Kritik zu Son of Saul
Bei seiner Premiere auf dem Festival von Cannes im vergangenen Jahr löste László Nemes mit seinem Regiedebüt eine kleine Sensation aus. Die intensive, bedrückende Schilderung der Vorgänge im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau sammelte seither noch zahlreiche Preise ein, sie polarisiert aber auch
Schon das erste Bild sorgt für Desorientierung. Die Kamera verharrt in der Unschärfe, während in der Distanz schemenhaft eine Menschengruppe zu erahnen ist. Nach einer gefühlten Ewigkeit löst sich ein Mann aus dem Pulk, kommt, immer noch komplett verschwommen, direkt auf uns zu, bis er schließlich in Großaufnahme – und in korrekter Schärfe – zu sehen ist. In diesem Moment fängt die Kamera ihn buchstäblich ein: Für die nächsten knapp zwei Stunden wird sie ihn nicht mehr aus den Augen lassen, wird an ihm kleben, von vorn, von hinten, und dabei sein ganzes Leid, die schiere Unerträglichkeit seiner Existenz mit ihm erleben.
Der Name des Mannes lautet Saul Ausländer (Géza Röhrig). Der ungarische Jude ist 1944 Häftling in Auschwitz-Birkenau und gehört zu einem Sonderkommando, das die Nazis bei ihrem Vernichtungswerk unterstützen muss. Die erste Szene schildert, fast durchgehend in einer Einstellung gefilmt, das grausige Ritual: die Ankunft eines Zuges mit neuen Gefangenen, die vermeintlich zum Duschen in die Gaskammer geführt werden. Sauls Aufgabe besteht darin, den Menschen den Weg zu zeigen, ihnen beim Auskleiden zu helfen und später, wenn sich die Türen der Kammer geschlossen haben, ihre Wertsachen auszuplündern. Am Ende müssen noch die »Stücke«, wie die Leichen im KZ-Jargon heißen, abtransportiert werden.
Die Art und Weise, in der Regisseur László Nemes dieses Geschehen inszeniert, ist neu- und einzigartig. Einerseits ist alles da: die Menschenmassen, die Architektur, die Räume, die grausamen Aktionen. Andererseits macht die Kamera mit ihrem konsequenten Verharren auf Saul die Dinge nahezu unsichtbar. Die Außenwelt verschwimmt unscharf im Hintergrund oder verschwindet außerhalb des Bildrahmens, und das Ergebnis ist ein bizarres, eindringliches Kopfkino, das uns den Anblick der konkreten Gewalt weitgehend erspart. Um diese Strategie zu unterstützen, wählt Nemes das klassische, heute kaum noch verwendete 4:3-Format, das sich ideal eignet, weil es bei Großaufnahmen kaum Platz für den Hintergrund lässt. Außerdem wartet Nemes mit einer brillanten Tonspur auf, die in großer Härte und Erbarmungslosigkeit von den Ereignissen kündet: Schüsse und Schreie, einlullende Anweisungen und knallharte Befehle, schließlich das verzweifelte Trommeln gegen Türen und Wände, als den Gefangenen die Unausweichlichkeit ihrer Lage klar wird.
Nemes, das wird schnell deutlich, begnügt sich mit Andeutungen, weil das schnöde Zeigen dieser Schandtaten ebenso banal wie unerträglich wäre. Zugleich nutzt der Regiedebütant den Effekt, von dem auch konventionelle Genrefilme gern profitieren: Nichts ist so effektiv wie die Szene, die sich erst in der Fantasie des Zuschauers zusammensetzt.
Und daran sei kein Zweifel gelassen: »Son of Saul« macht den Horror dieser »Arbeit« viel konkreter erfahrbar als etwa der thematisch ähnlich gelagerte, seltsam konventionelle »Die Grauzone« (2001) von Tim Blake Nelson oder Klassiker wie Steven Spielbergs »Schindlers Liste« (1993) und Roberto Benignis »Das Leben ist schön« (1997). Bei Nemes ist es ein wahrhaft zermürbender, aufwühlender und niederschmetternder Prozess, in diese Welt einzutauchen.
In einem Halbwüchsigen, der das Zyklon B überlebt, erkennt Saul seinen Sohn. Ohnmächtig muss er zusehen, wie ein Arzt das röchelnde Kind erstickt. Für Saul gibt es fortan nur noch ein Ziel: Er will verhindern, dass der Junge ausgeweidet und anschließend verbrannt wird, er will ihn nach traditionellem jüdischem Ritual beerdigen. Dazu braucht er einen Rabbi und die Unterstützung einiger Mitgefangener. Und, inmitten des alltäglichen KZ-Wahnsinns, sehr viel Glück.
Fortan verfolgt der Film eine Doppelstrategie. Im Zentrum steht Sauls unmögliche Mission, die er mit stoischer Unermüdlichkeit und zäher Rücksichtslosigkeit verfolgt. Und parallel entfaltet sich, weiterhin in knapper Andeutung, der Lageralltag mit dem beengten Quartier der Häftlinge, der von Angst und ständiger Unsicherheit geprägten Arbeit, dem nächtlichen Durcheinander während des Eintreffens weiterer Todgeweihter.
Während seine Mitgefangenen einen Aufstand planen (das Geschehen basiert lose auf tatsächlichen Ereignissen im KZ Auschwitz-Birkenau vom Oktober 1944), hat Saul längst alle Hoffnung fahren lassen. »Wir sind alle schon tot«, entgegnet er einem Kameraden, der den Kampf noch nicht aufgegeben hat – und Saul darauf hinweist, dass er gar keinen Sohn hat. Es bleibt offen, ob es sich tatsächlich um Sauls Kind handelt oder nur um eine fixe Idee; es macht auch keinen Unterschied. Der Versuch, diesen Leichnam zu begraben, ist nichts anderes als das Streben nach Sinn, Würde und Ordnung in einer Welt, die von Sinnlosigkeit, Würdelosigkeit und Chaos geprägt ist. Saul wird so zum bedauerns- wie bewundernswerten Einzelgänger, komplett unvernünftig in seinem Handeln und gleichzeitig der letzte Repräsentant der Menschlichkeit.
Braucht die Welt solche Werke (noch)? Nach dem Festival in Cannes, wo »Son of Saul« den Großen Preis gewann (eine seiner zahllosen internationalen Auszeichnungen), lobte ein Kritiker seine Wucht, Härte und Originalität, betonte aber auch, es sei unvorstellbar, ihn ein zweites Mal durchzustehen. In der Tat wird niemand diesen Film »gerne sehen« – dazu ist er zu sehr Tortur, zu schmerzhaft in seiner Intensität. Aber gerade darin liegt seine ungeheure Kraft: an die unvorstellbare Grausamkeit des KZs nicht bloß zu erinnern, sondern die Bedingungen – die Beklemmung, die Panik, die unfassbare Gewalt – mit Hilfe einer ganz eigenen Filmsprache beinah physisch erfahrbar zu machen.
Kommentare
Rezension "Son of Saul"
Vielen Dank für Ihre Rezension zu "Son of Saul", die ich mit großem Interesse gelesen habe - die meisten Redaktionen bzw. sogen. Feuilletons "drücken" sich ja offenbar selbst nach der Auszeichnung des Films mit einem Oscar (noch) vor einer angemessenen Beschäftigung mit diesem Film. Gut, dass man zumindest via Wikipedia auch zu Ihrem Beitrag findet, beim Googeln hatte ich den Link nicht gefunden. Bin nun gespannt, ob der Film überhaupt in Deutschland in die Kinos kommt, zumindest vllt in die kleinen Programmkino. Am vernünftigsten wird es sein, man kauft die DVD. Schade für das Publikum bleibt in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung des nach wie vor wichtigen Themas, dass die Berlinale den ja schon vor dem Oscar so vielfach mit internationalen Preisen gewürdigten Film nicht (so war zu lesen) in das Hauptprogramm aufnehmen wollte.
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