Der aktuelle politische Film
»Suburra« (2015). © Koch Films
Es ist nicht nur der Wahlsieg von Donald Trump. Die Welt ist schon seit einigen Jahren nicht mehr in Ordnung: Terror, Armut, Kriege und Krisen der westlichen Demokratien. Hat das Kino dazu etwas zu sagen, registriert es die aktuellen gesellschaftlichen Erschütterungen?
Was ist ein politischer Film?
Einfache Antwort: Jeder Film ist politisch, irgendwie. Es kommt nur darauf an, wie man ihn sieht. Die zweiteinfachste Antwort: Ein Film ist politisch, weil seine Schöpfer damit eine politische Absicht, Analyse und Kritik etwa, verfolgen, die Absicht, zu zeigen, was andere beschweigen. Oder: Ein Film ist politisch, weil er Partei ergreift, zum Beispiel die der Schwachen gegen die Starken. Vielleicht könnte man auch sagen, dass jeder Film politisch sei, der das Thema »Macht« behandelt. Die Ausübung, Legitimation, Wirkung von Macht, noch mehr aber die Empfindung, die Adressaten und Opfer von Macht. Kinomäßig vereinfacht lauten die beiden Fragen eines gewöhnlichen politisch und sozial engagierten Films also: Wie ticken die Mächtigen? Und wie leiden die Ohnmächtigen, beziehungsweise: Wie wehren sie sich?
Ein Film ist politisch mit einem sozialen Bewusstsein in einem sehr speziellen Sinne nur, wenn er die Macht von der Seite der Opfer her sieht, und in einem noch spezielleren Sinne, wenn er die Frage nach einer Veränderung der Machtverhältnisse stellt. Es gibt, wie wir von Jean-Luc Godard wissen, noch kompliziertere Beziehungen, zum Beispiel in der Forderung, statt politischer Filme Filme politisch zu machen. Aber für den Augenblick sind wir schon froh über jeden Film, der sich bemüht, über die Verhältnisse, in denen wir leben, weniger zu lügen, als es vom Markt, von den Fördergremien und den Medien verlangt wird.
Die Zeit der großen Lehrstücke, der filmischen Geschichts- und Gesellschaftsanalysen, der cineastischen Revolten vom Neorealismus über das Cinema di denuncia bis zum britischen und sogar deutschen Arbeiterfilm ist gewiss vorbei. Das hat nicht nur mit den Produktionsbedingungen und dem Publikumsgeschmack zu tun, sondern auch mit den Gesellschaften der Industriestaaten selbst, mit Globalisierung und Atomisierung. Der alte Widerspruch von Bürgertum und Proletariat funktioniert nicht mehr, und so unterschiedliche Filmautoren wie Ettore Scola und Harun Farocki haben ihre Trauerarbeit geleistet über das Verschwinden der Arbeiterklasse – nicht in einem Aufstieg zur Mittelschicht, wie ihr versprochen war, sondern im Abstieg in eine Masse der prekarisierten, vereinzelten Verlierer, zu denen längst auch Teile des akademischen Bürgertums gehören. Das politische Kino hat es also nicht mehr so leicht, ein Objekt der cineastischen Solidarisierung oder der scharfen Analyse zu finden. Plattenbau und Shoppingmall, stillgelegte Fabriken und verwahrloste Spielplätze sind vernutzte Bilder. Und keine bürgerliche Kultur sagt noch etwas über das wahre Leben der Gewinner, so dass, wie in Martin Scorseses »Wolf of Wallstreet« (2013), die Yacht, die Luxusvilla, der Sportwagen und die Designerklamotten nur noch als schrille Karikatur fungieren.
Das Zeitalter der Ghettos, des Prekariats und der Subgesellschaften war mit dem Millennium angebrochen, und es hat seine schlimmsten Drohungen nach der Finanzkrise wahrgemacht. Angebrochen ist auch das Zeitalter eines Zorns, der sich nicht mehr in Parteien, Programmen, meist nicht einmal in Ideen und Bewusstsein äußern kann. Filmemacher konnten nur versuchen, an die Wurzeln des Hasses zu gelangen, wie in »La Haine« (1995) in Frankreich oder jenseits des Kanals in »This Is England« (2006) , in gewisser Weise auch mit Thomas Stubers »Herbert« (2016) nun in Deutschland. Sie gehen mit der Kamera an Orte, die man als »No Go Areas« bezeichnet, um zu bemerken: Hier leben nicht nur Monster, apokalyptische Banden und schrille Prollkarikaturen. Sondern Menschen.
