Kritik zu Dämonen und Wunder – Dheepan
Der Gewinner der Goldenen Palme von Cannes: Jacques Audiards intensive Mischung aus Drama und Thriller erzählt von tamilischen Flüchtlingen, die in der Pariser Banlieue einen Neuanfang versuchen, dort jedoch mit Zuständen konfrontiert werden, denen sie zu entkommen hofften
Bunte Lichtflecken tanzen in der Dunkelheit, erst nach und nach werden sie scharf gestellt und identifizierbar. In einem grünen Dschungeldickicht bahnt sich irgendetwas seinen Weg durch Zweige und Blätter. Ein Mensch? Ein Tier? – An mehrere Übergänge seines Films setzt Audiard Einstellungen, die sich einer Entschlüsselung zunächst verweigern, Rätselbilder, die in ihrer Fremdheit atmosphärisch widerspiegeln, was seine Protagonisten erleben. Auch innerhalb der Erzählung geht es immer wieder um Codes, die erst dechiffriert werden müssen: die fremde französische Sprache, die kulturellen Gepflogenheiten. Auch, dass die Post nicht nach Vor-, sondern nach Nachnamen in die Fächer einsortiert wird, muss Dheepan als neuer Hausmeister mehrerer trostloser Wohnblocks in der Banlieue erst lernen.
In knappen, nur wenig erklärenden Eingangssequenzen schildert der Film, wie Dheepan dorthin gelangt: Er verlässt seine Kampfeinheit der Tamil Tigers irgendwo in Sri Lanka, verbrennt seine Uniform. In einem »Büro« auf einem großen Markt erhalten er, eine fremde Frau und ein auf die Schnelle dazugeholtes kleines Mädchen die Pässe einer toten Familie. Mit den falschen Papieren reist diese Zufalls-Schicksalsgemeinschaft nach Europa, dazu gezwungen, nun weiter eine Familie zu spielen, sonst würden sie ausgewiesen. So aber erhalten sie nach einem kurzen Zwischenspiel in Paris, wo Dheepan sich als Straßenverkäufer verdingt, in einem heruntergekommenen Vorort eine Wohnung und Dheepan einen Job. Die Neuankömmlinge versuchen sich anzupassen, sich einzufügen, trotz ihrer spärlichen Sprachkenntnisse – eine Hürde, die die Originalfassung in ihrem Wechsel aus Tamil und Französisch ständig präsent hält.
Detailgenau und mit ergreifender Empathie lässt der Film einen Prozess der Desillusionierung nachvollziehen, wenn die »Familie«, jeder für sich, erkennen muss, dass die Zustände, vor denen sie geflohen sind, hier ebenfalls und nur in anderer Form herrschen: das Recht des Stärkeren, Chaos und Gewalt. Kriminelle Banden haben das Viertel fest im Griff, kontrollieren von den Dächern aus das Kommen und Gehen. Audiard zeigt nicht ein einziges Mal, dass Polizei sich in ihr Revier wagen würde. Dennoch eignet sich sein Film kaum zur Munition in Debatten über »Parallelgesellschaften«. Dafür bleibt er zu nah an seinen Hauptfiguren und schlägt keine verallgemeinernden, politischen Töne an. Politisch ist »Dheepan« vielmehr durch seinen Humanismus, der nicht nur den Flüchtlingen, sondern auch den kleinen Dealern und Gangstern des Viertels genug Aufmerksamkeit schenkt, dass sie als Individuen zur Geltung kommen.
Mit intuitiv wirkender Kamera und Montage taucht der Film in deren schäbige Welt ein, stilisiert sie bisweilen durch kontrastreich eingesetzte Musik von Vivaldi bis zu tamilischer Folklore. Gemeinsam mit den drei Hauptfiguren erkundet er ein fremdes Terrain mit eigenen Gesetzen und konzentriert sich auf den täglichen Kampf der Flüchtlinge um ein Stück Normalität und Heimat. Was »Dheepan« eine wärmere Emotionalität verleiht als Audiards vorangegangene Werke »Ein Prophet« und »Der Geschmack von Rost und Knochen« sie besaßen.
Das liegt auch an seinen ganz erstaunlichen Hauptdarstellern: Der Schriftsteller Jesuthasan Antonythasan – er selbst kämpfte als Kindersoldat bei den Tamil Tigers, bevor er als Flüchtling nach Frankreich kam – spielt hier seine erste Filmhauptrolle und entwickelt eine faszinierende Präsenz als der wortkarge Dheepan, gezeichnet von traumatischen Kriegserfahrungen. Auch Kalieaswari Srinivasan, die bislang lediglich Theatererfahrung hatte, beeindruckt als Yalini, die zunächst sehr mit ihrer ungewohnten Rolle als Ehefrau und Mutter wie mit den Härten des neuen Lebens hadert, sich jedoch aus der Starre des Ausgeliefertseins zu befreien beginnt, was Srinivasans Spiel so subtil wie ergreifend erzählt. Nicht weniger berührend ist das Spiel der zur Zeit der Dreharbeiten erst neun Jahre alten Claudine Vinasithamby als Illayaal, wenn das Waisenmädchen beispielsweise mal schreiend, mal wortlos von ihren »Eltern« die Liebe und Geborgenheit einfordert, derer sie als Kind in der Fremde am meisten bedarf.
Irgendwann scheint es, als wüchsen diese drei Menschen zu der Familie zusammen, die sie vorgeben zu sein. Man unterstützt sich gegenseitig, teilt das Wenige, was man hat, lebt nicht mehr nur nebeneinander her, sondern miteinander. Eine Liebesbeziehung zwischen Dheepan und Yalini bahnt sich an. Doch es bleibt immer etwas Dunkles, Brütendes an »Dheepan«, und die Szenen werden häufiger, die nach dem Übergang von Flüchtlingsdrama zu Liebesgeschichte einen weiteren Übergang zum Thriller mit finsterem Ausgang andeuten, denn die Vergangenheit lässt die Flüchtlinge nicht zur Ruhe kommen. Sowohl Yalini als auch Dheepan geraten in gefährliche Nähe zu den Mächtigen des Viertels, das durch einen Bandenkrieg erschüttert wird. Und immer weniger kommt Dheepan, der seine neue Familie beschützen will, mit den Ereignissen zurecht.
In mehrfacher Hinsicht verstörend ist das »Finale«, in das der Film mündet. Verstörend durch seine orgiastische Gewalt, vielmehr aber noch, da es der Geschichte nicht nur nichts hinzufügt, sondern ihr einen Teil ihrer Kraft wieder entzieht. Die subtile Spannung, die Vielschichtigkeit der Beobachtung – hinweggefegt in einem kolportagehaften, brachialen »Rambo«-Handstreich, als habe Audiard den Drang empfunden, zum Schluss noch einmal ganz unmissverständlich auf seine künstlerische Radikalität hinzuweisen. So drückt seine Konklusion aber vor allem eines aus: Eitelkeit.
Trotz dieser Entgleisung bleiben von »Dheepan« viele Passagen von großer Intensität und Poesie in Erinnerung. Audiards Fähigkeit, in seiner Inszenierung beiläufig, doch präzise sozialen Alltag und hintergründige Machtverhältnisse abzubilden, und dabei zugleich tief und mitfühlend in das Seelenleben seiner Protagonisten zu blicken, erreicht immer wieder eine bestürzende Dichte. Die Konsequenz, mit der »Dheepan« dabei alle seine Figuren in ihrer Fähigkeit zum Guten und Bösen, zu Kälte und Einfühlung – und allem möglichen dazwischen – gelten lässt, ist eigentlich radikaler als der Exzess, mit dem er am Ende ihre Geschichte abfertigt.
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