektive, wie zum Beispiel in einem Film mit dem Titel »Stunde Null«, war die der ersten Nachkriegsgeneration, die auf die Hinterlassenschaft blickte, die kaputten Familien, die Brutalität in Stein, die kulturellen Schocks der Besatzung. Das Konzentrationslager wurde, wie in »Jakob der Lügner«, zu einem Parabelraum.
Phase 3, in den 80er und 90er Jahren, brachte eine Kanonisierung der filmischen Erinnerungskultur. Es wurde gerungen um die »richtige« Darstellung. Filme wie »Schindlers Liste« (1993) und Roberto Benignis »La Vita e bella« (Das Leben ist schön, 1997) wurden heftig diskutiert, heftiger jedenfalls als die eigene Produktion, in der die populärsten Exemplare zwischen »Das Boot« (1981) und »Stalingrad« (1993) scheinbar bruchlos an die modifizierte Täterperspektive der 50er Jahre anknüpften. Die jüdischen Opfer wurden sozusagen durch Zitaterwähnung ausgeblendet.
Die junge Frau, die am Ende von Hirschbiegels »Untergang« den Führerbunker in Richtung Zukunft verlässt, markiert den Übergang zur nächsten, der Phase 4 – die Phase der »Normalisierung«, die die ersten beiden Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts bestimmt. Noch mehr als zuvor wird in den Filmen dieser Zeit Kontinuität und Exkulpation betrieben. Den Fernsehdreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« (2013) verzeichnete man in den USA und anderen Ländern schlicht als Nazipropaganda; auch etliche andere aus der Produktionsfirma von Nico Hofmann wie »Dresden – Das Inferno« (2005), eine Liebesgeschichte zwischen deutscher Krankenschwester und abgeschossenem britischem Piloten, oder »Rommel« (2012) nutzen mit Nuancen einen stets gleichen Erzählgestus der »privatisierten« Geschichte. Im letzten Beispiel etwa spielt Ulrich Tukur einen enttäuschten und leidenden General, der kurz vor seinem Tod doch noch zur Besinnung kommt. Er wird, wie die Kritik meinte, »weder dämonisiert noch heroisiert«. Sondern eben normalisiert. Die Väter und Mütter in Philipp Kadelbachs Film sind junge Menschen, die so viel lieber ein normales Leben führen würden, als in Nationalsozialismus und Krieg gezwungen zu werden, und die scheinbar von Antisemitismus und Militarismus kaum berührt worden sind.
In einer anderen Galaxie
Tatsächlich ist es der Trick dieser Erzählweise, die Geschichten der Täter und die der Opfer gewissermaßen in verschiedene Welten, in verschiedene Genres zu trennen. Erzählt man von den Tätern, bleiben die Opfer seltsam fremd und fern, erzählt man von den Opfern, sagen wir in den beiden neuen Anne-Frank-Filmen aus Deutschland (»Meine Tochter Anne Frank«, 2014; «Das Tagebuch der Anne Frank«, 2016), bleiben die Täter fremd und fern. In deutschen Filmen, auch das hat mit ihren Produktionsbedingungen zu tun, gibt es die Wiedergabe des Grauens, in so unterschiedlichen Filmen wie »Komm und sieh« (Sowjetunion 1985) oder »The Painted Bird« (Tschechien, Ukraine, Slowakei 2019) noch einmal auch als Erzählbruch gegenwärtig, so gut wie nicht. Nicht nur in den zu Recht etwas berüchtigten »Doku-Dramen« des deutschen Fernsehens herrscht eine Distanz, die es uns leicht macht, das Geschehen als etwas anderes, Entferntes, Abstraktes zu empfinden. Und immer wieder müssen Kinder als Projektionsflächen für das Unschuldig-Schuldige herhalten.
Der Blick ins Lager und in die verzweifelten Kämpfe um das physische, aber auch das moralische Überleben ist ebenso selten geworden wie das künstlerische Wagnis, die Grenzen der realistischen Darstellung dort zu überschreiten, wo die Realität die Grenze der Darstellbarkeit erreicht. »Son of Saul« (2015) von László Nemes wagt noch beides. Im Oktober 1944 entdeckt der ungarische Jude Saul im Lager Auschwitz-Birkenau die Leiche eines Kindes und glaubt, in ihm den eigenen Sohn zu erkennen. Während er sein Leben riskiert, um einen Rabbiner für das Kaddish zu finden, wird die Kamera ein so intimer Begleiter, dass man beim Zuschauen eine Ahnung davon bekommt, wie es wäre, an diesem höllischen Ort mit seinen furchtbaren Bildern und Geräuschen zu sein. Wieder teilen sich die Meinungen in Deutschland; die einen sehen gar wieder »Pornografie« am Werk, die anderen erkennen die Grausamkeit der Bilder als notwendigen Teil des Reenactments an.