Schon in den neunziger Jahren hatte sich in Frankreich und Belgien ein Kino entwickelt, das der sozialen Unschärfe des Neoliberalismus entsprach. Menschennahe Beobachtung war wichtiger als die Betonung des gesicherten Standpunkts. Ein Schlüssel dafür war vielleicht das Regiedebüt von Laetitia Masson, »Avoir (ou pas)« aus dem Jahr 1995. Der Film begleitet die ungelernte Arbeiterin Alice (Sandrine Kiberlain), die von der Konservenfabrik entlassen wird, in der sie bislang einen miesen Job hatte. Und da ist der Bauarbeiter Bruno (Arnaud Giovaninetti), den Alice an der Hotelbar trifft. Fast paradigmatisch, diese Konstellation: eine Beziehung der zerbrochenen Arbeitsbiografien und der nicht minder zerbrochenen emotionalen Biografien. Auch was die Gestaltung anbelangt, hatte Massons Arbeit einen nicht unwesentlichen Einfluss. Es ist ein Film, der zwischen Genauigkeit und gewollter Unschärfe das Leben wie in einem betroffenen Vorübergehen beschreibt. Das Flüchtige und die Detailkonzentration begegnen sich wie in der Wirklichkeit des Überlebenskampfes; neben der Frage, wie man überleben kann, stellt sich stets die Frage, welche Gefühle man sich noch erlauben kann, zu welchen man noch fähig ist. Und unter diesem Aspekt trugen auch die Filme der »Berliner Schule« in Deutschland das Ihre bei zum cineastischen Reflex auf das Leben in dem, was Friedrich Dürrenmatt einst so treffend das »Durcheinandertal« genannt hat.
Von da führt ein direkter Weg zu den Filmen, die die moralische Ausweglosigkeit durch die ökonomische Erpressbarkeit der Menschen schildern; wir kennen mittlerweile die düsteren Bilder von Filmen nicht nur aus Osteuropa – die Abtreibungen in finsteren Hotelabsteigen, die erzwungenen Auftragsmorde, die Drogen- und Menschenschmugglereien, den Verrat an den Freunden und an der Familie. Albanien, Rumänien, Griechenland, die Türkei, Nordengland, Belgien, Frankreich – Europa kann sehr kalt sein.
Diesem Kino der Verdammnis aus den Jahren der Transition, auf der einen Seite vom »real existierenden Sozialismus« zum brutalen Oligarchen- und Gangsterkapitalismus, auf der anderen von der sozialen Marktwirtschaft zum soziophoben Neoliberalismus, folgte zu Beginn der zehner Jahre ein Kino der humanistischen Aufhellung. Es scheint, wie in den Filmen von Ken Loach, der als Chronist der Working Class und ihrer Auflösung das Banner des solidarischen Realismus über Jahrzehnte aufrecht gehalten hat, als gälte es, Antonio Gramscis Vorschlag zu erfüllen, nämlich den Pessimismus des analytischen Intellekts und den Optimismus der menschlichen Wünsche miteinander zu verbinden. »Ich, Daniel Blake« ist, bei allem Realismus, um einiges »heller« als Loachs Filme der neunziger Jahre. Man könnte es in einem doppelten Motto zusammenfassen: Es ist noch nicht alles verloren. So weit der Optimismus. Es geht immer mehr verloren. So weit der Pessimismus.
1. Akt: das Leben der Leute
Aber der Pessimismus der Millenniumsfilme konnte nicht aufrechterhalten werden. Selbst die Brüder Dardenne muten uns in ihren sozialen Versuchsanordnungen aus dem unteren Bereich des Lebens in belgischen oder nordfranzösischen Postindustriezonen nicht mehr die Provokationen wie in »L'enfant« (2005) zu, wo ein junger Mann ohne Wissen seiner Freundin das gemeinsame Kind verkauft.
Zum einen gibt es also ein Kino, das sich um die Verlierer kümmert, die ganz normalen Menschen, die beschissene Jobs haben und auch diese noch verlieren. Für die leichtere Version eines solchen Menschenkinos stand eine Zeit lang in Deutschland Andreas Dresen mit Filmen wie »Halbe Treppe« (2002) oder »Sommer vorm Balkon« (2006). Für diese Art von Filmen, für ihre ironische und doch zärtliche Empathie, bieten die Verwerfungen in Zeiten von Neoliberalismus und Dauerkrise nun wahrlich Stoff genug. Gewiss sind die sozialen Klassen nicht verschwunden, im Gegenteil, aber sie haben ihre kulturelle Eindeutigkeit verloren. Auch an das Berliner »Arbeiterkino« oder die Ruhrpott- und Bergarbeiterfilme von Adolf Winkelmann zum Beispiel sind nur noch nostalgische Reminiszenzen anschlussfähig. Winkelmann kehrt in »Junges Licht« (2016) in die Welt der Bergarbeiter in den sechziger Jahren zurück, als das »Wirtschaftswunder« auf den Buckeln der Kumpel errichtet wurde und wo das Wachstum seine ersten Menschenopfer fordert. In »Was nicht passt, wird passend gemacht« (2006) von Peter Thorwarth sehen wir, nur teilweise amüsiert, dabei zu, wie das einstige soziale Geschehen einer Baustelle sich in Fiktionen auflöst.
Ansonsten sind wohl nicht mehr die Arbeiter die primären Objekte von Ausbeutung und Abgrenzung, sondern neue »Randgruppen«. Oder, ganz anders, die Überforderung wird zum Normalfall auch im Mittelstand, wie in Mia Hansen-Løves »L'avenir – Alles, was kommt«, der 2016 in französisch-deutscher Koproduktion entstand. Da geht es um eine Philosophieprofessorin am Rand des Zusammenbruchs; der Mann wird sie nach langen Ehejahren wegen einer anderen verlassen, die zunehmend verwirrte Mutter traktiert sie am Smartphone, der Verlag, bei dem sie veröffentlicht, benimmt sich schäbig und marktgeil, kurzum: Nathalie (Isabelle Huppert) muss ihr Leben neu sortieren. Wenn man das Politische genau ansieht, dann erkennt man, wie sehr es das eigene Leben betrifft; wenn man ein eigenes Leben genau ansieht, erkennt man, wie sehr es von Politik bestimmt wird.
2. Akt: Im Inneren der Macht
Die andere Seite des politischen Kinos ist der Versuch, die Macht zu beschreiben, die das alles auslöst. Insbesondere versuchten einige Filme, die Umstände der Finanzkrise in den Zentren der Zahlen und Algorithmen wiederzugeben, die das große Geld bedeuten. Wir kennen es von den zynischen Versuchen, ins Innere von Machträumen wie dem Weißen Haus, dem Kreml oder dem Élysée-Palast zu blicken, durchzuspielen, wie es ist, wenn Schurken oder Idioten an die Macht kommen und sie nicht mehr abgeben. Dann sehen wir etwa Kevin Spacey in »House of Cards« dabei zu, wie ihn die Macht immer hinterhältiger, bösartiger und schließlich paranoid macht. »Borgen« erzählt von der Politikerin Brigitte Nyborg, die in Dänemark gleichsam durch Zufall (weil die großen Parteien sich gegenseitig zerlegten) an die Regierung kommt und als Premierministerin zwischen dem Amt und den persönlichen Überzeugungen hin und her gerissen wird. Leichter als dem Kinofilm scheint es der Fernsehserie zu fallen, Strukturen der Macht offenzulegen.
Als wäre die Arroganz der neuen Macht nicht genug, hat auch jedes Land sehr eigene soziale und politische Probleme. Das ist zum Beispiel in Italien die Verflechtung von Politik und Mafia, wie in »Lea« (2015, Marco Tullio Giordano), der vom Versuch einer Frau handelt, aus dem Teufelskreis der mafiosen Verstrickung auszuscheren, um ihrer Tochter ein Leben ohne Gewalt und Schuld zu ermöglichen, oder in »Anime Nere« (2014, Francesco Munzi), ebenfalls eine Geschichte von einem Ausstiegsversuch.
Eine Gesellschaft wie die italienische ist, so wie die griechische als Metapher des Niedergangs dient, geeignet als cineastisches Modell der permanenten Krise. Stefano Sollimas »Suburra« (2015) folgt auf die beiden Staffeln seiner TV-Serie »Romanzo Criminale«, um eine Trilogie der Korruption und Gewalt zu vollenden. Die Vorlage ist die Fortsetzung von »Die Nacht von Rom«, einem Roman von Giancarlo de Cataldo und Carlo Bonini, die als Richter und Journalist ziemlich gut kennen, wovon sie sprechen, nämlich die unheilvolle Verflechtung politischer und ökonomischer Macht mit dem organisierten Verbrechen und der diskreten Macht im Vatikan. Der Politiker mit dem sprechenden Namen Malgradi hat mit zwei Prostituierten geschlafen, von denen eine minderjährig ist; sie stirbt an einer Überdosis. Ihre Kollegin Sabrina soll die Leiche beseitigen, und damit beginnt seine Erpressung. Nun wiederum setzt Malgradi mit Hilfe eines Kollegen einen Killer auf die Erpresserin an. Das alles scheint zugleich Kolportage-Alptraum und triste Realität. Stefano Sollima zeichnet eine Welt am Rande der Nacht, im Regen, kurz vor dem Untergang. Mafia ist in diesem Film weder ein romantisches noch ein geheimnisvolles System, sondern banale Realität für eine korrupte politische Klasse und ihre ökonomischen Partner im Verbrechen. Die Mafia ist nicht das Problem, sondern nur deutlichstes Symptom. Daher ist »Suburra« nicht bloß ein Film über Italien, sondern auch einer über die Lage der Demokratie in Europa.
In der neuen Variation des Politthrillers dramatisiert sich als Verschwörung, was sich andernorts in Alltag und Arbeit eingenistet hat wie das Phänomen besonders rücksichtsloser Agenten von Globalisierung, Privatisierung und Rationalisierung. In »Der letzte Angestellte« (2010, Alexander Adolph) ist es ein Jurist, der nach einer psychischen Krise als »Abwickler« einer Firma Arbeit findet; die soziale Grausamkeit seiner Tätigkeit freilich wendet sich schließlich gegen ihn. »Rundskop« (2011) von Michael R. Roskam erzählt von einem wahrhaft monströsen Opfer der belgischen Rindermast-Industrie: Die illegalen Hormonpräparate verwandeln nicht nur Rinder in leidende Fleischlieferanten und Giftreservate, sondern auch Menschen. Menschen, die in verzweifelten, obszönen Abhängigkeitsverhältnissen leben und von denen einer als »Hormonmonster« furchtbarer Repräsentant und zugleich Opfer des Systems wird. »Die dunkle Seite des Mondes« (2015, Stephan Rick) porträtiert (nach Martin Suter) einen auf Firmenfusionen spezialisierten Anwalt, dessen Opfer sich vor seinen Augen erschießt ob der ruinösen Bedingungen, die er ihm aufgezwungen hat. Gus Van Sants »Promised Land« (2012) zeigt, wie man zwischen wirtschaftlichen und ökologischen Problemen zerrissen wird, am Beispiel des Fracking in der amerikanischen Provinz: Wir sehen Kommunen im Zerbrechen – und wie der Agent des Konzerns (Matt Damon) ins Grübeln kommt.
All das bleibt oft an der Oberfläche oder unter den Möglichkeiten der literarischen Vorlagen. Dennoch ist hier eine neue, kritische Kinofigur entstanden: der Agent des Neoliberalismus, der inmitten seines Jobs ins Straucheln gerät. Selbst der deutsche Film »Toni Erdmann« lässt sich da einreihen: Er zeigt, was Karriere in diesem System mit einem Menschen macht, und formuliert zugleich die Hoffnung, dass eine Rückkehr zur Menschlichkeit nicht ganz unmöglich ist.
3. Akt: Flucht, Migration, Ausbruch
Das Kino musste zum Chronisten der neuen Wanderungen, der Migration und der Flucht, werden, und es geriet in gewisser Weise dabei auch selbst erneut in Bewegung. Es suchte nach neuen Kooperationen, Perspektiven, Erzählweisen. Und in der gegenwärtigen Situation haben viele Protagonisten im Film nicht nur einen Verbündeten, sondern auch eine Art von Gedächtnis erhalten. Alle diese Geschichten von Elend, Gewalt und Flucht haben indes mittlerweile einen Bilderkanon entwickelt, und es ist schwer, wie Gianfranco Rosi in »Fuocoammare« dabei noch eine neue Poetologie zu finden.
Hierzulande versucht man in aller Regel, es dem Publikum leichtzumachen, auch wenn selbst in den üblichen TV-Krimis gelegentlich durchaus drastisch an Ausbeutung, Gewalt und Erpressung erinnert wird. »Highway to Hellas« (2015, Aron Lehmann) zum Beispiel spiegelt das deutsch-griechische Verhältnis als deftige Komödie um einen deutschen Banker auf Kontrollbesuch auf einer Insel. In einem anderen Ton vermittelt Iciar Bollains »El Olivo« (2016) seine arg symbolische Fabel von der Reise eines 2000 Jahre alten Olivenbaums von einem spanischen Bauernhof in eine Düsseldorfer Bankzentrale. Dabei sind die Trauer und die Wut über die Entwurzelung überall zu greifen: »A Blast« (2014, Syllas Tzoumerkas) zeigt nicht viel weniger als einen inneren Zusammenbruch von Land und Familie, vom Kampf gegen Banken bis zum endlichen Zornausbruch einer Frau. Im Mainstream indes kommen vor allem die Culture-Clash-Komödien an, mehr oder weniger freundliche, mehr oder weniger unverbindliche Appelle an Toleranz und Mitmenschlichkeit wie gerade wieder Simon Verhoevens »Willkommen bei den Hartmanns«, der mit einem lakonischen Realismus die Themen Flüchtlinge und deutsche Familienkrisen zusammenbringt. Wohl wahr: Alles Politische ist auch privat. Und umgekehrt. In »Das unbekannte Mädchen« von den Brüdern Dardenne beginnt die Recherche einer jungen Ärztin mit dem Tod einer illegalen Einwanderin, an dem sie sich mitschuldig fühlt. Und führt vor allem in die Gewalt, Korruption und Verdrängung. Aber eben doch auch: zu Bewusstsein.
4. Akt: Location
Ein wesentlicher Bestandteil eines »Kinos der Leute« ist der Einsatz von Laien, von Menschen, die gleichsam ihr eigenes Leben einem Reenactment unterziehen, so wie es zum Beispiel Céline Sciamma in ihrem Film »Bande des filles« (2014) mit den Mitgliedern einer schwarzen Mädchengang in den Pariser Banlieues macht. Aber auch Ken Loach arbeitet nicht nur mit Schauspielern, sondern mit »gewöhnlichen Leuten«, und von ihm wird man niemals das Wort »Action« hören. Das Verfahren unterscheidet sich vom reinen Schauspielerfilm, der seine Codes der Repräsentation selten aus eigener Kraft überwinden kann. Alles, so scheint es, kann in Deutschland zu einem Fernsehfilm werden, selbst das Wirken des »Nationalsozialistischen Untergrunds«, dem die Filmemacher Christian Schwochow, Züli Aladag und Florian Cossen eine Trilogie (»Mitten in Deutschland: NSU«) widmeten, die aus sehr verschiedenen Perspektiven die Taten, die Ermittlung und den Zeitgeist wiedergibt. Aber beinahe nichts kann zu einem großen Spielfilm werden von dem, was uns mehr angeht als die hysterische Heiterkeit der angeblichen neuen Unterschicht oder das Gefühlsleben der Mittelschicht.
Zum Politischen in einem Spielfilm gehört die cineastische Befragung der realen Orte des Geschehens – im Gegensatz zur Vorspiegelung einer Topographie, die sich in einer Tatort-Dramaturgie als Authentizitätsrest verkaufen lässt. Auch das amerikanische Kino jenseits der Traumfabrik gelangt in die Provinzen des Elends – wie zum Beispiel das Texas in »Joe« (2013) von David Gordon Green. Aron Lehmanns »Die letzte Sau« (2016) zeigt, wie sich das Prinzip von Wachsen oder Weichen als natürliche wie soziale Katastrophe auf dem Land bei uns abspielt, aber hier geht es stilistisch um mehr als die gewohnte Verbindung von sozialer Dokumentation und psychologischem Realismus: In seinem Kampf gegen die Massentierhaltung verheddert sich der Held in einem wahren Alptraum. Um ihn zu teilen, hat der Regisseur selbst als Knecht auf einem Hof gearbeitet. Man muss Film als gemeinsamen Erfahrungsraum rekonstruieren, wenn Kritik und Solidarität etwas anderes als eine Oberflächenvereinbarung von Produzenten und Konsumenten werden sollen.
Wenn die Augen (der Kameras) sich nicht mehr schließen wollen, müssen auch neue Formen der Produktion erprobt werden. Dazu gehören der Versuch, andere Finanzierungsmöglichkeiten zu finden, jenseits des Fördersystems und der Fernsehabhängigkeit zum Beispiel, die Absage an das Starsystem, aber auch der Entschluss, eine »reale«, soziale Topographie zu verwenden. In den Filmen der Dardennes zum Beispiel ist eine Stadt wie Lüttich nicht Kulisse, sondern als konkreter Lebensraum zu erfahren. In Portugal hat Pedro Costa mit »Cavalo dinheiro« (2014) bereits den vierten Film über die Immigranten aus Kapverde gedreht, mit Betroffenen als Darstellern, in ihrer Welt (die nicht die ihre ist): »Es geht darum«, sagt Costa, »gemeinsam herauszufinden, was wir machen wollen«. So entsteht ein Kino, das nicht über Menschen, sondern mit ihnen arbeitet.
Kurzum: Was das politische Kino der zehner Jahre ausmacht, ist neben der Suche nach neuen Ausdrucksweisen und Produktionsformen auch eine Neubestimmung von dem, was man filmischen Realismus nennen mag. Denn es gilt, eine Verbindung zu schaffen zwischen sehr unterschiedlichen Kulturen, eine Solidarisierung, die die Differenzen nicht leugnet. Jeder Film muss einen eigenen Weg finden, diesen Widerspruch zwischen dem Objekt und dem Objektiv zu überwinden. Jacques Audiards »Dheepan« (2015) dreht sozusagen die Vermittlungsperspektive um, wenn er seine Geschichte aus dem Banlieue-Viertel Le Pré-Saint-Gervais mit den Augen von Flüchtlingen aus Sri Lanka sieht und in ihrer Logik zu entwickeln versucht. Das politische Kino der Zukunft wird nicht zuletzt daran arbeiten, die Zentralperspektive weißer, männlicher europäisch-amerikanischer Bildermacher zu überwinden.
5. Akt: Entscheidungen
Ist ein Kino dann politisch, wenn es reale zeitgeschichtliche Personen in realen Entscheidungssituationen zeigt und zumindest nicht verschleiert, dass dies Auswirkungen auf mehr als den »engeren Kreis« der Macht hat? Oliver Stone hat Nixon, John F. Kennedy und Edward Snowden porträtiert, während Steven Soderbergh das Leben Che Guevaras nachzeichnete und Steven Spielberg ein durchaus eigenwilliges Porträt von Abraham Lincoln entwickelte. Aber immer wieder scheinen da die Personen stärker als die Verhältnisse, merkwürdig altmodisch wirkt dieses Kino der politischen Biografien, selbst bei solchen Regisseuren, die die Gefahren der Methode durchaus reflektieren.
Einfacher hat man es mit einem Subgenre, das die Distanz und die Suche gleichermaßen in die Gestaltung übernehmen kann: der Journalistenfilm, ebenso oft nach wirklichen Geschehnissen gestaltet wie als Parabel auf die heroische Funktion und die korrupte Realität der »vierten Gewalt« in einer Demokratie. Eine solche Parallelwelt schildert die Serie »The Newsroom«: »We're not doing a show, we are doing the News«, herrscht die neue Produzentin einer Nachrichtensendung ihre Mitarbeiter an, aber diese hehre Absicht ist, wie wir im Verlauf der Handlung sehen, nicht so leicht durchzusetzen. Die heimliche oder unheimliche Macht der Presse wird in Deutschland derzeit in TV-Filmen wie »Die vierte Gewalt« (2016) reflektiert, in dem ein Journalist mit nicht immer sauberen Mitteln einen Fall von familiärer Begünstigung durch eine Ministerin recherchiert. Vielleicht bedeutender aber ist die Frage, wie sich Medien mit ihrer klassischen Aufgabe von Information und Aufklärung in der Zeit ihrer Krise schwertun: »Sie brauchen Klicks, viele Klicks!«, meint der Ministeriumssprecher Devid Striesow.
Der Journalistenfilm ist als Subgenre naturgemäß in den USA besonders populär, da man hier der vierten Gewalt mehr als anderen gesellschaftlichen Institutionen zutraut, die Selbstreinigung der Demokratie zu bewerkstelligen, und sich zugleich weniger Illusionen über die Marktläufigkeit der Medien macht. Ein jüngeres Beispiel, »Spotlight« (2015, Tom McCarthy), steuert eine geradezu modellhafte Version bei: Hier geht es um die Leute des »Boston Globe«, die einem Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche nachgehen. In »Truth« (2015, James Vanderbilt) geht es um die Präsidentschaftswahlen 2004 und eine Nachrichtensendung, deren Produzentin (Cate Blanchett) auf eine sensationelle Geschichte stößt: George W. Bush, der sich gern als »War President« präsentiert, hat sich selbst mit Hilfe familiärer Beziehungen vor dem Dienst in Vietnam gedrückt. Als die Geschichte vor der Wahl gesendet wird, reagiert die Gegenseite mit Diffamierungen. Filme wie dieser, zu denen auch aufklärerische Versuche über das innere Funktionieren des Finanzkapitalismus wie »Margin Call« gehören, versuchen sich an einer Art des nüchternen Epos. Sie wollen keine andere Botschaft vermitteln als den Wunsch, die Wahrheit zu erfahren. Das große Happy End der »gereinigten« Demokratie oder Marktwirtschaft ist nicht zu erwarten. Aufklärung, sagen diese Filme, hat mindestens so viel mit Handwerk zu tun wie mit Moral. Und sie sagen es nicht nur über ihre Protagonisten, sondern auch über sich selbst.
Natürlich kann man ein politisches Kino nicht fordern oder gar fördern. Es muss aus dem Leben und den Erfahrungen der Filmemacher selbst kommen. Andererseits ist das Politische im Film nicht allein Sache der Autoren und Produzenten. Ist es egal, in welcher Art von Kino und begleitet von welcher Art von Diskussion ein politischer Film zu sehen ist?
Es wäre auch ein Fehler, einen Unterschied zu machen zwischen einem Kino der Gefühle und einem politischen Film. Die Macht greift immer nach den Gefühlen, und der Widerstand beginnt mit der Frage nach ihnen. Der Bruch verläuft eher zwischen einem Kino, das sich der Verantwortung bewusst ist, und einem, das Antipolitik verkauft, den Irrglauben, irgendwo gäbe es eine Welt ohne Politik. Es ist keine Eitelkeit , wenn das Kino sich und seine soziale Verantwortung auch selbst zum Thema macht wie in Nanni Morettis »Mia Madre« (2015). Es ist gut, die Frage »Was ist ein politischer Film?« zu stellen. Endgültig zu beantworten ist sie glücklicherweise aber nicht.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns