Kritik zu Spencer
Lebensabschnittsfilm: Pablo Larraín zeichnet ein Diana-Porträt zwischen Mythos, Tragödie, Verkleidung und Selbstmitleid
»Eine Fabel aus einer wahren Tragödie«, so steht es weiß auf Schwarz noch vor dem ersten Bild von »Spencer«. Am Morgen des 24. Dezember wird auf dem Landsitz Sandringham im englischen Norfolk generalstabsmäßig das königliche Weihnachtsfest vorbereitet. Ein halbes Dutzend Militärlastwägen liefert Speisen und Getränke an, die von der nicht minder gedrillten Küchenkompanie zu einem feierlichen Dinner verarbeitet werden. Währenddessen fährt eine junge Frau, scheinbar unbeeindruckt von der Jahreszeit, im offenen Porsche Cabrio durch die nebelverhangene, mit Raureif bedeckte Landschaft. Zunehmend nervös lässt sie ihren Blick über die immer gleichen Felder, Wiesen und Weggabelungen schweifen. Diana, Prinzessin von Wales und 1991 eines der bekanntesten Gesichter der Welt, hat sich verfahren.
Damit werden gleich zu Beginn Haltung und Ton gesetzt in Pablo Larraíns Porträt über Diana. Der chilenische Filmemacher konzentriert sich auf die Weihnachtsfeiertage des Jahres 1991 und tut erst gar nicht so, als könne man ein ganzes Leben erzählen. Stattdessen imaginiert er diese Momente als Wendepunkt in Dianas zunehmender Entfremdung und ihrem labilen Zustand. Denn auch wenn die Öffentlichkeit viel über die Royals und vor allem über Dianas Schicksal zu wissen glaubt, bleibt doch etliches Spekulation. Da mag etwa die Netflixserie »The Crown« noch so plausibel erzählen von dem, was hinter den Mauern und der Diskretion passiert. Die Fabel einer Tragödie.
Diana (Kristen Stewart) hält schließlich an einer Raststätte, in der Gäste und Personal nicht schlecht staunen, als die Ikone im Chanel-Kostüm schüchtern auf den Kassentresen zugeht und verdruckst fragt: »Wo bin ich?« Später wird sie vom Chefkoch aufgegabelt. Der bringt sie zurück in den Schoß der Familie – und diese Familie ist gerade das Unglück der jungen Frau, die sich nach Zuneigung und Austausch sehnt und an der emotionalen Kälte der Windsors langsam zugrunde geht.
Es ist kein guter Start in die dreitägigen Festtage im Kreis der Großfamilie, Dianas späte Ankunft nach der Queen ist nicht bloß unhöflich, sondern ein klarer Protokollbruch. Es wird nicht die einzige Krise dieser Tage sein. In der Ehe mit Charles (Jack Farthing) knirscht es, seine Affäre mit Camilla Parker Bowles verletzt Diana zutiefst. Nur ihrer Kammerzofe Maggie (Sally Hawkins) kann sie sich anvertrauen, und im liebevollen Umgang mit ihren Söhnen findet Diana die Wärme, die ihr sonst meist verwehrt wird.
Doch was ist davon wahr? Und ist das überhaupt wichtig? Gerade durch fiktive Überhöhung kommt »Spencer« womöglich dem Wesen Dianas näher als eine konventionelle Biografie, die Stationen ihres Lebens abhakt. Larraíns Ansatz ähnelt seinen früheren Filmen über bekannte Persönlichkeiten, »Jackie« über die Witwe von US-Präsident Kennedy und »Neruda« über den chilenischen Nationaldichter. Dabei konzentriert er sich jeweils auf eine kurze, signifikante Episode, in der er den Mythos seziert und den Umgang der Person mit den an sie gestellten Erwartungen. Denn alle drei, Jackie, Neruda und nun Diana, stehen im Rampenlicht der Öffentlichkeit und sind, schon aus reinem Selbstschutz, Meister der Maskerade.
In »Spencer« nimmt man diese einengende Welt durch Dianas wankende mentale Verfasstheit wahr, die auf den Druck ihres Umfelds mit Bulimie und Selbstverletzungen reagiert. Diese subjektive Perspektive lässt eine Intimität zur Figur entstehen, die sie abseits aller historischen Genauigkeit wahrhaftig werden lässt.
Das Puzzle setzt sich auch aus skurrilen Details zusammen, etwa dem Befehl der Königin, jedes Familienmitglied vor und nach dem Essen zu wiegen, oder den Kleidern, die für Diana zu jedem Anlass und zu jedem Essen ausgewählt und mit handschriftlichem Etikett versehen wurden. Bisweilen kippt es ins Surreale, etwa wenn sich Diana nach der Lektüre einer Biografie über Anne Boleyn so sehr mit der Frau aus dem 16. Jahrhundert identifiziert, dass sie die wegen Ehebruchs enthauptete Königin schließlich gar als Geist halluziniert. Oder wenn Diana Zwiegespräche mit dem alten Jagdjanker ihres verstorbenen Vaters führt, den sie an einer Vogelscheuche auf dem Acker entdeckt hat und in ihrem Gemach drapiert; ein sentimentales Erinnerungsstück – Erinnerung an vertrautere, glücklichere Tage.
Die Ästhetik seiner Filme passt der 45-jährige Larraín konsequent an das jeweilige Narrativ und das Sujet an. Ob der VHS-Stil im Politthriller »No!« oder das schale Licht in seinem Priesterdrama »El Club«, immer wieder findet er adäquate Bilder. »Spencer« wechselt so zwischen weiten Totalen, in denen die Protagonistin oft wie verloren wirkt, und kommt ihr dann wieder extrem nah, rückt ihr Gesicht in Nahaufnahme mit dem typisch schräg gelegten Kopf und dem rehäugigen Blick zur Seite, so als sei ihr die eigene Anwesenheit unangenehm. Sein Lebensabschnittsfilm über die Prinzessin von Wales nutzt den Blick des Außenseiters, er changiert zwischen Melodram und Satire, ist melancholisch und emphatisch und wahrt zugleich immer eine ironische Distanz.
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