Ist es nicht merkwürdig, dass in der deutschen Filmkultur, die am zaghaftesten und abgekühltesten mit diesen Themen umgeht, immer die lautesten und entschiedensten Urteile darüber gefällt werden, was man darf und was nicht? So lobt man sich immerhin Filme, die ganz nach den Regeln des cineastischen Storytelling mit Emotionen umgehen. »Auschwitz – Out of the Ashes« (2003) von Joseph Sargent, der beklemmende Aktualität erhält, zum Beispiel: Die jüdische Ärztin Gisella Perl, die Auschwitz überlebte, weil sie den Nazis (und einem gewissen Dr. Mengele) nützlich war, konnte den schwangeren Frauen im Lager durch Abtreibungen das Leben retten, da sonst unweigerlich Mutter und Kind getötet worden wären. Nach dem Krieg muss sie sich vor einem Gremium von Männern verantworten, weil sie sich mit den Abtreibungen schuldig gemacht habe. Bei einer so klaren Ausgangslage schadet es nicht, dass man die klassische Struktur eines konventionellen Courtroom-Dramas einsetzt. Auch »The Aryan Couple« (2004) von John Daly verlässt sich auf die dramatische Grundkonstellation: Joseph Krauzenberg, jüdisch-ungarischer Fabrikant, versucht verzweifelt seine Familie zu retten, indem er seinen Besitz im allgemeinen, seine Kunstsammlung insbesondere, Heinrich Himmler überträgt. Zwei arische Hausangestellte, die offenbar bis zum Ende treu bei ihren Dienstherrn verbleiben, geben sich kurz vor der Abreise als Mitglieder des jüdischen Widerstandes zu erkennen. Wie noch ihr Leben retten, da ein SS-Offizier die Tarnung durchschaut hat? Auch hier wird eine sehr traditionelle Spannungsdramaturgie eingesetzt. Die klare moralische Position aber hält das aus.
Die Suche nach der Vergangenheit
Diese Position ist uns hierzulande offenbar abhandengekommen. Wie im berühmten »Maus«-Comic von Art Spiegelman muss daher das Subjekt der Recherche miteinbezogen werden. Und nicht mehr um das historische Geschehen an sich kann es gehen, sondern immer auch um die Schwierigkeiten, es zu erkennen und vor dem Vergessen und Verdrängen zu bewahren. Dem historischen Bild ist selbst nicht mehr zu trauen, die Vergangenheit verschwindet oder wird Ikon und Monument. Deshalb wird die Suche das eigentliche Thema, die Überwindung der sozialen und familiären Hürden, ein Weg ins Ungewisse. Barbara Albert etwa erzählt in »Die Lebenden« (2012) in einer autobiografischen Gestik von einer jungen Frau, die im eigenen Familienroman forscht und auf die Geschichte des Großvaters trifft, der nach einem Herzinfarkt nicht mehr verlässlich Zeugenschaft geben kann. Der Vater dagegen will von der Vergangenheit ganz und gar nichts wissen. Und so führt Sita die Recherche eigenständig weiter und gelangt nach Rumänien und an die Seite eines Fotografen aus Israel. Wieder eine symbolische Verbindung ins Paradoxe hinein: Die Geschichte, die uns trennt, wird uns durch gemeinsame Aufklärung vereinen. Es ist kein Zufall, dass Filme über Faschismus, Antisemitismus und Schoah immer mehr zu Reisefilmen werden.
In der Gegenbewegung freilich stellt sich eine andere Frage, nämlich die nach der Identität. Man sieht da nicht so sehr auf die historischen Ereignisse oder in die metaphorischen Kammerspiele, sondern identifiziert sich mit Figuren, die nach Wurzeln, nach Rätseln in den Familiengeschichten, nach Brüchen in der Biografie suchen. So etwa in der deutsch-schwedischen Produktion »Simon« (2011, Lisa Ohlin), der Geschichte eines Bauernsohns, der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs durch den Vater eines geflüchteten Juden Bildung und Kunst kennenlernt. Viel später erfährt er, dass er in Wahrheit ein adoptierter Sohn eines deutschen Violinisten ist, mit dem seine Mutter eine Affäre hatte. Nun bricht er nach Berlin auf, um seinen leiblichen Vater zu suchen. Die drei Väter von Simon stehen für seine Möglichkeiten so wie für eine schwedische, eine deutsche und eine jüdische Identität. Auch hier geht es um die Konstruktion von Bruch und Kontinuität, der biografische Gestus konstruiert stets den heißen Kern: das Trauma (der Opfer und der Täterkinder zum Beispiel) und die Normalität. So muss eine neue Identität über den Brüchen konstruiert werden; das ist nicht nur eine filmische, das ist eine soziale Notwendigkeit.
Viele Filme dieser Zeit erzählen von Rückkehr, Integration und Gerechtigkeit. Zur gleichen Zeit gab es aber auch einen dezidierten Abwehrkampf gegen eine direktere Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Noch im Jahr 2017 wollten ARD und arte den Dokumentarfilm »Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa« nicht senden, weil er nicht »ausgewogen« genug sei. Dem Historiker Götz Aly wurde auf Anfrage bei arte in Paris mitgeteilt, der Film sei »antiprotestantisch, antimuslimisch, proisraelisch« und nicht »ergebnisoffen«. Das Beispiel mag als Hinweis darauf genügen, dass die kulturellen Apparate beim Thema Antisemitismus stärker bei der Filmproduktion mitarbeiten als bei anderen Themen und dass in der Tat im Jahr 2017 die Frage nach dem Antisemitismus in den Mainstreammedien wieder »ergebnisoffen« gestellt werden soll.
Phase 5
Seit einigen Jahren könnten wir von einer neuen Phase 5 sprechen, die man vorläufig unter die Stichworte »Intimisierung« und »Identifizierung« stellen kann. Die Intimisierung geht oft von einer Traumabewältigung über die Generationen aus, und es gibt sie in einer durchaus schmerzhaften und in einer drastisch verharmlosenden Weise. Zwei Beispiele aus der letzten Zeit können das illustrieren. In »Chuzpe – Klops braucht der Mensch« (2015) spielt Dieter Hallervorden den Auschwitz-Überlebenden, der als über 80-Jähriger aus Australien nach Berlin und zurück zu seiner Tochter kommt. Von der Kunst-Jiddisch-Sprache über die aufdringliche Klarinettenmusik, die man offenkundig unabdingbar mit allem Jüdischen verbindet, bis zur Tochter, die mehr unter dem Trauma zu leiden scheint als der immer noch unternehmungslustige Vater, reichen die Klischees, bei denen auch guter Sex im Alter und geschäftlicher Erfolg nicht fehlen dürfen. Wenn man bösartig sein wollte, überlagert hier ein ostpreußisch rollendes R das Jiddische, und es ist, als würden hier Familie und Heimat neu begründet: durch den Verzicht auf Vergangenheit. Der Verdacht, dass der familiäre Traum die historische Erfahrung und das Bewusstsein überlagert, lässt sich wohl auch gegenüber Filmen wie »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« (2019) nicht so leicht ausräumen, die, ohne es vielleicht zu wollen, die Auflösung der historischen Erfahrungen in einem allgemeinen Modell von Flucht und Vertreibung vorantreiben.
Das wird nie vorbei sein
Den über die Generationen weitergegebenen Schmerz dagegen spürt man in »Evolution« (2021, Kata Weber, Kornél Mundruczó), der die Intimisierung an eine weitere Grenze treibt. Im ersten Teil sehen wir, wie bei den Räumarbeiten in einer Gaskammer in einem befreiten KZ ein kleines Mädchen geborgen wird, das wie durch ein Wunder überlebt hat. Im zweiten Teil ist dieses Mädchen Éva als alte Frau in ihrer Wohnung in Budapest zu sehen. Anzeichen einer Demenz machen sich bemerkbar, Évas Tochter Léna verzweifelt schier daran, dass sich die Mutter nicht wirklich kooperativ bei der Suche nach den Papieren zeigt, die ihrem Sohn Jonás einen Platz in einer jüdischen Schule sichern sollen. Und im dritten Teil geht es um die Beziehung des an seiner jüdischen Identität und an der ständigen Verteidigungsbereitschaft seiner Mutter leidenden Teenagers Jonás zu einem nicht weniger marginalisierten Mädchen aus einer muslimischen Familie. Die Nähe zu seinen Figuren macht den Film zu einem Gegenpol zu den traditionellen Erzählformen ebenso wie zu den Feelgoodmovies; es gibt hier keine Klärung, keine Lösung, nicht einmal eine Identifikationsfigur; man erleidet nur die Vererbung des Schreckens und erkennt: Das wird nie vorbei sein. Ob das Opfer der fundamentalen Intimisierung dabei zu Gewinn oder zu Verlust führt, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall kann man sich kaum größere Gegensätze denken bei den Versuchen, Auschwitz noch einmal filmisch erzählbar zu machen. Verschwindet Auschwitz aus den Köpfen, weil die Welt sich um die Erinnerung kümmert, oder verschwindet Auschwitz aus der Welt, weil es sich in den Köpfen festgesetzt hat?
Dazwischen liegen Filme wie »Kaddisch für einen Freund« (2011) wo das Versöhnungswerk, hier zwischen Juden und Palästinensern in Berlin, immerhin auf seine Schwierigkeiten abgeklopft wird: zwischen einem alten Juden und einer Gruppe junger arabischstämmiger Jugendlicher wird eine vorsichtige Beziehung aufgebaut. Was A. O. Scott in der »Seattle Times« über die Ausstrahlung von »Unsere Mütter, unsere Väter« schrieb, trifft auf eine Vielzahl (nicht nur) der deutschen Filme zu Faschismus und Antisemitismus zu: Die Serie »ist interessanter als Widerspiegelung der Gegenwart denn als Bearbeitung der Vergangenheit. Der Weltkrieg verschwindet aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen, während sie sich zugleich darauf vorbereiten, eine dominante Rolle in Europa zu akzeptieren, bei der die Integration der Ostblock-Länder eine größere Bedeutung hat als Krieg und Faschismus«. So wird die politische Normalisierung, einschließlich der Gewöhnung an einen rechtspopulistisch bis neofaschistischen Bestandteil der eigenen Gesellschaft, mit einer Normalisierung der Erinnerung verknüpft. Die zwei gegensätzlichen Pole sind dabei eine Verharmlosung (es ist doch schon so lange her, lass uns lieber die Gegenwart genießen und ein Klops-Restaurant eröffnen) und ein Verschwinden (es gibt keine allgemeine Erzählung mehr, auf die ein Film Bezug nehmen könnte, so dass sich alles im Kampf der Subjektivitäten auflöst).
Auch Barry Levinsons »The Survivor« kann sich nicht mehr vollständig auf Authentizität plus Position zurückziehen. Die Geschichte des Auschwitz-Häftlings Harry Haft, der das Lager überlebt, weil er sich als Boxer ausbilden lässt und zum Vergnügen der Wächter kämpft, seiner Flucht aus dem Todesmarsch und seine Existenz in den USA als zweitklassiger, aber mit dem Nimbus des KZ-Überlebenden beworbenen Boxers lässt die Brüche von Schuld und Demütigung erkennen. Auch dieser Harry Haft trägt nach den körperlichen die seelischen Verwundungen weiter. Und wir teilen eine Einsamkeit, die sich buchstäblich verkörpert. Die Empathie, die wir bei allem Nicht-Erklären noch mit »Sophie's Choice« entwickeln konnten, will sich nicht mehr einstellen. Vielleicht ist die Sehnsucht nach einer intimen, familiären Lösung so groß, weil es eine Hoffnung auf eine gemeinsame Welt-Heimat für den Menschen nach Auschwitz nicht mehr gibt.
Natürlich tut es gut, wenn inmitten des israelisch-arabischen Konflikts nicht nur Traumata verarbeitet werden, sondern auch einmal auf fast kindlich naive Art von Versöhnung geträumt wird. Übrigens wird der Begriff »koscher« inflationär gebraucht und taucht in nahezu jedem Zusammenhang auf, von der britischen Identitätskomödie, in der ein beinharter Moslem erfahren muss, dass er jüdische Familienwurzeln hat (»Alles koscher«), bis zur neuen sympathisch-verträumten Buddy-Komödie über einen Juden und einen Beduinen, die sich auf einem gemeinsamen Trip durch die Wüste trotz ihrer wechselseitig so seltsam empfundenen Riten und Überzeugungen näher kommen: »Nicht ganz koscher« von Stefan Sarazin und Peter Keller ist so voller gutem Willen, dass es am Ende doch ein Verrat an den Figuren ist. Es wird ihnen, nennen wir das symptomatisch, keinerlei Veränderung abverlangt. Die Sehnsucht nach menschlicher Wärme ohne Bewusstsein bringt nicht viel ein, im Kino nicht und in der Wirklichkeit auch nicht.
Das genaue Gegenteil solcher Wärme repräsentiert der Fernsehfilm von Matti Geschonneck zur »Wannseekonferenz« (2022), der sozusagen ungerührt die Gespräche der 15 Männer (nach den Dokumenten und nur hin und wieder darüber hinausgehend) aufnimmt, die die »Endlösung der Judenfrage« erörtern und auf der Suche nach dem effizientesten Weg zum Massenmord sich gegenseitig zu übertrumpfen oder auszuspielen versuchen. Wie diese normalen Menschen über die Vernichtung von Menschen sprechen und wie sich ihr Sprechen immer weiter in die unmenschlichsten Fantasien schraubt, von denen wir wissen, dass sie verwirklicht werden, das bringt vielleicht noch einmal einen Erkenntnisgewinn. Antisemitismus und Faschismus beginnen in der und als Sprache.
Der Trost des Unterhaltungsfilms
Dieses Grauen vor der »Normalität« hatte zuvor auch Raymond Leys »Eichmanns Ende – Liebe, Verrat und Tod« (2010) vermittelt, wo Herbert Knaup die Worte spricht, die der wahre Eichmann bei einem Interview in Argentinien zum Besten gab. Er lebt da in einer deutschen Gemeinde, die zu beinahe gleichen Teilen aus geflohenen Nazis und Juden bestand, die voneinander wussten. Willem Sassen, ebenfalls unverbesserlicher Nazi, wird auf Eichmann aufmerksam, und der gibt ihm so bereitwillig über die Judenvernichtung Auskunft, dass es selbst diesen Faschisten schaudert. Doch zeigt der Film noch, anders als »Die Wannseekonferenz«, wie sich das Konzept der Selbstentlarvung an filmischen Konventionen brechen kann: Im Hintergrund der Gespräche nämlich bahnt sich das Drama um Eichmanns Entführung an. Zur gleichen Zeit verliebt sich Eichmanns Sohn Klaus in die Tochter eines KZ-Überlebenden, der schließlich erkennt, wen er da vor sich hat und die israelische Regierung benachrichtigt, weil er der deutschen Justiz nicht traut. Es ist diese erfundene Liebesgeschichte, die die Nachkommen der Verfolgten zu Recht erzürnte. Es wird eine Grenze überschritten, wo sich die Trostangebote des Unterhaltungsfilms der realen Menschen bemächtigen.
Und damit ist man erneut bei einem Dilemma der filmischen Repräsentation angelangt. Einerseits verblasst die direkte historische Erinnerung. Von Generation zu Generation wird das alles entfernter, abstrakter, seltsamer. Und andererseits leben wir in einer Gesellschaft, in der ein gutes Drittel die Aussage, Juden hätten »in unserem Land« immer noch viel zu viel Einfluss, für teilweise oder vollkommen richtig erachten. Dieser Gleichzeitigkeit vom Verschwimmen und Verschwinden des historischen Antisemitismus und der furchtbaren Aktualität von Antisemitismus, der von den rechten Rändern stetig in die Mitte träufelt, kann das Kino, kann der Film wohl kaum eine erzieherische Wirkung gegenüberstellen, bei der die Mittel den Zweck heiligen. Sie können ihm nur eine Wahrhaftigkeit entgegensetzen, die immer schwieriger zu erzielen ist. Wir verlieren nicht nur die Zeugen und Dokumente, wir sind dabei, den narrativen Konsens, die allgemeine Erzählung vom Faschismus und vom Holocaust, von der Anklage der Täter und der Demut gegenüber den Opfern zu verlieren. Was man in dieser Situation am allerwenigsten braucht, sind Filme, die es sich und uns leicht machen wollen.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns